Porträts

Midori

Die berühmte japanisch-amerikanische Geigerin spielt Bach und Zeitgenossen im Ordenssaal

 

 „Es ist unglaubliche Musik“, sagt die Geigerin Midori über die Sonaten und die Partita Johann Sebastian Bachs, die sie am Pfingstsonntag in ihrer Solo-Matinee um 11 Uhr im Ordenssaal des Ludwigsburger Schlosses aufführen wird. Immer von neuem ist sie von der Schönheit dieser Musik begeistert, und „It always inspires me“ – sie fühlt sich jedes Mal davon inspiriert und bringt sie weiter in ihrer Entwicklung. Natürlich könnte sie viel über die Struktur und den Charakter dieser Stücke erzählen, aber letzten Endes sei es einfach die Schönheit dieser Musik, die sie bewundert.

 

Midori gibt seit vielen Jahren höchst selten Interviews, und auch für diesen Text mussten wir schriftlich Fragen einreichen, die sie mit einer Tondatei beantwortete. Darauf äußert sie sich auch zu ihren vielfältigen Bildungs- und Sozialprojekten, welche sie schon seit dem Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn initiiert hat. Mit 21 Jahren gründete sie „Midori and Friends“, mit dem sie Kindern in New York die musikalische Erziehung ermöglicht, an der es in der Schule mangelt. Zehn Jahre später schuf sie in Tokio die „Music Sharing Organization“ als japanisches Gegenstück, hier wird Jugendlichen sowohl westliche klassische Musik als auch die japanische Tradition nahegebracht. „Partners in Performance“ ist eine weitere Initiative, die Konzerte in abgelegene ländliche Gebiete in den USA bringt. Und seit 2007 repräsentiert Midori die Vereinten Nationen als „Messenger for Peace“, als Friedensbotschafterin. Sie sieht diese Projekte und Tätigkeiten nicht als Pflichtübungen, sondern als Erfahrung und innere Bereicherung. Kann Musik Frieden stiften? „Kriege und Konflikte bringen die Menschen auseinander und gegeneinander. Musik ist das Gegenteil, sie bringt Menschen zusammen, und sie ebnet den Weg zu gegenseitigem Verständnis, und natürlich zum Verständnis des eigenen Selbst.“

 

Mutter Geigerin, Vater Ingenieur, geboren 1971 in Osaka: Schon mit zwei Jahren summt Goto Midori die Melodie eines Bach-Violinkonzerts, das die Mutter am Tag zuvor geprobt hat. An ihrem dritten Geburtstag bekommt sie eine Sechzehntel-Geige, mit sechs Jahren hat sie ihren ersten Auftritt mit einer Paganini-Caprice in Osaka, mit 10 reist sie in Begleitung ihrer Mutter zum Ferienkurs in die USA und wird in die New Yorker Juillard School of Music aufgenommen. Als Wunderkind-Geigerin tritt sie im Silvesterkonzert 1982 mit den New Yorker Philharmonikern unter Zubin Mehta auf, schon als 15jährige startet sie ihre Solo-Karriere. Acht Jahre später – 1994 - sagt sie alle Konzerte ab und begibt sich in klinische Behandlung. Magersucht und Depressionen ist die Diagnose – in ihrer Autobiografie („Einfach Midori“) schildert sie auch die schwierigen Jahre ihrer Selbstzweifel, ob sie die künstlerische Laufbahn überhaupt fortsetzten sollte. Während ihres Studiums der Psychologie und Gender Studies beginnt sie wieder ab 2001 zu konzertieren, wird 2005 an der New York University mit Master-Abschluss „summa cum laude“ graduiert. Seit 2004 ist Midori Professorin an der Thornton School of Music der University of Southern California.

 

“There is nothing between music and myself – es gibt nichts zwischen mir und der Musik”, ist einer der Schlüsselsätze Midoris. Das gilt gewiss auch für ihr Konzert am Pfingstsonntag im Ordenssaal, wo sie außer zwei Solosonaten und der Partita d-Moll mit der berühmten Chaconne auch zeitgenössische Stücke von John Zorn und Thierry Escaich interpretieren wird, die sich auf Johann Sebastian Bach beziehen. Für ihre absolute Ernsthaftigkeit und Wahrheitssuche ist sie berühmt ist und wurde dafür auch vielfach ausgezeichnet.

Verräter oder Auserwählter?

