Oper

Missa Sancta der nackten Rituale

 

Florentina Holzinger, die skandalumwitterte österreichische Aktionskünstlerin, hat mit „Sancta“ eine radikal körperintensive weibliche Musiktheater-Performance inszeniert, die nach ihrer Uraufführung in Schwerin und Gastspielen bei den Wiener Festwochen nun auch in der Stuttgarter Oper Jubel und Begeisterung auslöste. Schon vor der Vorstellung geistern Nonnen im schwarzen Habitus durch die Foyers der Staatsoper, eine von ihnen hat sogar einen Beichtkasten vor sich mit Sünden- und Sühnezetteln. Paul Hindemiths Kurzoper „Sancta Susanna“ sollte 1921 hier in Stuttgart uraufgeführt werden, doch ihr Thema erotischer Visionen von Klosterschwestern, die ja auf „Keuschheit, Armut und Gehorsam“ verpflichtet sind, sorgte damals für eine Absetzung, nun gab es nach mehr als hundert Jahren eine Premiere. Bei Florentina Holzinger, deren Tanztheater-Produktionen zu Dantes „A Divine Comedy“ oder Shakespeare („Ophelia’s Got Talent“) auch Grundfragen menschlicher Existenz abhandeln, ist der Hindemith-Einakter freilich nur der Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit kirchlicher Sexualmoral und weiblicher Unterdrückung. In ihrer fast dreistündigen Opern-Performance richtet sie den Blick auf Kernpunkte christlicher Theologie und dekonstruiert in ihrer „Missa Sancta“ die katholische Liturgie.

 

Flirrende Musik prägt zu Beginn die Szene von Hindemiths „Sancta Susanna“. Eine Nonne wirft sich mit ausgebreiteten Armen zu Boden, eine Kerze wird auf einem sich senkenden Roboterarm entzündet, zum Glockenschlag wird das „Ave Maria“ gebetet, während sich zwei nackte Tänzerinnen über dem Orchestergraben küssen. Im Vordergrund wird die Geschichte erzählt von Beata, die in religiöser Verzückung aufs Klosterkreuz stieg um sich mit Jesus zu vereinigen, auf der Kletterwand hinten bewegen sich Wesen spinnenartig nach oben um sich zu paaren. Und während Susanna (Caroline Melzer) in Ekstase gerät, kopulieren auf dem Neonkreuz, das vom Bühnenhimmel herabfährt, zwei weibliche Körper. Mit ihrer Rebellion gegen die sexualfeindlichen patriarchalen Normen endet das Opus Hindemiths nach einem gewaltigen, von Marit Strindlund mit dem Staatslorchester furios expressiven ausgebreiteten Crescendo: „So helfe mir mein Heiland gegen den euren!“

 

Damit taucht die Bühne in glutroten Nebel, von der fünfköpfigen (nackten) Band zu beiden Seiten gibt es Heavy Metal auf die Ohren, eine riesige Metallglocke schwebt herab, zu der sich eine Tänzerin hochhangelt und kopfüber als Glockenschwengel dröhnende Schläge erzeugt. Holzingers Ensemble verblüfft mit akrobatischen Aktionen, bald stürzen sich Rollschuhläuferinnen in die hereingefahrene Halfpipe, doch im Vordergrund versammeln sich die (bekleideten) Nonnen des Staatsopernchors zum „Kyrie eleison“ aus Johann Sebastina Bachs h-Moll-Messe. Das Arrangement passt, wie bei den Messe-Kompositionen von Rachmaninow, Gounod und William Byrd, perfekt zur mit spektakulären Aktionen angereicherten Szene, die zwischendurch auch mit Techno, Pop, und Songs der Berliner Musikerin Born in Flamez bespielt wird. Beim „Gloria“ ist es Zeit für den Auftritt von Annina Machaz als Vapes schmauchender Jesus („I am the glue that holds your life together“), der mit seinem mähenden Plüsch-Schaf um den Hals auf eine Heilig-Geist-Magierin und einen verzwergten Papst trifft, der am Roboterarm in eine Umlaufbahn gehievt wird. Im Mittelteil von Holzingers Opern-Performance gibt es durchaus Längen und etwas flapsige Karikatur, doch bald verdichtet sich die Show-Messe wieder zu Essentiellem. Auf der Kletterwand erscheint Michelangelos berühmtes Schöpfungs-Fresko mit Gott und Adams Fingerberührung aus der Sixtinischen Kapelle, das nun von der weiblichen Bolder-Crew zertrümmert wird. Zwei Knieverletzten wird ein Bete-Gipsverband angelegt, auf eine Masturbationsszene mit Gips-Penissen und „Sanctus“-Chor folgt eine Gesprächsrunde zu „Wie man Heilige wird“. So wechseln theologische Randbemerkungen und knallige Statements, spektakuläre Körperaktionen und emanzipatorischer Diskurs in einer schillernden Melange, die mit „The Last Supper“ ihren Höhepunkt findet. 

 

Vom luftigen Seilgerüst verfügt sich der schwebende Jesus an die Tafel zu seinen nackten Jüngerinnen, denen die Magierin das Weinwunder der Hochzeit zu Kana zelebriert. Immer mehr Flaschen erscheinen, statt Hostien wird eine mit Live-Kamera gefilmte, aus dem Körper einer gelbhaarigen Tänzerin operierte und gebratene Faser Fleisch zur Transsubstantiation serviert. Solch ritualisierte Selbstverletzung - ein Markenzeichen von Florentina Holzingers Body-Art – ist für die Zuschauer ebenso eine Grenzerfahrung wie die unter die Rückenhaut implantierten Haken, an denen sie und eine Mitspielerin sich am Schluss zum „Agnus Dei“ mit Donnerblechen in die Höhe ziehen lassen und mit dem menschlichen Glockenklöppel ihrer Leidensgefährtin um die Wette schlagen. In der radikalen, orgiastischen Flut solcher Bilder scheint vielleicht der Traum der Freiheit von jeder Verletzung, Erniedrigung und Unterdrückung auf, von der Regisseurin dieser „Sancta“-Performance beschworen in der Auseinandersetzung mit den Mythen der Mess-Liturgie. Das noch einmal in blutigrote Aura getauchte Rock-Finale samt Glockenschlägen überwältigt, das nachgestellte Sing-Along „Don’t Dream it. Be it!“ dagegen war überflüssig.

 

7. Oktober 2024

Spritzige Buffa im historischen Kurtheater bei „Rossini in Wildbad“

 

Neben dem Rossini-Festival in Pesaro gilt ein Kurort im Schwarzwald als deutsches Pendant bei der Pflege des Opern-Oeuvre des italienischen Komponisten. Als Gioachino Rossini 1856 in Wildbad zur Kur weilte, gab es noch nicht den 1864 in einfacher Holzbauweise erstellten,  ab 1888 als „Königliches Kur-Theater“ firmierenden Bau im Park an der Enz. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts fiel es in einen Dornröschenschlaf, der ihm fast den Abbruch bescherte. Doch mit dem Aufblühen des Rossini-Festivals, das unter seinem Intendanten Jochen Schönleber ab 1992 auch immer mehr internationales Ansehen gewann, kam es zu einer Initiative, die mit der vollständigen Restaurierung und Wiedereröffnung des historischen Juwels im Jahre 2014 von Erfolg gekrönt war. Seitdem finden jedes Jahr in dem zwischen altem Kurhaus und moderner Trinkhalle im Kurpark der Enz gelegenen Theaterbau Aufführungen des Festivals statt, in diesem Jahr sein jugendlicher Geniestreich „L’italiana in Algeri“. Während die größeren Produktionen im Saal der nüchternen Trinkhalle (heuer „Le Comte Ory“ und „Masaniello“ vom Rossini-Zeitgenossen Carafa) inszeniert werden, sind die Vorstellungen und Konzerte im 200 Plätze fassenden Kurtheater exquisit. 

 

Schon die Ouvertüre der „Italienerin in Algier“ klingt aufregend frisch und inspiriert mit dem spanischen Dirigenten José Miguel Pérez-Sierra, der - neben Antonio Fogliani als musikalischem Leiter des Festivals seit 2011 - die Produktionen betreut, am Pult der Szymanowski-Philharmonie Krakau. Als Zuschauer ist man im Parkett und auf der Galerie -quasi hautnah am musikalischen Geschehen, und für die Inszenierung des „Dramma giocoso“, welches Rossini im Frühjahr 1813 in weniger als drei Wochen für das Teatro San Benedetto komponierte, braucht es nur ein paar stimmige Ideen im intimen Rahmen des Kurtheaters. Die bringt Jochen Schönleber, der „L’italiana in Algeri“ schon öfters in Wildbad inszeniert hat, gefällig auf die Bühne: sein Haremsserail spielt vor einer Döner-Bude, die Ankunft der Schiffbrüchigen an der Küste Algeriens erfolgt auf der Hinterbühne als Autopanne einer Teilnehmerin an der Rallye Dakar im Fiat Settecento. Während der mit allen Macho-Eigenschaften gesegnete Mustafà Bey (der türkische Bassbariton Dogukan Özkan in Mafia-Outfit) seine ersten Koloraturen guttural ins Parkett raunzt und seine Gattin Elvira (die ukrainische Sopranistin Oksana Vakula), die er zugunsten einer weniger Langweiligen verstoßen will, ihr Leid klagt, träumt sein Sklave Lindoro von seiner Geliebten Isabella in Italien: die Kavatine „Languir per una bella – Schmachten nach einer Schönen“) des koreanischen Spinto-Tenors Hyunduk Kim ist eines der ersten Highlights der Opera Buffa.

 

Alle Solistinnen und Solisten des „Italiana“-Ensembles sind Teilnehmer der seit 2004 beim Rossini-Festival angesiedelten Akademie BelCanto, wo im Gründungsjahr sogar die weltbekannte Sopranistin Joyce DiDonato als „Cenerentola“ auftrat. Seither haben viele junge Sänger hier ihre Karriere vorangebracht: Auch die Russin Polina Anikina, die schon den Musikwettbewerb in Pesaro gewann und im letzten Jahr im Wildbad als Rosina im „Barbier von Sevilla“ im Kinder- und Jugendprogramm debütierte, wird nach ihrem singdarstellerisch glänzenden Auftritt als Isabella international ihren Weg machen. Sie ist eine äußerst attraktive, schlau und sexy agierende „Italienerin“, die dem Mustafa Bey mit schwindelerregenden Koloraturen sofort den Kopf verdreht und auch ihren Verehrer Taddeo (Emmanuel Franco mit beweglichem Bariton) und Lindoro auf Distanz hält. Bis Isabella den Macho Mustafa von den Bräuchen der Liebe im Me-Too-Zeitalter überzeugt und ihn zum „Pappataci“-Nudelkönig gekürt hat, gibt es ein Dutzend toller Arien und Duette, ein überdrehtes Finale 1, zwei bravourös gesungene Kavatinen von Kim und Anikina und eine blitzsaubere Hommage an die „Femmine d’Italia“ vom Bariton Francesco Bossi mit Don-Giovanni-Timbre. Dass Mustafà seine Elvira wieder aufnimmt und Isabella mit ihrem Lindoro im Rallye-Fiat gen Heimat steuert, ist der Schluss der Komödie.

 

28. Juli 2024

Einsamer Tod zwischen Drogen-Clans

 

Rossini-Premiere bei den Bregenzer Festspielen mit „Tancredi“  im Milieu südamerikanischer Drogenbanden 

 

Gioachino Rossini war erst zwanzig, als er mit seiner 1813 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführten Oper „Tancredi“ seinen ersten großen Erfolg errang. Das „Melo-Dramma eroico“ handelt von zwei miteinander verfeindeten Familien-Clans im Sizilien des 11. Jahrhunderts, deren Machtkampf durch eine Hochzeit zwischen Amenaide und Orbazzano beendet werden soll. Doch die Tochter Argirios, des anderen Clan-Oberhaupts, liebt einen andern, und außer dem Bürgerkrieg im Innern wird die Stadt Syrakus auch noch von einer Sarazenenarmee bedroht. Die Inszenierung im Bregenzer Festspielhaus verlegt das Stück aus dem Mittelalter in die Gegenwart und spielt in der Villa eines Drogenbarons, deren unzählige Räume vom Innenhof über eine Küche und Amenaides Schlafzimmer bis zur Folterkammer und dem Kokaindepot des Kartells mit südamerikanischem Flair vom Bühnenbildner Ben Baur auf der Drehbühne detailgenau realisiert werden. 