Alexander Radvilovich über seine „Judas Passion“, die am Karfreitag in der Lutherkirche aufgeführt wird

 

Am Karfreitag gestaltet der Cannstatter Kirchenmusikdirektor Jörg-Hannes Hahn in der Lutherkirche mit seinem Bach-Chor und den Stuttgarter Philharmonikern die deutsche Erstaufführung von Alexander Radvilovichs „Judas Passion“. Der auch im Westen bekannte russische Komponist hat über das erst 1976 auf einem koptischen Papyrus entdeckte, apokryphe Judas-Evangelium aus dem 2. Jahrhundert nach Christus sein Oratorium geschrieben. Wir stellten ihm dazu die folgenden Fragen.

 

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine „Judas-Passion“ zu komponieren?

 

Die Gedanken über Judas verfolgen mich, seit ich in meiner Jugend zum ersten Mal das Neue Testament las. Aus irgendeinem Grund erschien mir der Verrat von Judas wenig motiviert und unerwartet. Ist Judas ein Verräter oder ein Auserwählter? Im Judas-Evangelium verstehen alle Jünger außer Judas Jesus ziemlich oberflächlich. Doch Judas sagt zu ihm: „Ich weiß, wer du bist und woher du kommst. Du bist aus dem unsterblichen Reich, und ich bin nicht würdig, den Namen dessen auszusprechen, der Dich gesandt hat.“

 

Wie zeigen Sie der Figur des Judas?

 

Der zentrale Teil meiner Passion ist der Dialog zwischen Judas und Jesus. Judas stellt jene Fragen, die auch wir uns oft stellen. Die beiden Charaktere sind sich so nahe, dass sie sich auch in der Musik intonatorisch fast ähnlich sind. Vielleicht gibt es im Vokalpart von Jesus mehr Gewissheit, Zuversicht, im Part von Judas mehr fragende Intonationen. Doch in der Orchesterbegleitung sind die Klangfarben fast identisch, sie sind geheimnisvoll, mystisch, unwirklich.

 

Welche Rolle spielt das Orchester?

 

Das Orchester kommentiert die Charaktere, erzeugt ungewöhnliche Klangfarben und erschafft gemeinsam mit dem Chor mystische Klangbilder. In der Besetzung sind Schlaginstrumente wichtig, so koloristisch wie eine Cuika (Musiker nennen dieses Instrument „Löwengebrüll“), ein Vibraphon, das mit Kontrabassbogen gespielt wird, ein Gleitgong, Line Bells, Rain Stick, kleine Holztrommeln, die ungewöhnlich hoch im Klang sind. Für die Kreuzigung verwende ich ein spezifisches Instrument: einen massiven Holzbalken, der mit einem Hammer angeschlagen wir.

 

Haben die Passionen von Johann Sebastian Bach Sie bei Ihrer Arbeit beeinflusst?

 

Natürlich kenne ich die Passionen von Schütz, Bach, Händel, Telemann und zeitgenössischen Komponisten – Penderecki, Gubaidulina, Pärt, Tan Dun – gut. Meine Passion ist aber untraditionell geschrieben. Hier sind nur drei männliche Personen: der anonyme Evangelist (Bass), Jesus (Bariton) und Judas (Tenor). Sehr wichtig ist der Chor, der zu verschiedenen Zeiten die Stimme der Jünger oder der Einwohner Jerusalems verkörpert oder geheimnisvolle mystische Klangbilder erschafft. Natürlich sind auch die orchestralen Mittel sehr wichtig.

 

Spielt die russische orthodoxe Kirchenmusiktradition eine Rolle?

 

Als ich begann diese Musik zu schreiben, war es notwendig die Frage zu klären: In welcher Sprache sollte die Passion geschrieben werden – auf Koptisch (die Sprache des gefundenen Manuskripts), auf Latein (die Sprache des Vatikans), in der Sprache J.S.Bachs oder auf Russisch? Es wäre möglich, in Kirchenslawisch zu schreiben, aber diese Sprache ist nur für orthodoxe Priester verständlich. Deshalb habe ich die Judas-Passion in modernem Russisch geschrieben. Ich hoffe, dass die Menschen vor dem Konzert in der Lutherkirche die deutsche Übersetzung lesen.

 

Wie verwenden Sie die Erzählung „Judas Ischariot“ von Leonid Andreyev in Ihrem Stück?

 

Das Originalmanuskript des Judas-Evangeliums ist bis heute nicht vollständig erhalten, das Ende fehlt vollständig. Deshalb habe ich für das Finale der Passion die letzten Zeilen aus der Novelle von Andreyev (1907) übernommen: „Und alle verfluchen ebenso die schändliche Erinnerung an ihn. Und bei allen Völkern, die waren und die sind, bleibt er einsam in seinem schrecklichen Schicksal – Judas, der Verräter.“

 

Kann Musik die Welt verbessern?

 

Ich hoffe, dass Musik die Welt zu einem besseren Ort machen kann. In der Tat sind Menschen, die Musik hören, Konzerte und Kunstgalerien besuchen, Bücher lesen, von denen viele die Quintessenz des menschlichen Geistes enthalten, geistig höher entwickelt als diejenigen, die an all dem vorbeigehen. In Russland nennt man solche Leute „die Intelligentsia“. Sie sind das Gewissen der Nation, aber die Behörden des Landes erinnern sich nur in den kritischsten Zeiten an diesen kleinen Teil des Volkes. Aber dennoch kann es unter ihnen zweifellos Bösewichte geben. Daher kann ich diese Frage nicht eindeutig und mit Ja beantworten.

 

10. April 2022

 

SCHÖPFER DES „SACRE“

 

Der Aufführungsskandal vom 29. Mai 1913 im Pariser Théàtre des Champs-Élysées ist legendär und war einer der spektakulärsten des 20. Jahrhunderts: An jenem Abend tanzen die Ballets Russes zum ersten Mal Vaslav Nijinskys Inszenierung von „Le sacre du printemps – Das Frühlingsopfer. Bilder aus dem heidnischen Russland“, die Musik stammt von einem gewissen Igor Strawinsky, der zwei Jahre zuvor mit „Der Feuervogel“ schlagartig berühmt wurde. Schon bei den ersten hohen Fagotttönen kommt es zu Lachern im Publikum, bei den ekstatischen Zuckungen der Tänzer bricht Unruhe aus, das Ganze steigert sich zum Tumult und Handgreiflichkeiten zwischen musikalischen Avantgardisten und Konservativen. „Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach“, schildert der französische Schriftsteller Jean Cocteau die Atmosphäre im Saal.

 

Igor Strawinsky, der heute vor 50 Jahren in New York starb und dessen Grab auf der Toteninsel San Michele bei Venedig liegt, spiegelt mit seinem weit verzweigten Werk die klassische Moderne des 20. Jahrhunderts. Obwohl der Komponist nach dem 1. Weltkrieg sich nach seiner revolutionär expressiven Frühphase einem musikalischen Neoklassizismus zuwandte und sich nach dem 2. Weltkrieg mit der seriellen Zwölftontechnik von Schönberg und Anton Webern auseinandersetzte, ist er bis heute im Konzertsaal vor allem mit seinen großen Ballettmusiken präsent. 1882 in der Nähe von St. Petersburg als Sohn eines Opernsängers und einer Pianistin geboren, studiert er zunächst Jura, entwickelt dann seine Kompositionstechnik unter dem Einfluss Nikolaj Rimski-Korsakows. Von dessen romantischem Expressionismus wie auch der Tonsprache Claude Debussys ist sein „Feuervogel“ (1910) inspiriert: es ist seine erste große Ballettschöpfung im Auftrag Sergei Diaghilews, des künstlerischen Leiters der Ballets Russes. Die rhythmische Brisanz und aggressive Dynamik in Synthese mit der Melodik russischer Folklore und einer ungeheuer klangsinnlichen, neuartigen Harmonik macht die Geschichte vom Zauberer Kastschej und Iwan Zarewitsch, von Strawinsky umgehend zur Orchestersuite verarbeitet, zu einem Lieblingsstück des sinfonischen Repertoires.

 

Ähnliches gilt für sein Ballett „Petruschka“ (1911), und vor allem für „Sacre“, dessen erregende klangliche Brutalität und kühne Motivmontage bis heute packend modern wirken. 