 

Zur Ouvertüre bleibt der Vorhang noch zu, was die volle Konzentration auf Yi Chen Lins klanglich und dynamisch äußerst plastische Wiedergabe mit den Wiener Symphonikern ermöglicht. Wie farbig und an vielen Stellen auch kammermusikalisch diese Partitur ist, bringt die Dirigentin im weiteren Verlauf der folgenden drei Stunden immer wieder subtil zur Geltung. Sie atmet mit den herausragenden Solisten, sie legt Temperament und Wucht in die häufigen Chöre, die in dieser Oper eine wichtige Rolle spielen. Der Prager Philharmonische Chor, der seit vielen Jahren bei den Bregenzer Festspielen auf der Seebühne und im Festspielhaus unverzichtbar ist, bringt in Glogers Inszenierung auch die Gang-Szenen mit Unterstützung der Stunt-Factory atmosphärisch stimmig zur Geltung. Durch die räumliche Gleichzeitigkeit der Drehbühne arbeitet die Regie mit filmischen Übergänge. Man merkt der Inszenierung an, dass Jan Philipp Gloger vom Schauspiel herkommt: seine Singdarsteller sind situativ glaubwürdig und bewegen sich sehr natürlich und mit einem Schuss Quentin Tarantino im Geschehen auf der Bühne. Es gibt kein Rampensingen.

 

Antonino Siragusa ist ein fein gezeichneter Argirio, sein hoher Spinto-Tenor bringt den Wankelmut und die Gewissensbisse, ob er seine Tochter dem Clan-Frieden opfern und ihren Liebhaber Tancredi ans Messer liefern soll, beredt zum Ausdruck. Mélissa Petít verkörpert Amenaide mit klarem, volumenreichen Sopran, ihre Emanzipation von den Wünschen der Familie und den Forderungen der Gangs hat noch einen weiteren Grund, den der Regisseur ins ursprüngliche Libretto einfügt: Ihr Tancredi, bei Rossini eine Hosenrolle für einen Mezzosopran, ist wirklich eine Frau, die lesbische Liebe macht die Beiden im Macho-Milieu der Drogenkartelle zu Außenseiterinnen. Was die Musik in den Duetten an Belcanto-Kostbarkeiten vorgibt, wird von Petít und der großartig nuancierten und steigerungsfähigen Anna Goryachova sängerisch und darstellerisch bravourös dargeboten. Auch was die Verzierungen der Soloarien angeht, hat Yi-Chen Lin mit den beiden hervorragend gearbeitet. Auch Andreas Wolf als handgreiflicher Orbazzano und Laura Polverelli als Amenaides oberflächliche Mutter sind treffend besetzt. 

 

Manche Unsinnigkeiten und Widersprüche der Opernhandlung kann Glogers Regie doch nicht auffangen, zum Beispiel wenn statt des Sarazenenheers sich plötzlich schwarz gekleidete Spezialkräfte der Polizia von der Bühnendecke abseilen und Tancredi gefangen nehmen. Neben Amenias Kerker-Arie ist es vor allem das Finale der Oper, welches in dieser Inszenierung unmittelbar berührt und zum Höhepunkt der Aufführung wird. Ganz allein und nicht wie in Rossinis Libretto in den Armen seiner Geliebten stirbt die von Schüssen tödlich getroffene Tancredi auf der Bühne. Diesen ungewöhnlichen Schluss mit seiner im Orchester verhauchenden Musik gestalten Anna Goryachova und Yi-Chen Li ungeheuer eindrucksvoll. 

 

22. Juli 2024

 Im spektakulären Höllenpfuhl des „Freischütz“

 

Als Moritat mit kitschigem Happy End inszeniert Philipp Stölzl den „Freischütz“ von Carl Maria von Weber auf der Seebühne in Bregenz. 

 

Ein verfallendes Dorf unter Hochwasser, die Hütten mit Schindeln gedeckt wie im Vorarlberger Hinterland, ein halb im See versunkener Kirchturm, die Baumskelette kahl, die Hügel eisig, über allem eine bleiche riesige Mondscheibe. Philipp Stölzl Bühnenpanorama erweckt schon pittoresk gruselige Assoziationen, bevor der erste Ton von Carl Maria von Webers Ouvertüre des „Freischütz“ erklingt, auch die szenische Aktion hat schon begonnen: Ein Totengräber am Werk, ein Gehenkter am Ast, ein Trauergeleit mit Gesang, vom Pfaffen angeführt, aus dessen Kutte sich ein teuflischer Komödiant schält: Samiel, der rote Jäger, der in einem Knittelvers-Prolog – „Das Dorf ist ein verfluchter Ort“ - die Personen des Sing-Schauerspiels vorstellt. Max, den Amtsschreiber, der Agathe, die Tochter des Erbförsters Kuno, heiraten will und dazu für seinen Probeschuss eine sichere Kugel braucht, die ihm Kaspar verschaffen kann, der mit dem Teufel im Bunde steht. Ernst kann der Regisseur den Romantik-Thriller aus dem frühen 19. Jahrhundert nicht nehmen, aber als schauerlich bildmächtige Moritat mit ironischem Zungenschlag und parodistischem Finale ist Philipp Stölzls Inszenierung spektakulär.  Der „See als Spiegel der Seele“, wie die scheidende Festspielintendantin Elisabeth Sobotka ihre letzte Seebühnen-Produktion apostrophiert, bleibt pure Behauptung. Wegen Samiels überbordendem Sprechtext wirkt Webers „Freischütz“-Musik eher als sekundäres Best-Of-Beiwerk. Was von Enrique Mazzolas Dirigat mit den Wiener Symphonikern aus den Lautsprechern kommt, ist farbig illustrativ, die sängerischen Leistungen sind hervorragend.

 

Stölzls Regie stellt mit der zwischen Mephisto und Hanswurst schillernden Samiel-Figur, die vom Schauspieler Moritz von Treuenfels quirlig und sprachgewandt dargestellt wird, einen Zeremonienmeister in den Mittelpunkt, der alle Fäden in der Hand hält. Bei Mauro Peters großer Arie „Durch die Wälder, durch die Auen“ sitzt er dem bedrängten Max auch körperlich im Nacken, während dieser in seiner Erinnerung an glücklichere Tage Agathe als Eisprinzessin in den Armen hält. Während Christoph Fischesser als Kaspar im nassen Unterholz sein „Die Rache gelingt“ schmettert, reitet Samiel mit einem Pferdegerippe den Pritschenwagen aus dem See, auf dem er neben Agathe im Gitterbett ihrer von Nikola Hillebrand wunderschön gesungenen Schlummer-Arie „Leise, leise, fromme Weise“ beiwohnt. Dass Agathe, wie sich später bei der Hochzeitskleid-Anprobe in der von Jan Dvorák und Stölzl modernisierten Dialogfassung herausstellt, schon im zehnten Monat schwanger sein soll, könnte sogar Assoziationen an „Rosemary’s Baby“ erwecken. Zu Katharina Ruckgabers Ännchen-Cavatine „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“ lässt Samiel einen Hollywood-Nixenreigen mit Lichterkränzen im Haar wassertanzen, zum Traum ihrer seligen Base streicht er das Cello-Solo unter der mit Friedenstaube flatternden Mondscheibe, und mit Kaspar im Wolfsschluchttümpel-Feuerkreis dirigiert er auf der Kirchturmspitze das ganze Dorf zum Hexensabbat.  Und diese Urszene des „Freischütz“ wird natürlich zum akustisch-pyrotechnischen Höllenspektakel: Da färbt sich die Mondscheibe teuflisch rot, da braust und gewittert es mächtig im Kino-Dolby-Sound, zu giftgrünen Nebeln waten Untote durchs Gesumpf, Maxens Mutter hebt sich aus dem geöffneten Sarg, und auf Kaspars Freikugeln-Zählerei folgt Samiels donnerndes Echo. 

 

Als Max mit der teuflischen Freikugel im Finale seinen Probeschuss absolviert, sinkt Agathe getroffen zu Boden, wird aber – „Den Heil’gen Preis und Dank / Sie hat die Augen offen“ – gleich wieder lebendig. Dass Stölzl, dessen Samiel viel lieber ein schauriges Ende hätte, Webers „lieto fine“ samt religiösem Brimborium nur mit Ironie begegnen kann, liegt auf der Hand. In der Mondscheibe wechseln Gotteslamm und Jesus am Kreuz, der Eremit als Deus ex machina erscheint im Gewand der Himmelskönigin im Strahlenkranz, steigt herab auf den feuerspeienden Drachen aus der Wolfsschlucht und entpuppt sich am Ende wieder als Samuel, das Teufelchen. Die Sumpfnixen umtanzen das Brautpaar im fürstlichen Prunkschlitten, die Scheinwerfergarben tanzen durch den Abendhimmel. 

 

20. Juli 2024

 

 

 

 

 Tanzerkundungen zwischen Hölle und Paradies

Zwei hochkarätige Uraufführungen von Roman Novitzky und David Dawson beim Stuttgarter Ballett

 

Großer Jubel bei der Premiere des Ballettabends „Novitzky / Dawson“ im Stuttgarter Opernhaus: Schon der Dreiteiler „The Place of Choice“ für die Solisten und das zwanzigköpfige Ensemble wurde begeistert applaudiert, aber vor allem die Choreographie des Engländers David Dawson, der mit „Symphony No.2 – Under the Trees‘ Voices“ zum ersten Mal ein Werk für das Stuttgarter Ballett schuf, bekam Ovationen. Die zwei jeweils einstündigen Stücke haben gute Chancen, nach ihrer Uraufführungsserie in den nächsten Jahren im Repertoire wiederzukehren.

 

Roman Novitzky, seit fünfzehn Jahren als Tänzer, später auch als Choreograph und Fotograf der Compagnie im Stuttgarter Ballett, ist seit dieser Spielzeit „Artist in Residence“ und lässt sich bei seinem neuen Ballett „The Place of Choice“ von Dantes „Göttlicher Komödie“ anregen. Die imaginäre Reise des mittelalterlichen Dichters durch die Totenreiche von Inferno, Purgatorio und Paradiso interpretiert Novitzky aus der Sicht des heutigen Menschen und verfährt in umgekehrter Reihenfolge: am Anfang steht eine harmonisch strukturierte, „paradiesische“ Welt, am Ende erwartet den Protagonisten, nachdem er durch ein „Fegefeuer der Möglichkeiten“ gegangen ist, eine beklemmende, verließartige Sphäre, die kaum Hoffnung übrig lässt. Unterstützt wird dieser Verlauf durch die vom Staatsorchester live gespielte Auftragskomposition „Falling Fields & Pixel Paths“ des amerikanischen Komponisten Henry Vega. Erst bewegt sich David Moore als Wanderer orientierungslos im Nebelreich des Unbekannten, doch wenn am Horizont ein farbiges Neonoval (Bühne: Yaron Abulafia) erscheint und weiß gekleidete Gestalten auftauchen, fügt er sich bald ein in die Harmonie ihrer ritualisierten Bewegungen. Eine Weile mändert das Paradies-Ensemble so vor sich hin, aus dem Orchestergraben klingen Barockzitate, Engelstänzerinnen werden hoch über den Köpfen ihrer männlichen Stützpartner vorbeigetragen, auch kurze Paaraktionen ereignen sich.

 

Dann wechselt das Bühnenbild mit vertikalen Lichtpfeilern in eine Sphäre, in der Moore auf eine in sich verhakte neunköpfige Gruppenformation trifft. Eckige Bewegungen und Krämpfe befallen den Protagonisten, ein Schatten verfolgt ihn, wie auch im „Paradiso“ und „Purgatorio“ scheinen Roman Novitzkys tänzerische Konstellationen von Gustav Dorés Illustrationen zu Dantes „Divina Commedia“ aus dem 19. Jahrhundert inspiriert. Weißer Rauch quillt aus dem Off, die Musik zitiert Schuberts „Der Tod und das Mädchen“, nach einem erschöpften Pas de deux mit Agnes Su ist David Moore bereit für die Prüfungen des Inferno. Posaunenstöße wie vor dem Jüngsten Gericht, Kapuzenmänner und schlangenartige Wesen in Lederröcken erwarten ihn, metallische Elektronikgeräusche klirren kettenartig in Vegas Komposition, die düstere Stimmung wird nur durch wenige Hoffnungsstrahlen erhellt. Das neue, ambitionierte Stück Roman Novitzkys wirkt mehr durch sein spektakuläres Bühnen- und Lichtdesign als durch seine illustrative Bewegungssprache, die auch die Frage des Titels nach dem „Platz der Wahl“ offen lässt.

 

David Dawsons tänzerische Karriere führte vom English National und Birmingham Royal Ballet zum Niederländischen Nationalballett, wo er mit Werken von George Balanchine und  Hans van Manen aus Neoklassik und Modern Dance, den er auch in William Forsythes Frankfurter Compagnie assimilierte, sein choreografisches Repertoire entwickelte. Der 52jährige britische Choreograph widmet sein neues sinfonisches Ballett der Erinnerung an John Cranko, seine „Symphony No.2 – Under the Trees‘ Voices“ mit der Musik des früh verstorbenen italienischen Komponisten Ezio Bosso ist ein ästhetisches Gesamtkunstwerk aus fluktuierendem Tanz, beweglicher Bühneninstallation und metamorpher Minimal Music, die von Mikhail Agrest und dem Staatsorchester bravourös dargeboten wird. Vier Paare gestalten den ersten Satz als Mosaik von kühnen Hebungen und Körperskulpturen, die Lichtbalken und Stofffahnen des weiß-grau-schwarzen Raums (Bühne: Eno Henze) verändern ihre Strukturen aus Diagonalen zu Parallelismen so unmerklich wie die Musik.

 

Im zweiten Satz sind es Friedemann Vogel und Elisa Badenes, Anna Osadcenko und Clemens Fröhlich, die den Reigen der sieben Paare anführen, im dritten Satz ist es ein Quartett mit Vogel als sprunggewaltigem, die Hände in Gegenbewegung nach oben und unten richtenden Solisten, im vierten Satz ein Pas de Trois mit Osadcenko, Jason Reilly und Martino Semenzato, der aus der Fülle der ständig wechselnden, auf Spitze getanzten Aktionen heraussticht. Dawson zitiert Cranko, zum Beispiel in den nach oben verschränkten Händen von dessen „Initialen“, oder in den artistischen Hebungen, die durch die Ästhetik von Yumiko Takeshimas transparent schwarzen Kostümen und den weißen Beinen der Tänzerinnen eine geometrische Körperlichkeit und Aura verleiht. Im Finale sind es wieder alle vierzehn Solistinnen und Solisten, die das vollendete Maß und die organische Entfaltung der Tanzkunst paradiesisch feiern.

 

 Asyl gestrandeter Existenzen

Tiroler Musicbanda Franui mit Hybridoperette “Hotel Savoy” im Schauspielhaus

 

Eine „Hybridoperette“??  Wie man unterschiedliche Stile und Genres zusammenmixt, darauf verstehen sich die Osttiroler Musicbanda Franui und ihr Leiter Andreas Schett seit dreißig Jahren auf originelle Art. Nun haben sie ein gutes Dutzend Operetten vornehmlich jüdischer Komponisten aus der Zeit zwischen den Weltkriegen durchforstet und ihre Hits mit einem Heimkehrer-Roman Joseph Roths aus dem Jahre 1924 zusammengebracht. Im „Hotel Savoy“ im polnischen Lódz hausen Menschen verschiedener Klassen und Ansichten, Arme und Reiche, Kapitalisten und Revoluzzer, Träumer und Gescheiterte. Sie begegnen sich im Varieté, und dort kommen auch ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte in den Schlagern der Operette zur Sprache, die von der Franui-Banda und einem achtköpfigen Sänger- und Schauspielensemble in zwei Dutzend Rollentypen doppelbödig auf die Bühne gebracht werden.

 

Zu Beginn steht Marco Massafra, barfuß im Unterhemd, allein auf der Bühne. Er ist der Kriegsheimkehrer Gabriel Dan, nach seiner Gefangenschaft in Sibirien steht er „wieder an den Toren Europas“, sein Monolog definiert ihn als den Ich-Erzähler aus Joseph Roths Roman, dessen psychologische und atmosphärische Tiefe freilich in dieser „Hybridoperette“ nur als Folie für die eingestreuten Gesangs-Hits dient. Der erste ist „Tanzen möcht‘ ich“ aus Emmerich Kálmáns „Czardasfürstin“, glänzend serviert von Josefin Feiler und Moritz Kallenberg, die von der benachbarten Staatsoper bei dieser musikalischen Revue im Schauspielhaus dabei sind. Kreisrund ist die Bühne von Ralf Käselau, ein Brechtscher Rundvorhang öffnet immer neue Perspektiven auf die Situation der Hotelgäste: hier sind es die abgehalfterte Varietétänzerin Stasia und der Böhlaug-Sproß Alexander, die sich eine Zukunft in Paris herbeiträumen. Sein Vater Phöbus, dargestellt von der mit Kissen als Fettwanst vollgestopften Josephine Köhler, die sich auch als Varieté-Chefin und Möchtegern-Revolutionärin profiliert, hortet Geld, mit dem er aber seinem armen Neffen Gabriel nicht unter die Arme greifen will. Da kommt der „Maxim“-Song aus Lehárs „Lustiger Witwe“ gerade recht, Kallenberg als Fabrikant in weißen Tutus geht nach getaner Aktienvermehrung ins Vergnügungsetablissement: „Da bin ich ganz intim / Ich duze alle Damen / Ruf sie bei Kosenamen…“

 

Nicht immer fügen sich Handlung und Operetten-Hits so ineinander, doch allein die musikalischen Arrangements von Andreas Schett und Markus Kraler sorgen mit ihrer hintergründigen Verfremdung für nachdenkliche Zwischentöne. Zu Lehárs „Ich hol‘ dir vom Himmel das Blau“ – das ist auch der Untertitel der Aufführung – scharen sich die Zukurzgekommenen um Fisch, den Lotterieträumer, dessen Text „Nichts auf der Welt / Leichter uns fällt / Als zu versprechen / Was man später doch nicht hält“ die Scheinhaftigkeit der Operettenseligkeit entlarvt. Inga Krischke, die Sally in der Stuttgarter Schauspielproduktion von „Cabaret“, erst zwei Tagen zuvor für die erkrankte Paula Skorupa eingesprungen, singt diese Ironie überzeugend mit etwas Musical-Allüre. Wie überhaupt alle Schauspieler ihre Songs facettenreich zur Darstellung bringen: Klaus Rohdewald als Gabriels Freund und Gefährte Zwonimir sein Lied vom Glück aus Leo Falls „Madame Pompadour“,  Marco Massafra mit ihm gemeinsam das melancholisch-utopische „Irgendwo auf der Welt“, Josephine Köhler ihr rotziges „Was kümmert mich die ganze Welt“, Boris Burgstaller als August der Esel die „Mehlspeis‘“ aus Benatzkys „Das kleine Café“ oder zusammen mit Gábor Biedermanns traurigem Clown Santschin das traurige „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände.“

 

Die Regisseurin Corinna von Rad inszeniert diese Szenenrevue der surrealen Sehnsüchte und schrägen Typen mit Gefühl für Zwischentöne und Hang zu Karikatur und Kabarett. Wo vor der Pause die hellsichtigen Monologe Gabriels und die Hotel-Episoden noch dramaturgisch wirksam ineinandergreifen, steigern sich die Ballszenen nach der Pause zum schrillen Tanz über dem Abgrund. Kontrastpunkte setzen Franui mit ihrer Trauermarsch-Prozession für den gestorbenen Clown Santschin, in der auch Mahler und Schostakowitsch musikalisch zitiert werden. Die geschichtliche Situation der Operettenkomponisten, die während der Nazi-Zeit aus Deutschland vertrieben oder im KZ umgebracht wurden, muss man sich freilich genauso dazu denken wie die Vielschichtigkeit des Romans von Joseph Roth. Als am Ende der als Retter ersehnte Milliardär Bloomfield aus den USA zurückkehrt in seine polnische Heimat, will Blumenfeld nicht investieren, sondern nur das Grab seiner Eltern besuchen. Aber: „Es sah aus, als wollte ein neuer Krieg ausbrechen.“ Und die Musiker von Franui singen hinter der Bühne ihr „Volkslied mit Flugzeug“.

 

26.Juni 2024

 

 

Schaurige Vignetten eines Schicksalsdramas

Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ neu inszeniert in der Stuttgarter Oper

 

Mit einer Neuproduktion des „Troubadour“ hat die Stuttgarter Staatsoper ihr Verdi-Repertoire erweitert, doch die Inszenierung in der Regie von Paul-Georg Dittrich mit den Bühnenbildern von Christof Hetzer wird vom Publikum sehr kontrovers aufgenommen. Während die musikalische Wiedergabe unter der Leitung von Antonello Monacorda mit einem hochkarätig besetzten Sängerensemble auch bei der zweiten Vorstellung verdienten Applaus erhielt, gab es im Opernhaus kräftige Buhs für das, was so alles szenisch auf der Bühne passiert. Dittrich und Hetzer arbeiten bei ihrem Dutzend von filmschnittartigen Tableaus, die jeweils bei heruntergelassenem Vorhang von Zitaten aus dem Libretto und Klangcollagen mit Gedichten und Traumtexten von Heiner Müller unterbrochen werden, mit sehr eigenwilligen Assoziationen, die ab und zu als Opernparodie gelten könnten. Was der Regisseur im Programmbuch zu seiner Inszenierung aus der Perspektive des Grafen Luna erläutert, wird auf der Bühne nicht eingelöst. 

 

Zwei Knaben begegnen sich vor dem wie von verbranntem Holz geschwärzten Vorhang: es sind die beiden Söhne des alten Grafen Luna, ihre brüderlichen Berührungen lassen nicht ahnen, in welch tödlicher Feindschaft sie sich später begegnen werden. Auf einem Kinderspielplatz beginnt der erste Akt, doch plötzlich verwandelt er sich in eine Folterszene: statt der Kinder dringt ein Männerchor auf die tunnelartig verengte schwarze Bühne, ihr Hauptmann Ferrando (Michael Nagl) erzählt die Geschichte vom Kindesraub jener Zingara („Zigeunerin“), deren Mutter einst vom alten Grafen als Hexe verbrannt worden war. Was aus dem Knäblein geworden sei? Seine Knochen wurden in der Asche des Hexen-Scheiterhaufens gefunden. Das ist nur ein Teil der Schauergeschichte, die der Librettist Salvatore Cammarano dem 40jährigen Verdi kurz nach seinem Erfolg mit „Rigoletto“ 1853 für „Il Trovatore“ verfasst hat. In Verdis Oper kommt die Vergangenheit wie bei guter Kolportage stückchenweise ans Licht. Leonora, von der Regie in eine weite weiße Schleppe gekleidet, erzählt von ihrer Liebe zu einem unbekannten Troubadour, der ihr bei einem Turnier vor Beginn des Bürgerkriegs begegnet ist. Im Gegenlicht des Bühnentunnels erscheint ein Cowboy, unter der weggezogenen Schleppe kommt ein Pferdekadaver zum Vorschein. Welche Assoziationskette der Regisseur damit in Gang setzen will? Ein weiterer Cowboy taucht auf, es ist der junge Graf Luna, der Leonora begehrt und nun auf Manrico, den Troubadour, trifft. Zwei Cowboys, vier Revolver, und auch Leonora zieht einen unter ihrer Schleppe aus dem Strumpfband hervor. Selene Zanettis vibrationsschwankende Cabaletta geht im Gebrüll der beiden Rivalen unter, Ernesto Petti (Luna) und Atalla Ayan (Manrico) werden im Verlauf der nächsten zweieinhalb Stunden noch viel Gelegenheit haben, ihre baritonalen und tenoralen Qualitäten ins beste Licht zu rücken. Aber Luna knallt schon mal beim Abgang von der Bühne beide ab – eine perspektivische Vorwegnahme des Endes?