Die Kriegsjahre von 1914 bis 1919 verbringt Strawinsky in der neutralen Schweiz, dort tritt er auch als Pianist und Dirigent in Erscheinung, und es entsteht die sinfonische Dichtung „Le chant du rossignol“. Für eine Wanderbühne schreibt er die „Geschichte vom Soldaten“: eine Moritat für sieben Musiker, einen Vorleser, zwei Schauspieler und ein Tänzerpaar, die zum Beispiel im ersten Lockdown letztes Frühjahr von der Stuttgarter Oper auf einer Truckbühne Open-Air und von John Cranko als sein allererstes Stück 1944 in Kapstadt inszeniert wurde. Welch dominierenden Platz Ballettmusik in Strawinskys Oeuvre einnimmt, zeigt die eindrucksvolle Liste seiner in Frankreich komponierten Werke, wo er von 1920 bis 1939 lebte: „Pulcinella“ am Beginn seiner neoklassizistischen Periode, mit Bühnenbildern und Kostümen von Picasso an der Pariser Oper uraufgeführt, „Les Noces (Die Bauernhochzeit)“, als Tanzkantate 1923 vollendet, „Apollon musagète“, 1928 choreographiert von Georges Balanchine, „Der Kuss der Fee“ und „Jeu des cartes“, dessen Uraufführung 1937 an der New Yorker Met mit Balanchines American Ballet und Strawinsky als Dirigent stattfand. Nach Ausbruch des 2. Weltkriegs verließ Strawinsky Paris und ging nach USA, wo er von der Harvard University zu Vorlesungen über die „Poetics of Music“ eingeladen war. Darin wendet er sich vehement – von einem neoklassischen Standpunkt aus, wie er sich auch in der von ihm mit dem Chicago Symphony Orchestra uraufgeführten „Symphony in C“ – ausdrückt – gegen den radikalen Bruch mit der Tradition. „Musik kann nichts ausdrücken als sich selbst“, lautet sein Credo. Dem Jazz widmete sich Strawinsky in den USA mit dem „Ebony Concerto“ für Klarinette und Bigband, für das Teatro La Fenice in Venedig schrieb er 1951 seine Oper „The Rake’s Progress“. Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens wirkte Igor Strawinsky vor allem als Interpret seiner eigenen Werke.

 

 

 

Beethoven

 

Die frühen Jahre

 

Als am 17. Dezember 1770 in der Bonner St. Remigius-Kirche Ludovicus van Beethoven getauft wurde , konnte niemand ahnen, dass damit ein Musikerleben begann, dessen geniale Größe die europäische Musikgeschichte bis in die Gegenwart prägen würde. Freilich, sein Großvater Louis van Beethoven, vom flämischen Lüttich als Sänger und Kapellmeister 1733 in die Bonner Residenz des Fürsterzbischofs von Köln engagiert, hatte beachtliches musikalisches Talent. Auch der Vater Jean wurde Musiker in der Hofkapelle und erbte zugleich den Weinhandel, den Louis nebenbei mit Profit betrieben hatte. Doch seine Alkoholsucht brachte ihn, der den Knaben auf einem Fußbänkchen am Klavier mit Jähzorn unterrichtete, an den Rand des Ruins. 

 

Mit sieben Jahren gab Beethoven sein erstes öffentliches Konzert, in Hauskonzerten bestaunte man den Wunderknaben. Für die intellektuelle und vom Sturm und Drang inspirierte Erweiterung seines jugendlichen Horizonts sorgte Christian Gottlob Neefe. Über seinen Schüler schrieb der Jurist, Freimaurer und musikalische Autodidakt: „Louis van Beethoven, ein Knabe von 11 Jahren, und von vielversprechendem Talent. Dieses junge Genie verdient Unterstützung, daß er reisen könnte. Er würde gewiß ein zweiter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.“ Mit 12 Jahren wird er Stellvertreter Neefes, der in Bonn als Hoforganist, Kapellmeister und Regisseur italienischer Opern wirkt und öfters mit Wanderbühnen unterwegs ist. Bei einer Reise mit seiner Mutter zu Verwandten nach Rotterdam spielt er im November 1783 in einflussreichen Bürgerhäusern, gibt ein Klavierkonzert in der Den Haager Residenz und kassiert dafür ein Honorar von 63 Gulden – die Hälfte seines Jahresgehalts als Hofmusikus in Bonn. Dennoch beklagt er sich nach der Rückkehr: „Die Hollännder, das sind pfennigks Fückser, die lieben das Geld zu sehr, ich werde Hollannt nimmer mehr besuchen.“

 