 

Die Enthüllung der Vergangenheit komplettiert Azucenas Geschichte: dazu wechselt die Inszenierung ins Milieu der Zirkusakrobaten, von denen im Libretto zwar keine Rede ist, die aber von der Regie im Weiteren auch als Doppelgänger der Hauptprotagonisten eingesetzt werden. Die „Gitana“ (das Programmheft vermeidet den Begriff „Zigeunerin“) erzählt ihrem Sohn, während die sechs Akrobaten-Statisten munter auf dem Klettergerüst herumturnen, vom Schicksal ihrer beiden Söhne: des eigenen, den sie in ihrer Verwirrung statt des entführten Grafensprösslings ins Feuer geworfen habe, und von Manrico, den sie zur Rache an Luna in Liebe aufgezogen hat. Kristina Stanek ist mit ihrem glutvollen Mezzosopran sängerisch und darstellerisch eine Wucht und von hier aus - auch mit der musiktheatralisch und klanglich packenden Wiedergabe durch Monacorda und das Staatsorchester - könnte die Stuttgarter Aufführung durchaus Fahrt aufnehmen, so verwickelt und berüchtigt das Libretto auch ist. Doch Paul-Georg Dittrich nimmt den Umweg über die Parodie: Die Klosterszene grenzt schon ans Kabarett, die Gefangennahme Azucenas und die Liebesszene zwischen einer Barbie-erblondeten Leonora und einem Manrico als Ken im Maisfeld zwischen gefledderten Soldaten aller Epochen von römischem Brustpanzer bis zu Knobelbechern, sind Gag-Travestie. Schade, denn Azucena/Staneks „Stride la vampa“ (Lodernde Flammen), Ernesto Pettis hinreißend gesungene Luna-Arie „Bala del suo sorriso“ (Ihrer Augen himmlisches Strahlen), Manrico/Ayans Stretta „Di quella pira“ (Von diesem Scheiterhaufen) oder sein Duett mit Leonora/Zanettis „Al nostri monti“ (Zu unseren Bergen) sind sängerische Higlights des Abends. Erst im Finale findet die Inszenierung zu einer Ernsthaftigkeit zurück.

 

13. Juni 2024

 

 

 

 

 

Ruin einer Paradiesstadt

Premiere von Bertolt Brechts und Kurt Weills „Mahagonny“ gefeiert im Stuttgarter Opernhaus

 

Lauter Jubel nach der Premiere von „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in der Stuttgarter Oper: Das Staatsorchester mit Cornelius Meister auf der Bühne, davor Opernchor und Statisterie, das Sängerensemble und das Regieteam, alle wurden enthusiastisch gefeiert nach einer opulenten Aufführung der Anti-Oper von Bertolt Brecht und Kurt Weill, die in ihrer Entstehungszeit Ende der „Goldenen Zwanzigerjahre“ des letzten Jahrhunderts als Parabel gegen rücksichtslose Selbstermächtigung und hemmungslosen Kapitalismus Furore machte. 

 

Brecht und Weill haben den satirischen Bilderbogen über das grenzenlose Konsumparadies Mahagonny während ihrer Arbeit an der „Dreigroschenoper“ konzipiert, die Uraufführung 1930 in Leipzig war ein Theaterskandal, an dem auch Nazi-Störer beteiligt waren. Nichts davon in der ausverkauften Premiere in der Stuttgarter Oper, wo die Regisseurin Ulrike Schwab die Mischung aus Songnummern, Schauspiel und Oratorium, mit dem groß besetzten Orchester auf der Bühne, als bunte Show auf einem Bodentuch mit der Abbildung von Michelangelos „Jüngstem Gericht“ mit einem Laufsteg mitten zwischen die Zuschauer im Parkett inszeniert. Lichtergirlanden sind von der Kuppel zu den Seitenlogen gespannt, von dort agieren auch zu Beginn die Glücksucher-Kumpane der Witwe Begbick, die zusammen mit der Hure Jenny mitten im Nirgendwo die Paradiesstadt Mahagonny gründet. Das Geschäft floriert, bald kommen auch Jim Mahoney und seine Goldsucher aus Alaska mit dem Ruderboot an, und Jenny wird sein Girl. 

 

„Where shall we go?“ heißt es im Benares-Song, den Jenny und Begbick, die auch als Erzählerinnen durch das Stück führen, am Anfang des Abends vor dem Eisernen Vorhang singen. Der Weg führt zunächst nach oben, doch Jim wird nicht glücklich in Mahagonny, „weil zu viel Ruhe herrscht und zu viel Eintracht / und weil’s zu viel gibt, woran man sich halten kann.“ Als ein Taifun die Stadt bedroht und in einem grandiosen musikalischen Quodlibet der Choral der Stadtbewohner („Haltet euch aufrecht, fürchtet euch nicht!“) mit Jennys „Oh Moon of Alabama“ kontrapunktiert wird, verkündet Jim ein neues Gesetz: Nichts ist verboten, jeder darf alles – nur wer kein Geld hat, dem droht die Todesstrafe. Jims Motto und Brechts Radikalkritik am Kapitalismus: „Denn wie man sich bettet, so liegt man / Es deckt einen keiner da zu. / Und wenn einer tritt, dann bin ich es / Und wird einer treten, dann bist’s du.“ Und in typisch Brechtscher Dialektik fragt er: „Was ist der Taifun an Schrecken gegen den Menschen, wenn der seinen Spaß will?“

 

Kurt Weills Orchestersound ist angereichert mit Saxophonen, Klavier, Harmonium, Banjo, Bassgitarre und Bandoneon, der Musik-Mix aus Oper, Kabarett, Jazz und Music Hall, garniert mit Klassikparodien, Shanty und Tristan-Akkord, wird von Cornelius Meister und dem Staatsorchester fast zu kulinarisch dargeboten. Schräger und schriller klingen die von Manuel Pujol bravourös einstudierten Chöre, die in den beiden Akt-Finales überwältigen. Sängerisch beeindrucken Alisa Kolosova als Begbick und Ida Ränzlöv als Jenny restlos, darstellerisch fehlt ihnen einiges an Bosheit und Sinnlichkeit eines „Duo infernale“, wie es die Regisseurin im Programmheft apostrophiert. Elmar Gilbertsson und Joshua Bloom als Fatty und Dreieinigkeitsmoses sind als Ganoventypen gut getroffen (Kostüme Rebekka Dornhege Reyes), Kai Kluge singt seinen Naturburschen Jim Mahoney betörend schön.  Auch seine Kumpels Jack (Joseph Tancredi), Bill (Björn Bürger) und Joe (Jasper Leever) agieren überzeugend im unterhaltsamen Regiekonzept, nur die Sex-Mädchen von Mahagonny sind allzu brav und farblos inszeniert. 

 

Nachdem der Taifun vorbeigezogen und stattdessen der Kapitalismus-Hurrikan mit Fressen, Saufen, Boxen und Liebe-Machen wütet (mit einer publikumsglucksenden Verführungsnummer eines Mitspielers aus dem Parkett), kann Jim seine Schulden nicht bezahlen: Selbstverschuldet wird er angeklagt, wegen Geldmangels wird er zum Tode verurteilt. Hier steigert Weill noch einmal alle Elemente seiner raffiniert vielschichtigen Partitur zu größtmöglicher Wirkung, vor einem wölkchenblauen, menschenleeren Michelangelo-Himmel (Bühnenbild Pia Dederichs und Lena Schmid) folgt ein apokalyptisches Endspiel. Jenny knallt, von Paukenschlägen begleitet, alles ab, was ihr vor den Revolver kommt, dazu erklingt Brechts doppelsichtiger Choral-Limerick: „Lasst euch nicht verführen, / es gibt keine Wiederkehr. / Der Tag steht vor den Türen, / ihr könnt schon Nachtwind spüren, / es kommt kein Morgen mehr.“ Doch das ist noch nicht das letzte Wort, auch nicht der letzte Satz des Librettos: „Können uns und euch und niemand helfen.“  Ulrike Schwab setzt Ränzlöv (Gitarre) und Kolosova (Schlagzeug) zum Epilog mit „Oh When The Saints Go Marching In“ vor den Vorhang: ein melancholischer Abgesang auf die Utope einer besseren Welt. 

 

22. Mai 2024

Alptraum der Entfremdung vom Ich

Lucia Ronchettis Oper „Der Doppelgänger“ bei den SWR Schwetzinger Festspielen uraufgeführt

 

Mit der Uraufführung von Lucia Ronchettis Oper „Der Doppelgänger“ sind am Wochenende die Schwetzinger Festspiele 2024 eröffnet worden. Bis zum 25. Mai werden in den barocken Räumlichkeiten des Schwetzinger Schlosses, sowie beim Sonderkonzert mit Monteverdis „Marienvesper“ im Dom zu Worms, in 47 Veranstaltungen internationale Musiker und Ensembles zu Gast sein.

 

 „Der Doppelgänger“ basiert auf einer Novelle Fjodor Dostojewskis aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die von der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Katja Petrowskaja in Zusammenarbeit mit Lucia Ronchetti zu einem Libretto verarbeitet wurde. In die Bühne des Rokokotheaters hat Bettina Meyer einen überdimensionalen Container mit beweglichen Kammern installiert, in denen die Figuren wie eingesperrt agieren. Jakow Petrowitsch Goljadkin ist ein in seiner Identität verunsicherter Büroangestellter, der vom sozialen Aufstieg träumt und an der Wirklichkeit scheitert. Die Musik, vom SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Tito Ceccherini in kammermusikalischer Besetzung mit solistischen Bläsern und viel Schlagwerk ausgeführt, zeichnet die psychischen Zustände dieser Figur und ihre Wahrnehmung der Außenwelt sensitiv auf: wenn Goljadkin aus schweren Träumen erwacht, wechselt der Klang vom Herzschlagpochen zu den Geräuschen St. Petersburgs, welche die Komponistin gesampelt und musikalisch transkribiert hat. Doch neben atmosphärischen Zitaten sind es vor allem die mit Clustern gespickten Schockmomente, die Goljadkins Konfrontationen mit der Realität abbilden.

 

Der Arzt Rutenspitz (Robert Maszl), den er wegen seiner Ängste konsultiert, die Begegnungen mit seinem Vorgesetzten (Vladyslav Tlushch), die Auseinandersetzungen mit seinem Diener (Zvi Emanuel-Marial), die Ablehnung durch die Gesellschaft sind solche Momente, in denen Ronchettis instrumentale Charakterisierung stark beeindruckt. Der Bariton Peter Schöne zeigt Goljadkin sängerisch differenziert bis in Kopfstimme-Höhenregister – nur dass er, wie auch die anderen Figuren, häufig vom Gesang und Sprechgesang zum monologischen Sprechen wechselt, welches vom Orchester im Stil eines Melodrams begleitet wird. Diese Mischung aus Sprechtheater und Oper ist trotz der poetischen Sprache des Librettos, die ihre eigene Musikalität besitzt, nicht immer überzeugend. Goljadkins Doppelgänger (Christian Tschelebiew) – die Inszenierung von David Hermann lässt offen, ob es sich dabei um eine Halluzination oder um eine surrealistische Parabel handelt – steht jedenfalls mit seiner nüchternen Sprechrolle im Gegensatz zum entfremdeten Ich der auch sängerisch agierenden Hauptfigur, die sich zwischen Wahn und Wirklichkeit selbst auflöst und am Ende in der Psychiatrie landet. 

 

Alle Figuren im Stück außer Goljadkin sind maskenhaft starr geschminkt, das gilt auch für Klara, die Tochter des Direktors (Olivia Stahn), der Lucia Ronchetti einige ariose Stellen in die Partitur schreibt. Wie im Beruf ist auch in der Liebe der Doppelgänger Goljadkins anscheinend erfolgreicherer Konkurrent, was schließlich zum Identitätsverlust führt und Dostojewskis traurigen Helden am Ende zu der Erkenntnis führt: „Ich bin nicht ich, sondern jemand ganz anderer, der mir verblüffend ähnlich sieht.“  - Nach der vom Publikum lautstark applaudierten Uraufführung bei den Schwetzinger Festspielen wird das Stück vom Luzerner Theater als Kooperationspartner in einer Vorstellungsserie im Herbst auf die Bühne gebracht.

 

28. April 2024

Psychothriller im Orchestersturm

Bravouröse „Elektra“ mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern bei den Osterfestspielen Baden-Baden

 

 „Agamemnon! Agamemnon!“: Sechsmal gellt der Ruf Elektras in ihrem Monolog am Anfang der Musiktheater-Tragödie von Richard Strauss aus der Tiefe ihrer traumatischen Erinnerung, ebenso ist ihr wiederholter Schrei beim Erkennen des Bruders Orest vor dem grausigen Finale einer der dramatischen Kristallisationsmomente des Stücks. Wie Nina Stemme in der grandiosen Aufführung zur Eröffnung der Osterfestspiele in Baden-Baden ihre Elektra in diesem auch szenisch überragenden Psycho-Schocker gestaltet, und wie Kirill Petrenko mit seinen Berliner Philharmonikern alle Facetten der mörderischen Strauss-Partitur in orchestraler Brillanz ausreizt, das macht diese Produktion in der Regie von Philipp Stölzl und Philipp M. Krenn zum höchst beeindruckenden Ereignis.

 

Ein verblüffender Gedanke packt Text und Musik der Oper von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss unmittelbar bildhaft zusammen. Auf den mauerartigen Stufen in dem hermetischen schwarzen Guckkasten von Stölzls Bühne erscheinen die Worte und Sätze des Librettos in Video-Projektionen, so wie sie aus den Sängern herausquellen, wie ein Menetekel der Tragödie. Hofmannsthals symbolistischer Schauspiel-Text war 1903 in der Regie von Max Reinhardt in Berlin auf die Bühne gekommen, Strauss sah das Stück zwei Jahre später, bald darauf begann die gemeinsame Arbeit an der Oper, der fünf weitere Musiktheaterwerke vom „Rosenkavalier“ bis „Arabella“ folgten. Als „Elektra“ 1909 in Dresden uraufgeführt wurde, änderte diese Auseinandersetzung mit dem Mythos der Orestie den Blick auf das klassische Griechenland radikal. Statt der Humanität von Goethes „Iphigenie“ entstand unter dem Einfluss Nietzsches und der Psychoanalyse Sigmund Freuds ein dionysisches, in seelische Abgründe leuchtendes Bild der Antike. 

 

Der Alptraum ihrer Kindheit, als sie den Mord Klytämnestras an ihrem Vater Agamemnon miterlebte, prägt mit Hass und Rachephantasien die Psyche Elektras: während die Mägde im Prolog der Oper die äußeren Umstände der Erniedrigung im Hause ihrer Mutter im schrillen Quintett zur Sprache bringen, fristet sie unter der Treppe ihr Dasein. Auch in der Auseinandersetzung mit ihrer Schwester Chrysothemis und ihrer großen Szene mit Klytämnestra werden die äußeren und inneren Machtverhältnisse visuell deutlich: Stufe um Stufe arbeitet sich die in ihrem Treppenverlies gebückt Hausende nach oben, und Nina Stemmes glutvoller Sopran wird von Petrenko von unerhört wilden Orchesterfarben getragen. Allein 40 Bläser, dazu die dreigeteilten Violinen und Bratschen erzeugen im atemberaubenden Spiel der Berliner Philharmoniker eine Art psychischer Polyphonie, die unter die Haut geht. Elza van den Heevers Chrysothemis umgibt eine weichere, gefühlvollere Aura: sie will Leben und Glück, „Kinder will ich haben!“, bis zum Ende ist sie mit ihrem lichten Sopran die melodiöse Gegenspielerin ihrer dunklen, ekstatischen Schwester. 

 

Michaela Schusters Klytämnestra ist die schuldbeladene, innerlich zerrissene Herrscherin von Mykene, ihr schauriges Gespräch mit Elektra schillert in Petrenkos subtil nuancierter Interpretation zwischen trügerischem Fis-Dur und tragischem h-Moll, während in der berührenden Erkennungsszene mit Orest das Orchester in As-Dur aufblüht und Elektras orgiastischer C-Dur-Tanz nach der Tötung Klytämnestras und Aegisths vom morbiden es-Moll verschlungen wird. „Ich habe Finsternis gesät / Und ernte Lust über Lust. / Ich war ein schwarzer Leichnam / unter Lebenden, und diese Stunde / bin ich das Feuer des Lebens und meine Flamme / verbrennt die Finsternis der Welt“. So singt Nina Stemmes blitzender Sopran, nachdem Orest (Johan Reuter) Elektras Rache vollendet hat. Doch die in goldgelb und himbeerrosa eingefärbten Mauerstufen, auf denen ihr trügerischer Triumph in Riesenlettern aufscheint, sind ein ironischer Kommentar zum blutigen Ende der Geschichte. 

 

25. März 2024

Erlösung vom Nichts im Bewusstsein des Sondern

Bernhard Langs Musiktheater „Dora“ mit dem Libretto Frank Witzels als Uraufführung in der Stuttgarter Oper

 

Es ist lange her, dass es in der Staatsoper Stuttgart ein zeitgenössisches Musiktheater von einer solchen kreativen Qualität und packenden Vielschichtigkeit gab wie bei der Uraufführung von Bernhard Langs „Dora“. Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ war 2001 ein Meilenstein klangschöpferischer Erkundungen, Mark Andres „Wunderzaichen“ 2014 ein Ausloten feinster Klänge zwischen Realität und Metaphysik. Nun lässt der Autor Frank Witzel in einer total säkularisierten Gegenwart den Teufel höchstpersönlich auftreten und zwei junge Menschen ins Verderben stürzen, und der österreichische Komponist Bernhard Lang schreibt dazu eine mit Zitaten anspielungsreiche Musik, die mit ihrer rasanten Direktheit unter die Haut geht.

 

„Who the hell is Dora?” war im Stuttgarter Stadtraum schon Wochen vor der Uraufführungs-Premiere auf Plakaten zu lesen, auch die deutsche Übersetzung „Wer zum Teufel ist Dora“ ist Einstieg in die Thematik und offene Frage zugleich, die auch am Ende des eindreiviertelstündigen Opernabends unbeantwortet bleibt. Ja, die Hauptfigur des fünfaktigen Dramas ist eine junge Frau Mitte Zwanzig, sie lebt in ihrer Familie in der Eintönigkeit ihres Alltags in einer kaputten Industrielandschaft, was sie trotz ihrer inneren Distanz zur Realität wortmächtig reflektiert: „Die Ödnis gibt nichts her. Sie sickert durch alle Wände … Ich hoffe nur, die Ödnis hat sie bald endgültig zu Staub pulverisiert. Vater, Mutter, Bruder, Schwester.“ Und die im Stil eines Chors in der antiken Tragödie auftretenden Neuen Vocalsolisten kommentieren die zivilisatorische Leere dieser Figuren ironisch: „Die neue Welt. Der neue Mensch. Kurz und klein, in Stücke geschlagen.“ Aber ob es für Dora am Ende des pausenlosen, eindreiviertelstündigen Abends eine Zukunft gibt, bleibt offen.

 

Der musikalische Beginn des Stück ist schockartig: mit ohrenbetäubendem Paukenschlag und massivem Schlagwerk von den Logen wird das Chaos der Welt beschworen, bevor sich die dreizehn Figuren, vor einer weißen Wand nebeneinander auf der Bühne sitzend, dem Publikum präsentieren. Josefin Feilers Eingangsmonolog zeigt schon in den riesigen Intervallsprüngen und messerscharfen Vierteltönen die psychische Zerrissenheit („als würde ich mich selbst zerfressen“) ihrer Dora, die sie durch Härte kompensiert: singdarstellerisch ist Feiler unglaublich differenziert, ihre bravouröse Leistung wird am Ende mit Ovationen gefeiert. Die Mutter, als blonde Barbie-Puppe kostümiert (Maria Theresa Ullrich), der rustikale Vater (Stephan Bootz), die kleine Schwester (Shannon Keegan) und der flausige Bruder (Dominic Große) repräsentieren die Kleinbürgerfamilie, doch hinter ihrem Geschwätz entlarvt die Musik mit Zitaten aus der Operngeschichte ihre heillosen Widersprüche. Die Arpeggien aus der Nornenszene von Richard Wagners „Götterdämmerung“ signalisieren Bedrohliches, die „Elektra“-Cluster von Richard Strauss weisen auf das Widerständige der beiden Schwestern, wie Jung-Siegfried tönt das „Ich wird’s euch zeigen!“ des Bruders. Wenn Bernhard Lang im 2. Akt Mephisto mit einem Zitat aus der Goldarie in Charles Gounods „Faust“ auftreten lässt, ist das so schlüssig wie Verdis „Otello“-Zitat bei dessen Lügengeschichte gegenüber Berthold (Elliot Carlton Hines), der dessen Eifersucht anstachelt. 

 

Wenn Dora bei Nacht durch Voodoo-Zauber den Teufel (Marcel Beekman) beschwört, erscheint der zunächst als Beamter, in der Szene mit dem unglücklich in Dora verliebten Berthold (mit einem musikalischen Zitat aus Schuberts „Die schöne Müllerin“) verwandelt sich Valentin Köhlers Bühne in ein Gerippe von Aktenregalen, in denen der Chor mit Taubenkopfmasken herumgeistert. Elisabeth Stöpplers Regie ist voll überraschender Einfälle, im fünften Akt lässt sie den Teufel in der Mephisto-Maske von Gustav Gründgens auftreten, der beim versuchten Suizid im Dorfteich hirngeschädigte Berthold schwebt mit Rollstuhl im Madonnengewand vom Bühnenhimmel herab, und nun beginnt ein sprachlich und musikalisch ungeheuer vielschichtiger Dialog zwischen einer ratlosen, an ihrer Existenz verzweifelnden Dora und dem um keine philosophisch-ironische Antwort verlegenen Teufel. Statt einem „Entweder-Oder“ erkennt Dora in dessen Motto „Des Schicksals Wege sind verworren / und ist die Hoffnung erst verdorren / sehnt man herbei, was man verwarf“ die Möglichkeit eines Lebenssinns: nicht aufgeben, sondern …. Dieses „Sondern“, das der sprachgelähmte Berthold und der Chor in wechselnden Silben neu zusammensetzt, mit Wagners Liebes-Erlösungs-Motiv vom Schluss der „Götterdämmerung“ im Hintergrund, prangt am Ende über den Köpfen von Dora und Berthold in großen Lettern auf der weißen Wand. Zum Schlagwerkkampf, mit dem Bernhard Lang den Bogen zum Anfang schließt, sitzen Josefin Feiler und Elliot Carlton Hines in weiter Distanz voneinander an der Rampe, blicken zueinander, blicken stumm ins Publikum, das Saallicht geht an.