Stattdessen unternimmt Beethoven als 16jähriger seine erste Reise nach Wien, auch mit der Absicht, Unterricht bei Mozart zu nehmen. Bei ihrer ersten Begegnung stellt der ihm die Aufgabe, über ein Fugenthema zu improvisieren. Sein Urteil: Beethoven werde in der Welt noch von sich reden machen. Doch dessen ungestüme, rhapsodische Freizügigkeit ist nicht seine Sache, während umgekehrt Mozarts Klavierspiel ihm „gehackt“ vorkommt. Nach dem Tod der Mutter im September 1787 kommt es zu einer ersten Schaffenskrise: außer zwei Stücken für Bläseroktett, deren Struktur für Beethoven auch für seine späteren Sinfonien von Bedeutung ist, erfüllt er vorwiegend seine Pflichten in der Hofkapelle. Immerhin erhält er im Frühjahr 1790 den Auftrag für eine Trauerkantate zum Tod Kaiser Franz Joseph II., die „aus mehreren Ursachen“ nicht aufgeführt wird. Offenbar gerät Beethoven bei der Komposition – wie später noch öfters – in Zeitnot. Bei der Thronbesteigungskantate für Kaiser Leopold II. einige Monate danach verweigern die Musiker der Hofkapelle „wegen technischer Schwierigkeiten“ die Aufführung. Lieder, Klavier-Variationen, Streicher- und Bläser-Kammermusik entstehen in den beiden Jahren bis zur zweiten Wienreise im November 1792. Der Graf von Waldstein, dem Beethoven 1803 seine Sonate op. 53 widmen wird, schreibt ihm zum Abschied: „Lieber Beethoven! Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie Mozart’s Geist aus Haydens Händen.“ 

 

Mit dem Fürsten Lichnowsky als einflussreichem Mäzen und Haydn als förderndem Lehrer hat der nach Mozarts Tod gefeierte junge Klaviervirtuose einen guten Start in der österreichischen Metropole. Im Kompositionslabor des älteren Meisters lernt Beethoven viel über neuartige Formen von Streichquartett und Sinfonie, und bei der Uraufführung seiner drei Klaviertrios op.1 ist Haydn im August 1795 im Palais LIchnowsky zugegen. Einige Monate später bei einem Konzert im Wiener Redoutensaal mit drei von Haydns Londoner Sinfonien spielt Beethoven sein erstes Klavierkonzert op.15, im nächsten Jahr widmet er seinem – nun ehemaligen – Lehrer seine drei Klaviersonaten op.2: ein gewaltiger Sprung in die subjektive Ausdruckswelt eines leidenschaftlich freiheitsliebenden Künstlers.  Damit wächst nun auch sein Ansehen als Compositeur. Er wird in Hauskonzerten der Adligen Wiens, zum Beispiel beim Freiherrn Gottfried van Zwieten, herumgereicht, wo er seine eigenen Klaviersonaten aufführen kann. Als Gastsolist eines von Mozarts Witwe Constanze veranstalteten Benefizkonzerts im Burgtheater spielt er dessen d-Moll-Konzert mit eigenen Kadenzen, die das Publikum verblüffen. Nur Wochen später erscheinen seine „Trois trios pour le Pianoforte, Violon et Violoncelle par Loius van Beethoven“ im Arataria-Verlag. In Begleitung des Fürsten Lichnowsky geht er auf Tournee nach Prag, Dresden, Leipzig und Berlin. In Prag komponiert er eine Reihe von Stücken, darunter die große Konzertarie „Ah! Perfido“ für die 18jährige Sängerin und Mandolistin Josephine von Clary – eine der zahlreichen vermuteten Liaisonen Beethovens, der nach seiner viermonatigen Konzerttournee mit einer lebensbedrohlichen Fleckfieber-Infektion aus Berlin nach Wien zurückkehrt. War dies schon der Beginn seines Gehörleidens, welches zur Aufgabe seiner Pianisten- und Kapellmeisterlaufbahn führte?

 

 

Die mittleren Jahre

 

Beethoven und die Frauen – das wäre ein Kapitel für sich. Um 1800 hatte sich der Klaviervirtuose als legitimer Nachfolger von Mozart in der Wiener Gesellschaft etabliert, sein Charisma als Interpret war berühmt, besonders unter adeligen jungen Damen hatte er viele Klavierschülerinnen. Als er die schöne, kluge Josephine von Brunswick kennenlernt, verliebt er sich in die 18jährige, doch sie wird alsbald mit dem Abenteurer Graf Deym verheiratet, dem sie vier Kinder gebiert. Die gesellschaftlichen Schranken erlauben keine Verbindung mit einem Bürgerlichen: „Als ich zu Ihnen kam, war ich in der festen Entschlossenheit, auch nicht einen Funken Liebe in mir keimen zu laßen, sie haben mich aber überwunden – ob sie das wollten? – oder nicht wollten?“ schreibt Beethoven Josephine 1805, fünf Jahre nach ihrer ersten Begegnung. Da hat er gerade eine unerfüllte Liebe zu ihrer 17jährigen Cousine Giulietta Guicciardi überstanden. Nach dem Tod ihres ersten Mannes bekam Beethovens Beziehung zu Josephine eine neue Intensität, die sich in den beiden folgenden Jahren auch in Werken wie dem 4. Klavierkonzert, der „Apassionata“, den Rasumowsky-Quartetten und dem Violinkonzert niederschlug. Doch Heirat kam nicht in Frage. Von der Frau, die Beethoven zehn Jahre später in seinem Liederzyklus „An die ferne Geliebte“ verewigen wird, stammen die Zeilen: „Mein Herz haben Sie schon längst, den größten Beweis meiner Liebe empfangen Sie durch dieß Geständnis, durch daß Vertrauen! Daß Sie es zu schätzen wissen werden Sie mir beweisen … Nicht mein Herz zerreißen – Nicht weiter in mich dringen – Ich liebe Sie unaussprechlich – wie ein frommer Geist den andern.“