 

Langs Synthesizer-begleitete Loops und musikalischer Mosaik-Mix, in dem auch die Stimmungen der kaputten Familie, der nächtlichen Teufelsbeschwörung, der beklemmenden Bürokratur in mahlender Mechanik und explosiver Motorik eingefangen werden, wird vom solistisch besetzten Staatsorchester unter der Leitung der australisch-schweizerischen Dirigentin Elena Schwarz mikroskopisch genau artikuliert. Die sängerischen Leistungen der fünfzehn Mitwirkenden, allen voran Josefin Feilers doppelbödige Dora und Marcel Beekmans grell-ironisch palavernder Mephisto, sind superb, und Elisabeth Stöpplers Regie setzt die vieldeutigen Aspekte von Witzels und Langs Musiktheater pointiert in Szene. Unbedingt sehenswert!

 

4. März 2024

 

 

Barockmusik mit grünen Fröschen

Eric Gauthiers Musiktheater-Kreation „La Fest“ in der Stuttgarter Oper

 

Es ist zwar noch nicht Silvester, doch überall an den Geländern hängen Trauben von silbernen Luftballons, die von dienstbaren Geistern geschäftig an- und abgehängt werden. Mitten im Foyer lädt schon vor der Vorstellung eine lange Tafel mit Plastik-Hummer und anderem Getier zum Verweilen ein, an einer „La Fest“-Fotowand kann man Selfies zum Posten machen, und manche Besucher haben sich schon mit Kostüm-Accessoires oder Puderbäckchen à la Commedia auf die „Feier des Lebens“ eingestimmt, die Eric Gauthier in der Stuttgarter Oper angerichtet hat. Als sich Punkt 18 Uhr die Türen öffnen, strömt eine erwartungsvolle Menge ins Parkett und auf die Ränge. Auf der Bühne von Susanne Gschwender probt noch ein Orchester im Hintergrund im Musikpavillon, ein hölzerner Schwan wird hereingefahren, ein Graubär mit Rokoko-Halskrause schaut ein paar Tänzern beim Aufwärmen zu. Dann tritt Gauthier in Aktion: Er habe sich im Beginn der Vorstellung vertan, daher noch in Alltagsklamotten, aber er könne ja schon mal einige der Sänger auf die Bühne holen, die auch noch unaufgeräumt aussieht. Natürlich Fake, jetzt beginnt der inszenierte Prolog oder 1. Akt: Einander erstmal bisschen kennenlernen, wie das ja bei Partys so üblich ist. Dazu animiert Eric Gauthier das Publikum zu einem Atem-Sing-Crash Course mit dem Opernstudio-Tenor Alberto Robert, es gibt Smalltalk mit den Sängern des Haupt-Acts und Kostproben ihrer Partien, man kann auch Gebärdensprache und Sing-Along mit dem Staatsopernchor üben und darüber abstimmen, ob der Dirigent Benjamin Bayl im Frack oder Elton-John-Bluse auftreten soll. Das alles dauert fast eine Stunde, und trotz des bekannten Charmes des Kanadiers, der im Theaterhaus die Gauthier-Dance-Abende ähnlich plaudernd einleitet, freut man sich auf die Pause und bleibt immer noch neugierig auf das, was jetzt kommen soll – „La Fest“.

 

Es ist – so das Handlungsgerüst der „Musiktheaterkreation mit Arien, Ensembles, Chören und Tänzern“ – die imaginierte Geburtstagsparty einer alten, einsamen Frau im Rollstuhl, die beim Pedi- und Maniküren an die schönsten Feiern ihres Lebens zurückdenkt. Wenn der Vorhang aufgeht, sitzt das Staatsorchester in einer TV-Show-ähnlichen Konzertschnecke, vom blaugrün kellnermäßig ausstaffierten Chor (Kostüme: Gudrun Schretzmeier) werden umständlich Tische aufgestellt und eingedeckt. Nach der noch holprig gespielten Ouvertüre zu einer Rameau-Oper wird die musikalische Performance – immerhin sind im barocken Continuo des 40köpfigen Staatsorchesters Theorbe, Gambe, Harfe und Cembalo dabei – mit Vivaldi, Purcell, Broschi, Campra, Caldara u.a. griffiger, insgesamt über dreißig Musiknummern haben Gauthier und Bayl in ihrem eindreiviertelstündigen Party-Pasticcio verarbeitet. Überragend sind die sängerischen Leistungen an diesem Abend, aber nur selten sprühen auch szenisch die Funken. Diana Haller – aus ihrer Gruftie-Diva bald zur properen Hosenrolle, später zur kanariengelb gewandeten Ballkönigin verjüngt – singt ihre Arien und Duette so makellos wie Claudia Muschio die ihren. Auch Natasha Te Rupe Wilson (Sopran), Yuriy Mynenko (Countertenor), Yannis François (Bariton) und Alberto Robert brillieren in ihren virtuosen Arien, deren Texte oft barocke Leidenschaften und Emotionen zum Thema haben.

 

Eric Gauthier gibt sich viel Mühe, Musik mit Aktionen zu verknüpfen. Ein kleines Mädchen reicht Diana Haller eine Geburtstagstorte mit sechs Kerzen, mitten im Partyrausch steigt sie aus einer riesigen Hochzeitstorte und feiert mit Partnerin. Wenigstens die Eifersuchtsgeschichte mit Muschino und François ist gefällig inszeniert und macht den beiden Singdarstellern ganz offensichtlich Spaß, aber die Partyspiele (Flüstertelefon, Flaschendrehen, Reise nach Jerusalem) sind läppisch. Das High-Werden von Drogen und Fröscheablecken steigert sich zum Rave-Abtanzen, dessen Katzenjammer mit Gewitterkrachen und Bombendonner einhergeht. Was bei Eric Gauthiers „La Fest“ besonders überrascht, ist, dass ihm choreografisch kaum etwas einfällt. Außer einem fabelhaften Breakdancer, der für seine wirbelnden Bodenrotationen Extra-Beifall bekommt, sind die Tänzer meist Statisterie. Wenn das kleine Mädchen am Ende noch einmal mit der 6-Kerzen-Geburtstagstorte, Charlie Chaplins „Smile“ singend, auftritt und den Rollstuhl hereinfährt, in dem sich Diana Haller zur Ruhe setzt, ist das ein sentimentaler Schluss. Kaum war der Jubel des Publikums (mit einigen Buhs für die Regie) verklungen, begann der „After-Show-Lounge“ mit DJ Jae auf der Bühne des leeren Opernhauses. Nur noch wenige tanzten zwischen den Stuhlreihen im Parkett.

 

5. Dezember 2023

Liebestragödie im Bücheruniversum

Robert Carsen inszeniert Jules Massenets „Werther“ bei den Herbstfestspielen in Baden-Baden

 

Nur noch zwei szenische Produktionen bietet das Festspielhaus Baden-Baden pro Spielzeit, doch gegenüber den in früheren Jahren eher mittelmäßigen Inszenierungen ist die musiktheatralische Qualität der Opernaufführungen in dieser Saison hochkarätig. Bei den Osterfestspielen war Richard Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“ mit den Berliner Philharmonikern unter Kyrill Petrenko in der Lydia-Steier-Inszenierung ein beziehungsreiches Fest für die Sinne, nun hat der kanadische Regisseur Robert Carsen Jules Massenets „Werther“ nach dem Briefroman von Goethe bei den Herbstfestspielen als Literaturoper (in Koproduktion mit der Opéra National de Paris) eindrucksvoll bebildert. Und Thomas Hengelbrocks musikalische Interpretation mit dem Balthasar-Neumann-Orchester unterstützt das Psychodrama um Werther und Charlotte mit feinsten klanglichen Valeurs.

 

Lesende sind der Ansatzpunkt in Carsens Inszenierung. Mit ihnen bevölkert er den riesigen, der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek nachempfundenen Lesesaal des Bühnenbildners Radu Boruzesku auf allen vier Etagen, und alle lesen den rot eingebunden „Werther“. Wenn Jonathan Tetelman in dieser Rolle auftritt und der Kinderschar des Amtmanns begegnet, der mit ihnen schon im Mai Weihnachtslieder („Noël“) einübt, dann zieht auch er ein Exemplar des Goethe-Romans aus dem Regal und beginnt zu lesen – was bei diesem Tenor natürlich Singen bedeutet. Seine ersten Verse, seine Hymne auf die paradiesische Natur im Frühling, in Werthers Briefen auf Walheim bezogen, hier ist es erst Zitat. Dann beginnt er sich zu identifizieren mit der Rolle, als er Charlotte begegnet. In diesem ersten Akt der Liebestragödie gelingt es Massenet, dem Zeitgenossen Puccinis (seine Oper „Werther“ wurde 1892 uraufgeführt) wunderbar, die schwärmerische Gefühlsintensität des jungen Träumers in musikalische Sehnsuchtsmotive zu übersetzen. Und Jonathan Tetelman, der neue chilenisch-amerikanische Star am internationalen Opernhimmel, singt sie mit seiner hell timbrierten, wie von Tränen benetzten Spinto-Tenorstimme atemberaubend schön.

 

Kate Lindseys Charlotte ist fühlbar angezogen von diesem jugendlichen Schwärmer, ihre erste Begegnung inmitten der Bücher und über die Galerien der Bibliothek verheißt Annäherung, doch Charlotte ist mit dem bieder rechtschaffenen Albert (Nikolai Zemlianskikh) verlobt. Am klassischen Konflikt von Pflicht und Neigung wird diese Liebe auf den ersten Blick zerbrechen. In den drei Folgeakten, nun mit Albert verheiratet und auf die Rückkehr Werthers an Weihnachten hoffend, kann Lindsey den Zwiespalt ihrer Gefühle sängerisch und darstellerisch packend zum Ausdruck bringen, als Gegenfigur ist Elsa Benoits Sophie als Lottes jüngere Schwester fröhlich naiv gezeichnet. In den Augenblicken höchster Erregung entfacht Tetelman gleißende Tenor-Fortissimohitzegrade, Werthers Seelenqualen zeichnet er sehr nuanciert. 

 

Hengelbrock gestaltet die Entwicklung bis zum tragischen Ende mit seinem in Originalklang musizierenden Balthasar-Neumann-Orchester ungeheuer spannend und nuanciert auf. Die Regie findet dafür klare, überzeugende Bilder: Wenn Werthers Hoffnungen erlöschen und seine Briefe immer verzweifelter werden, fallen die von den Lesenden herausgerissenen Buchseiten wie Blätter im Herbst zu Boden; in der letzten Szene bettet Charlotte den sterbenden Werther auf einem riesigen Bücherberg in ihre Arme. Die Regale sind leer, ein unerfüllter Lebensroman ist zu Ende, pseudoreligiös verbrämt von einem am Schluss eher kitschig-sentimentalen Libretto, das auch Massenets Musik nicht retten kann.             

Der Fluch des Jagdhorns

Bregenzer Festspiele eröffnen mit Giuseppe Verdis „Ernani“ und den Wiener Symphonikern

 

In ihre 77. Saison sind die Bregenzer Festspiele mit einer der heute selten gespielten Opern Giuseppe Verdis gestartet. In diesem Jahr macht die Haus-Premiere den Anfang, am gestrigen Abend folgte die Wiederaufnahme von Puccinis „Madame Butterfly“ auf der Seebühne, deren Premiere 2022 wegen Regen abgebrochen und konzertant im Festspielhaus zu Ende gebracht wurde. 