 

Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entwickelt sich Beethoven zum autonomen, heroischen Künstler, der kühn und unbeirrt seine musikalischen Visionen verwirklicht. Mit dem Erfolg seiner Werke wird er auch unabhängiger von seinen adeligen Mäzenen. Einer der wohlhabendsten ist der böhmische Fürst Lobkowitz mit drei Wiener Stadtpalästen und riesigen Schlössern in der Umgebung Prags. Er fördert Beethovens „Work-in-Progress“, schon 1798 hatte er ihm mit dem Auftrag für die sechs Streichquartette op.18 (für 400 Gulden Honorar) zum Durchbruch in der von Haydn etablierten Kammermusikgattung verholfen. Mit dem von ihm finanzierten Projektorchester konnte Beethoven schon ein Jahr vor der Uraufführung der „Eroica“ im Palais Lobkowitz vor exklusivem Publikum proben. 

 

Sein erster großer Auftritt mit eigenen Sinfonien ist die Musikalische Akademie zu Ehren der Kaiserin Maria Theresia im Hoftheater am 2. April 1800:  außer einer Mozart-Sinfonie und Arien aus Haydns „Schöpfung“ spielt Beethoven sein 1. Klavierkonzert (das eigentlich vorgesehene dritte ist nicht rechtzeitig fertig geworden), phantasiert auf dem Piano-Forte, dirigiert seine 1. Sinfonie (mit den die Zuhörer schockierenden dissonanten Bläserakkorden). Im Mittelpunkt des siebenteiligen, dreieinhalbstündigen Konzerts steht „Ein Sr. Majestät der Kaiserinn allerunterthänigst zugeeignetes, und von Hrn. Ludwig van Beethoven komponirtes Septett, auf 4 Saiten- und 3 Blas-Instrumenten.“ Sein Ruf als Orchesterkomponist ist nun begründet, in den folgenden Jahren kommen im neu erbauten Theater an der Wien bei Beethoven-Akademien seine 2. Sinfonie – von einem Kritiker mit einem „grob behauenen Monstrum, einem durchbohrten Drachen, der unbeugsam weiterkämpft und nicht sterben will“ verglichen – und weitere Klavierkonzerte zur Aufführung. 

 

1802 entfloh Beethoven dem Trubel Wiens in einer existentiellen Krise, wo er, vom unheilbaren Gehörleiden niedergeschlagen, sein „Heiigenstädter Testament“ niederschrieb: „Es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben“, lautet der Kernsatz dieser Selbsttherapie, und mit neuer Energie und ehrgeizigen Plänen kehrt er zurück. Seine Klaviersonaten mit dem Untertitel „quasi una fantasia“, zum Beispiel die „Mondschein“- oder die „Sturm“-sonate, offenbaren Seelenzustände, sind Dramen der Leidenschaft wie seine c-Moll-„Schicksal“-Sinfonie. Seine 3. Sinfonie, die „Eroica“ hatte der von der französischen Revolution und ihren Idealen der „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ begeisterte Komponist ursprünglich „intitulata Napoleon“ gewidmet. Doch nach dessen Kaiserkrönung 1804 in Notre Dame löschte er die Widmung – der revolutionäre Geist dieser Sinfonie ist universal. Ein anderes Werk kündet von Freiheit und heroischer menschlicher Größe: die erste Fassung von „Fidelio“ wird 1805 im Theater an der Wien uraufgeführt, die ihren eingekerkerten Gatten befreiende Leonore ist die Hauptfigur, der Gefangenenchor gehört zu den Welthits der Musikgeschichte. 