 

Während „Ernani“ im 19. Jahrhundert lange Zeit dessen meist aufgeführtes Musikdrama war und dann vom „Troubadour“ und „Rigoletto“ überflügelt wurde, ist die um einen romantischen Räuberhauptmann kreisende, nach einem Theaterstück Victor Hugos konzipierte Oper nicht zuletzt wegen seiner verqueren Handlung fürs heutige Regietheater wenig tauglich. Liebe und Gastfreundschaft, Rache und Verschwörung sind übliche Handlungsmotive des jungen Verdi und seines Librettisten Francesco Maria Piave, doch ist es die „Ehre“, welche die Geschichte schließlich ein tragisches Ende nehmen lässt. Andererseits zeigt sich Verdi in diesem 1844 am Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführten Werk schon als der effektvoll operierende Musikdramatiker, der in seinen Meisterwerken menschliche Leidenschaften und Seelenzustände eindringlich komponiert. So schreibt er während der Entstehung seines „Ernani“ an Piave: „Wo gibt es eine Primadonna, die hintereinander eine große Kavatine, ein Duett, das in einem Terzett endet, und ein ganzes Finale singen kann, wie es in diesem ersten Akt der Fall ist?“

 

Die koreanische Sopranistin Guanqun Yu zeigt sich in der Bregenzer Aufführung dieser Aufgabe gewachsen, ihr Flehen um Rettung vor der Heirat mit ihrem Onkel Don Ruy Gomez de Silva, „diesem hässlichen Alten“, im White Cube mit jungfräulichem Bett (Bühne: Christof Hetzer) entfaltet sich in leuchtenden Kantilenen. Vor dem übergriffigen, fensterlnd vordringenden König Don Carlo kann sie der durch die Pappwand hereinbrechende Ernani beschützen, das Terzett mit Saimir Pirgu und dem hinzukommenden De Silva ist einer der musikalischen Höhepunkte der Aufführung. Goran Jurićs Eifersuchts-Kavatine und Ernanis Kampfbereitschaft befeuern ein unheildrohendes Finale des 1. Akts. 

 

Begonnen hatte der auf einer flach gewölbten Scheibe „in einer zerstörten Welt“ mit Leichen, die sich während der von Enrique Mazzola spannungsvoll dirigierten Ouvertüre zu Ernanis Räuberbande aufrappeln und im lärmigen Eingangschor Nahkampftraining exerzieren. Die Regisseurin Lotte de Beer hat dafür eine agile „Stunt Factory“ engagiert, deren acht Kämpfer bei jeder Szene des energievoll schmetternden Prager Philharmonischen Chors als Leibgarde De Silvas oder Don Carlos sportiv und Blut verspritzend mitmischen. Überhaupt versucht die Inszenierung das Stück zwischen Gefühlsdrama und Groteske anzusiedeln, was freilich öfters unfreiwillig komisch wirkt.

 

Franco Vassallos Don Carlo zum Beispiel ist eine Mischung aus Artauds Ubu Roi und jovialem Machtprotz mit goldener Pappkrone, dem man seine Wandlung zum tugendhaften Herrscher am Grab Karls des Großen im 3. Akt nicht glauben mag. Sängerisch ist sein Monolog über die Träume und Verfehlungen seiner Jugend allerdings grandios, und Goran Jurićs Rachearie als von seinen Gegnern total zusammengeschlagener De Silva im 2. Akt, wo es mit Ernani zum Schwur kommt, ist ebenbürtig. Dabei spielt ein Jagdhorn, welches ihm fortan am Gürtel baumelt, eine sonderbare Rolle: Saimir Pirgu, hell timbriert und kräftig in den Spitzentönen, schwört ihm, da er ihn nicht als Rebell dem König ausliefert, sein Leben zum Pfand, das er einlösen könne, sobald er ins Horn blase. Das passiert unglücklicherweise im 4. Akt, wo Ernani und Elvira mit einem wunderschönen Duett gerade Hochzeit gefeiert haben, und De Silva als rachsüchtiger Golem dazwischentritt: „E vano, o donna, il piangere, è vano – Deine Tränen, Frau, sind umsonst!“, röhrt Jurić – und Ernani sticht sich den Dolch ins Herz. Großer Beifall des wie immer im Bregenzer Festspielhaus hochgestimmt beifallfreudigen Publikums. 

 

20. Juli 2023

Im Gebirge der illusionären Gefühle

Andreas Homokis Inszenierung von Puccinis „Madame Butterfly“ erneut bei den Bregenzer Festspielen auf der Seebühne

 

Ein perfekter, ein zauberhafter Sommer-Festspielabend: Während vor einem Jahr die Premiere von Puccinis „Madame Butterfly“ verregnet war, gab es diesmal nicht nur vom Wetter her ideale Bedingungen bei der ausverkauften Wiederaufnahme-Premiere. Wieder war die usbekische Sopranistin Barno Ismatullaeva die japanische Geisha Cio-Cio-San, die sich sterblich in den amerikanischen Marineoffizier B.F. Pinkerton verliebt und vergeblich auf ein Leben mit ihm in Amerika hofft, wieder sang die italienische Mezzosopranistin Annalisa Stroppa ihre Dienerin Suzuki: ein stimmlich und darstellerisch wunderbar ausdrucksvolles Tandem, welches in jeder Geste die Spannungen zwischen japanischer Kultur und Tradition gegenüber dem Eindringen der fremden Zivilisation mit ihren Verlockungen repräsentiert. Auf der wie ein zerknülltes weißes Blatt Papier in den See geworfenen Bühne, die sich 30 Meter breit und 23 Meter hoch in den Nachthimmel erhebt, entwirft der Regisseur Andreas Homoki ein fein abgezirkeltes Seelendrama, in dem jede räumliche Figurenkonstellation absolut stimmig ist. 

 

Michael Levines wie eine japanische Tuschzeichnung bemalte Gebirgslandschaft wird von den Farben des Licht-Designers Franck Evin in wechselnde Stimmungen getaucht, die Kostüme Antony McDonalds zeigen den Zusammenstoß der Kulturen ohne Kitsch. Das Marineblau Pinkertons, der kanariengelbe Anzug des Konsuls Sharpless (Brett Polegato), der bei dem Arrangieren der Scheinheiraten zwischen Geishas und Amerikanern – „für 999 Jahre mit Recht auf monatliche Kündigung“ – behilflich ist, das rote Kostüm von Pinkertons amerikanischer Frau kontrastieren mit den Gewändern des Heiratsvermittlers, des kaiserlichen Standesbeamten, des fürstlichen Freiers und Cio-Cio Sans Verwandtschaft. Und die kalkweißen Geister der Ahnen, die sich manchmal um Cio Cio San scharen, bilden in ihrer Choreografie einen malerischen Gegensatz zu den Prozessionen der zeremoniell gekleideten Geishas über die Diagonalen der Bühne.

 

Wieder einmal bestaunt man die peilgenaue Akustik des Bregenzer Sound-Systems, wo man jede Figur auf der Riesenbühne exakt auf ihrer Position zu hören glaubt, und die aus dem Festspielhaus zugeschalteten Wiener Symphoniker erzeugen Puccinis mit japanischen Exotismen angereicherte Klangfarben von feinsten Nuancen bis zu voller Dröhnung an den Höhepunkten der Leidenschaft oder des patriotischen Chauvenismus. Pinkertons „America Forever“ ist ein solcher Moment, zu dem ein Flaggenmast mit den „Stars and Stripes“ sich aufpflanzt, oder der Fluch des aufs Gebirge projizierten Onkel Bonzo über die abtrünnige Cio-Cio San. Sie ist in allen drei Akten die in jeder Beziehung dominierende Figur, ihr Liebesduett mit Pinkerton (Otar Jurjikia) ist überwältigend, ihr Warten auf die Rückkehr Pinkertons - in die amerikanische Flagge gehüllt und gegen jede Vernunft hoffend, von ihm mit ihrem gemeinsamen Kind in die Neue Welt mitgenommen zu werden – ist mit höchster dramatischer Intensität gestaltet. Das von stärksten Emotionen durchglühte Timbre Barno Ismatullaevas erinnert dabei an eine berühmte Interpretin dieser Rolle: Maria Callas. 

 

Wie wenig showmäßig und in entscheidenden Momenten geradezu asketisch Homoki die „Butterfly“-Tragödie erzählt, zeigt die Szene mit dem Summchor als Intermezzo zwischen dem 2. und 3. Akt. Cio-Cio San hat von Pinkertons Rückkehr erfahren und glaubt, dass alle ihre Hoffnungen nun in Erfüllung gehen. Ganz allein liegt sie zusammengekauert in der Mitte der Bühne, im Traum nimmt er sie und ihr Kind in die Arme, doch mit Anbruch des Tages verwandelt sich die Szene zu eisiger Kälte, die weichen Konturen der mit Blüten übersäten Landschaft erstarren zu kantigen Schluchten. Der Abschied von ihrem Kind, das in Amerika bei den Pinkertons aufwachsen soll, ihr einsamer, ritueller Freitod, die Wucht der Tragödie: großes Musiktheater!

 

21. Juli 2023

Stationendrama mit Vogelpredigt

Oliver Messiaens „Saint François d‘Assise in der Stuttgarter Oper und auf dem Killesberg

 

Der grauschwarze Hase auf dem Transparentvorhang, hinter dem das Staatsorchester in großer Besetzung auf der Bühne Platz genommen hat – woran erinnert dieses Tiersymbol, an Dürer, Joseph Beuys oder Christoph Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung, auf deren Videos ein von Maden zerfressener Kadaver zu sehen war? Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler bezieht sich im Programmheft explizit auf Beuys‘ Kunstaktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ und seine symbolische Nähe zu Fruchtbarkeit und Initiation, und ganz allgemein steht für sie der von Olivier Messiaen in seiner Oper „Saint François d’Assise“ komponierte Gottesbezug im direkten Verhältnis zu Mensch und Natur. So gefährdet und beschädigt dieser Bezug in unserer Welt von heute ist, das ist eines der grundlegenden Themen der ungewöhnlichen Produktion, mit der die Stuttgarter Oper bei ihrer achteinhalb Stunden dauernden Aufführung das Publikum mitnimmt zu einer „Pilgerreise“ aus dem Opernhaus hinauf in den Höhenpark Killesberg und zurück.

 

Bei schönstem Wetter versammeln sich die über 1000 Besucher zu den ersten der acht Tableaus um 14 Uhr in der Oper, die meisten in Freizeitkleidung. Freudige Erwartungsstimmung liegt in der Luft; doch in der ersten Stunde geht es um Angst vor der Zukunft und vor der eigenen Existenz. „Ich fürchte mich, ich fürchte mich, ich fürchte mich auf dem Weg, wenn die Fenster größer und dunkler werden“, bekennt Bruder Léon (Danylo Matviienko), und Franziskus antwortet „O Erde! O Himmel!“ Der Dialog findet im Proszenium vor dem Orchester statt, dessen 115 Musiker Messiaens Musik in ein glühendes Panorama unerhörter Klänge tauchen. Ganz vorne umringen drei Soloschlagzeuger mit Xylophon, Marimbaphon und Xylorimba den Dirigenten Titus Engel, flankiert von den Ondes Martenot, deren elektronische Stimmen ein sphärisches Element im Orchesterklang abbilden. Die Auseinandersetzung der Klosterbrüder um Sinn und Ziel eines erfüllten Lebens wird von Mahler szenisch mit der Grablegung eines Hasen begleitet, in den „Laudes“ rezitiert Franziskus seinen berühmten Sonnengesang, und in der „Begegnung mit dem Aussätzigen“ verwirklicht sich Messiaens Botschaft von Selbstüberwindung und Mit-Leiden in der Nachfolge Christi als Weg zur Vollendung. Hier beeindruckt der amerikanische Bariton Michael Mayes (2019 war er hier in der Titelrolle von John Adams‘ „Nixon in China“ zu erleben) durch seine großartige singdarstellerische Präsenz.