 

In seinem von ihm selbst so bezeichneten „laboratorium artificiosum“ entstehen die vom Wiener Publikum mit wechselnder Begeisterung aufgenommenen Klavierkonzerte 3-5, die Streichquartette op. 59, 74, 95, die 5. und 6. Sinfonie. In all diesen Werken schafft Beethoven eine ungeheure Vielfalt neuer Ausdrucksmöglichkeiten. „Schicksal“ und „Pastorale“ sind in der Musikalischen Akademie am 22. Dezember 1808 im ungeheizten Theater an der Wien kompositorisch erregend, doch vom Orchester unbefriedigend ausgeführt, miteinander konfrontiert, und hier tritt Beethoven beim 4. Klavierkonzert zum letzten Mal als Pianist öffentlich auf. Bei einem Kuraufenthalt in Karlsbad 1812 trifft er Goethe, der nach dieser ersten Begegnung notiert: „Zusammengefaßter, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht Unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht.“ Um Genuss ging es Beethoven natürlich nicht, die radikale Wahrheit seiner Musik würde sich im letzten Lebensjahrzehnt in einer nach dem Wiener Kongress von Restauration und Unfreiheit geprägten Gesellschaft noch vertiefen. Bei der Uraufführung seiner 7. Sinfonie in der Wiener Universität zusammen mit „Wellingtons Sieg“ im Dezember 1813 jedoch jubelten die Zuhörer, vom Geist der Befreiungskriege gegen Napoleon inspiriert, euphorisch.

 

 

 

Die späten Jahre

 

Beethoven: Die späten Jahre

 

Mit 45 Jahren war Beethoven ohne seine Melzelschen Hörrohre taub. „Wie ein Verbannter muß ich leben“, hatte schon der 32jährige in seinem Heiligenstädter Testament von 1802 an seine beiden jüngeren Brüder geklagt, die ihm am Ende des 18. Jahrhunderts von Bonn nach Wien gefolgt waren, ohne dass sich zwischen ihnen harmonische familiäre Bindungen entwickelten. Mit Nikolas Johann, der nach seinen Pharmaziestudien an der Wiener Universität eine Apotheke in Linz übernahm, zerstritt er sich wegen dessen von ihm als „Hur“ bezeichneter Frau, die ein uneheliches Kind mit in die Heirat gebracht hatte. Kaspar Anton kümmerte sich als Steuerbeamter um die Geldgeschäfte Beethovens, der wiederum gegen dessen Heirat mit einer schwangeren Tapezierertochter wetterte und sie wegen Diebstahl anzeigte. Um seinen Neffen Karl kam es nach dem Tod des Vaters zu einem sechsjährigen Vormundschaftsstreit, auf dem Krankenbett setzte ihn Beethoven am 7. Januar 1827 zu seinem Universalerben ein.

 

Während seine Berühmtheit in den Jahren ab 1815 auch international immer mehr wuchs, ging Beethovens Weg als Künstler, nicht nur wegen seiner Taubheit, nach innen, an die Wurzeln und Visionen menschlicher Existenz. Mit seinem Liederzyklus „An die ferne Geliebte“ nahm er musikalisch endgültig Abschied von Josephine, seiner unerfüllbaren Liebe. „Alles schöne an ihre Frau – leider habe ich keine, ich fand nur eine, die ich wohl nie besitzen werde“, schrieb er 1816 an einen Freund. Verzicht und Entsagung werden zu spirituellen Kategorien von Beethovens Existenz, die sich nun ganz der Schöpfung unerhört neuartiger Kunstwerke widmet. Beethoven studiert die antiken Philosophen, liest Shakespeare, Schiller und Kant. Sein Komponieren am Klavier wird ersetzt durch einen Klangraum, in dessen innerem Gehör sich die Motive und Themen herausbilden. Eines der ungeheuren Werke dieses schöpferischen Prozesses ist die 1818 vollendete „Große Sonate für das Hammer-Klavier“ op. 106 – vom belgischen Dirigenten und Musikwissenschaftler Jan Cayeres in seiner lesenswerten Beethoven-Monografie als „extrem, irrational, ungreifbar“ charakterisiert. „Olympisch, zyklopisch, diabolisch“ sind andere Attribute dieses auch technisch die Grenzen der Interpretationskraft sprengenden Stücks am Beginn von Beethovens Spätwerk. Kein Wunder, dass es für seine Zeitgenossen als unspielbar und unverständlich galt, zumal das Publikum im restaurativen Klima des Metternich-Europa eher nach oberflächlicher Unterhaltung zumute war. 

 

Beethovens internationaler Erfolg war bedeutend: in fast jedem der 80 Konzerte der Philharmonic Society in London zwischen 1813 und 1823 wurde ein Werk Beethovens gespielt, während der Arbeit an seiner Hammerklavier-Sonate erhielt er das Angebot über 3000 Gulden Honorar für die Uraufführung zweier neuer Sinfonien. Doch da reiften schon die Ideen zur „Missa solemnis“: Für seinen Klavierschüler und Mäzen, den Erzherzog Rudolph von Österreich, wollte er sie zu dessen Inthronisation zum Erzbischof von Ölmütz komponieren, aber im Zeitraum von sechs Jahren, zwischen 1818 und 1824, entwickelte sich das Werk in monumentalen Dimensionen. „Um wahre Kirchenmusik zu schreiben alle Kirchenchoräle der Mönche durchgehen“, notiert Beethoven zu Beginn, doch seine Auseinandersetzung mit der Theologie, Liturgie und musikalischen Tradition der lateinischen Messe führt ihn zu einem höchst subjektiven Bekenntniswerk in der polaren Spannung von göttlicher Allmacht und menschlicher Geworfenheit. 1820, zum Termin der Inthronisation, waren erst Kyrie und Gloria fertig, in den Folgejahren bot der Komponist das Werk mehreren Verlagen zur baldigen Veröffentlichung an, das geschäftstüchtige Geschacher der Beethvvens sorgte für Gesprächsstoff in Wien. Die vollständige „Missa solemnis“ wurde 1824 weder in Wien, noch in London, sondern in St. Petersburg in der Phiharmonischen Gesellschaft des Fürsten Golizyn uraufgeführt. „Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen“ steht über dem Autograph.

 

Während der Entstehung der „Missa solemnis“ schuf Beethoven auch die Vollendung seines  Klavierwerks. Am zweisätzigen Opus 111, der letzten seiner 32 Klaviersonaten, rühmt Theodor W. Adorno die „philosophische Dialektik“, und in Thomas Manns „Doktor Faustus“ analysiert dessen musiktheoretisches Alter Ego Kretzschmar die abschließende Arietta: „ Wie das durch hundert Schicksale, hundert Welten rhythmischer Kontraste gehende Thema dieses Satzes sich selbst überwachse und endlich in schwindelnden Höhen, die man jenseitig nennen wollte oder abstrakt, sich verliere – ebenso habe Beethovens Künstlertum sich überwachsen.“ So auch in seinen fünf letzten Streichquartetten mit der „Großen Fuge“ op.133 und dem gewaltigen Kosmos des cis-Moll-Quartetts op. 131: sieben Sätze, die ohne Unterbrechung ineinander fließen, eine Welt im Entstehen und Vergehen. 600 Seiten Skizzen hat Beethoven allein für dieses Wunderwerk notiert, geplagt von Augenentzündungen, Gichtanfällen, Diabetis und chronischer Leberkrankheit. 

 

Zwei Jahre vor der Vollendung seiner letzten Streichquartette erlebte Beethoven noch einmal einen Riesenerfolg beim Wiener Publikum: Im Kärntnertor-Theater fand am 7. Mai 1824 vor 2000 Zuhörern die Uraufführung der 9. Sinfonie statt, in einem Konzert, das mit der Ouvertüre „Die Weihe des Hauses‘“ begann und mit Auszügen aus der „Missa solemnis“ endete. Die Sinfonie mit dem Schlusschor nach Schillers Ode „An die Freude“, mit zwei Dirigenten und assistiert vom tauben Beethoven, der den Jubel nach dem ersten Satz erst gewahr wurde, als er sich, von Musikern des Orchesters aufmerksam gemacht, zum Publikum umdrehte, überwältigt auch 250 Jahre danach jeden Zuhörer durch sein ekstatisches Finale. Nach dem Rückblick auf die melodischen und emotionalen Kontraste der vorangegangenen Sätze und einem dissonanten Ausbruch des Chaos – „O Freunde, nicht diese Töne!“ – wächst in stetigem Crescendo die Utopie des – freilich nicht gendergerechten - „Alle Menschen werden Brüder“ zum solidarischen „Seid umschlungen, Millionen“ und steigert sich zur Vision des „Brüder, überm Sternenzelt, / Muß ein lieber Vater wohnen.“ Beethoven starb am 26. März 1827. 20000 Menschen sollen dem Trauerzug gefolgt sein.