 

Aus dem feierlichen Dunkel des Opernhauses und dem „Sanctus“ und „Te Deum“ des grandiosen Staatsopernchors von allen Seiten und Rängen geht es hinaus in die Sonne. Dort warten schon die 20 Guides mit ihren Schildern Messiaenscher Lieblingsvögel, deren Namen alle Besucher auf Bändchen am Handgelenk tragen. Mit den „Mönchsgrasmücken“ mache ich mich auf den Weg zur U-Bahn, die uns zur Löwentorbrücke befördert, von dort aus pilgert man zusammen mit dem „Wandernden Engel“, dessen Gespräch mit den Klosterbrüdern man unterwegs per Kopfhörer und MP3-Player lauschen kann, und dessen Doppelgänger im Park auftauchen, zur Freilichtbühne auf dem Killesberg. Dort folgen um 18 Uhr, mit Live-Orchester und Chor, die Tableaus des „Musizierenden Engels“ (in exotisch schillerndem Insektenkostüm) und der „Vogelpredigt“: prozessionsartig werden alle von Messiaen instrumental porträtierten Vögel auf Stäben auf die Bühne getragen, musikalisch hat dieser Teil durch die Lautsprecherverstärkung natürlich nicht die Wucht und Transparenz der Darbietung im Opernhaus, doch auch die Vögel im Park zwitschern munter mit und Mayes bewegt sich singend zugewandt zwischen den Zuschauern. Logistisch ist dieser Ausflug prima organisiert, gegen Halbacht geht es per Sonderfahrt mit der U-Bahn direkt zurück zum Hauptbahnhof, eine kleine Vespertüte für jeden wartet schon am Opernhaus, um 21 Uhr (mit kleiner Verspätung, bis alle Instrumente wieder, nun im Orchestergraben, zurück sind) geht es dem Höhepunkt entgegen. 

 

Inszenatorisch ist dieser Schlussteil – Leiden und Sterben des Heiligen Franziskus – am gelungensten. Im Gegenlicht, auf leerer Bühne, wirkt Mayes als zu Boden gestreckter Franziskus erst wie der Grabhügel vom ersten Akt, multipliziert durch einen schwebenden Hohlspiegel überwältigt der 100-stimmige Chor (die Stimme des Erlösers Christus) durch die Gewalt und Majestät von Messiaens polychromen Klangballungen. Beate Ritters Engelserscheinung betört, wenn auch in den Höhen leicht forcierend, durch reinen Klang, und zumindest visuell ist Anna-Sophie Mahlers Raumkonzept eines sich vom Himmel senkenden, sonnengelben organischen Netzes spektakulär, wie auch die Video-Geburt eines Schmetterlings aus seiner Larve zur gewaltigen Musik von Franziskus‘ „Tod und Auferstehung“. Schade, dass sie dann auch noch Michael Mayes samt Schmetterlingsflügeln gen Bühnenhimmel fahren lässt – ein kitschiges Schlussbild. Doch der Applaus am Ende dieser musiktheatralischen Pilgerreise ist begeistert und steigert sich zu stehenden Ovationen für alle Beteiligten. Dieser originelle „Saint François d’Assise“ ist ein gelungenes Opern-Event.

 

13. Juni 2023

Opulenz der Klänge und Bilder

Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker mit Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“ im Festspielhaus

 

Baden-Baden. Noch bis 2025 prägen die Berliner Philharmoniker die Osterfestspiele in Baden-Baden, dann werden sie dazu wieder nach Salzburg wechseln. Doch mit den drei Aufführungen von Richard Strauss‘ Oper „Die Frau ohne Schatten“ (die Premiere war ausverkauft und umjubelt), fünf Konzerten und einem Dutzend Kammermusik-Programmen ist das Orchester im zehnten Jahr seiner Frühjahrsresidenz an der Oos eindrucksvoll präsent. Und für die kommenden Osterfestspiele ist eine weitere Strauss-Oper unter Kirill Petrenkos Leitung in Vorbereitung: „Elektra“.

 

Mitten im Ersten Weltkrieg begannen Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal mit der Konzeption einer Märchenoper, die zugleich tief in die Gründe von Mythos und Gesellschaft loten sollte. Komplex wie das von Symbolik überfrachtete Libretto von Hofmannsthal ist die Musik, sie schillert zwischen dem Expressionismus der „Elektra“, den kammermusikalischen Feinheiten der „Ariadne“ und dem üppigen Melos des „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Während der Komponist im Stoff und seiner Bedeutung Berührungspunkte zu Mozarts „Zauberflöte“ sah, war Hofmannsthals Ausgangspunkt die „Atmosphäre eines wirren Traumes. Die Seelenkrankheit der Kaiserin: Zweifel an allem. Verlust des Ich-Gefühls“. In der Inszenierung der amerikanischen Regisseurin Lydia Steier durchlebt ein junges Mädchen, das schon ein Kind verloren hat, die Schicksale der Figuren wie einen Alptraum: die agile Vivien Hartert begleitet sie auf Schritt und Tritt.

 

Um Schatten, Fruchtbarkeit, menschliche Empathie, Weigerung oder Bereitschaft zu Liebe und Mutterschaft kreisen die drei Akte der Oper. In einem Kloster-Schlafsaal beginnt das Traumspiel: die Kaiserin, Tochter des Geisterkönigs, vom Kaiser entführt und mit einem Fluch belegt, muss Mensch und Mutter werden, um ihren Gemahl vor dem Tod zu bewahren, und dazu braucht sie den Schatten, den sie mit Hilfe ihrer Amme der Frau eines Färberpaars abhandeln will. Filmschnittartig wechseln die Szenen (Bühne: Paul Zoller), die Klosterwände öffnen sich zur Revuetreppe, auf der Clay Hilley seine Kaiser-Jäger-Arie schmettert und die höhensichere Sopranistin Elza van den Heever in Champagnerrobe (Kostüme: Katharina Schlipf) herabsteigt. Der Falke des Kaisers schwebt als himbeerrote Drag-Queen auf der Schaukel, das Färberpaar betreibt eine rosarote Puppenfabrik mit Baby-Assoziation, es wimmelt von religiöser Ikonografie (Jungfrau Maria, Pietà, Heiligenaltar), am Schluss werden die Babys der Klosterschülerinnen kinderfreundlichen Paaren offeriert. Klar, dass ein Teil der bildstarken Regieeinfälle die Mutterschafts-Thematik auch ironisch hinterfragt.

 

Der Opulenz der Bilder entspricht die Vielschichtigkeit der Musik, die von Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern mit ungeheurer Intensität, Farbigkeit und Ausdrucksstärke interpretiert wird. Diese „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss ist vor allem ein Klang-Ereignis: im ersten Akt dominieren die silbrigen, von Celesta-Girlanden, Gongs und exotischer Aura umwölkte Geister-Atmosphäre, im zweiten steigert sich die Wucht des Orchesters in den Szenen mit der Färberin (Miina-Liisa Vãrelã), ihrem Mann Barak (Wolfgang Koch) und der dämonischen Amme (Michaela Schuster) zu ohrensengenden Clustern, im dritten Akt pulsiert musikdramatische Spannung. Bravourös modelliert Petrenko die von Strauss kontrastreich charakterisierten Handlungsmotive: Baraks Fixierung aufs Kinderkriegen und sein Wandel zu Liebe und Verständnis, der Widerstand und die Emanzipation der Färberin, der Identitätskonflikt der Kaiserin und ihr innerer Kampf um Wahrheit. All dies wird von Petrenko und seinen Berliner Philharmonikern in trennscharfer Klarheit und überwältigender Fülle beschworen. Dass für Kaisers und Färbers alles im durharmonisch gesteigerten, duoselig familiärem Happy End ausklingt, kann den Alptraum des Mädchens jedoch nicht erlösen: in den Hügeln der Erinnerung gräbt es weiter nach einem Lebenssinn. 

 

3. April 2023

 

Schritte auf dem Weg zum Licht

Ulrich Rasche inszeniert Bachs „Johannes-Passion“ als rhythmisch bewegtes Oratorium in der Stuttgarter Oper

 

Im Nebel des Mythos beginnt die szenisch-oratorische Aufführung der „Johannes-Passion“ in der Stuttgarter Oper. Paukenschläge hallen durch den Raum, als der Eiserne Vorhang sich hebt, eine Drehbühne bewegt den Boden, auf dem sich eine Menschenschar zum Eingangschor in Bewegung setzt: „Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm / in allen Landen herrlich ist. / Zeig uns durch deine Passion, / dass du, der wahre Gottessohn, / zu aller Zeit, / auch in der größten Niedrigkeit, / verherrlicht worden bist.“ Was kann der Stoff eines fast 300 Jahre alten Meisterwerks der Musik aus gläubiger Zeit mit Menschen unseres säkularisierten, gottfernen 21. Jahrhunderts anstellen, wie uns berühren jenseits eines rituellen Karfreitags-Kirchengebrauchs? Der Stuttgarter Oper ist mit der Inszenierung von Bachs Oratorium durch den Regisseur Ulrich Rasche, der in seiner Arbeit viel mit Ideen von Gemeinschaft operiert, ein stark beeindruckender Musiktheaterabend geglückt.

 

Zentrale Figur in Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“ ist der Evangelist, er erzählt das biblisch überlieferte Leiden und Sterben Jesu in dramatischer Verdichtung. Der Tenor Moritz Kallenberg ist dafür ein idealer Protagonist: seine hell timbrierten Rezitative bringen die innere Beteiligung, seine Erregung und Empathie, großartig lebendig zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu schreiten die Chöre im Takt des Basso Continuo, welcher der ganzen Passion die rhythmische Grundlage gibt. Ganze zwei Stunden bewegt sich die Drehbühne, für die Sänger ist das auch physisch eine Herausforderung, synchron zur Musik und als Gemeinschaft dazu Schritt zu halten. Meist gegen die Richtung der Drehbühne ist dieses oft schwere, selten beflügelte - wie bei Michael Nagls Bassarie „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ -Schreiten, das sich bei Einzelaktionen in leichte, fast tänzerische Bewegung verwandelt, ein eindrucksvolles Symbol von Kollektiv und Individualität in der Beziehung zum Nächsten. 

 

Ulrich Rasches Personenregie ist konsequent ritualistisch und abstrakt. Sie vermeidet anschauliche Erzählung, die äußere Handlung soll sich im Kopf des Betrachters realisieren. Riesige, schwebend bewegliche Farbwände strukturieren das musikalische Geschehen von Rezitativ, Chorälen, Arien, Turba-Chören. Die Projektion einer Hand, die sich öffnet, von Händen, die sich berühren, gehört zu den wenigen Bildsymbolen, die Rasche einsetzt. Viel wichtiger ist der schwarze, leere Bühnenraum, der in bestimmten Momenten farbig flutet, eisblau beim Verhör von Jesus vor Pilatus, blutigrot bei der Kreuzigung auf Golgatha. 

Wie in einer antiken Tragödie konfrontiert die Inszenierung die handelnden Personen und lässt das Geschehen in den Chorälen mitleidend und reflektierend kommentieren. Andreas Wolf stellt als der seinen Meister verleugnende Petrus eine von Furcht ergriffene Person in den Raum, dessen Reue in Bachs Evangelisten-Rezitativ – „und weinete bitterlich“ – erschütternd anschaulich wird. Als Pilatus ist er mit Shigeo Ishinos hoheitsvollem Jesus konfrontiert, auf seine Fragen an das Volk antwortet das „Kreuzige ihn!“ aus dem Dunkel des Hintergrunds. 

 

Manche der Choräle, wie „Wer hat dich so geschlagen“, sind als Vokalquartett individualisiert, wirken wie ein Gespräch unter Freunden. Stark affektbetont sind dagegen die Solo-Arien: die Altistin Alexandra Urquiola erfüllt ihr „Es ist vollbracht“ mit bewegender Intensität, Fani Antonelous Sopran dringt beim „Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren“ tröstend durch die vom Bühnenhimmel stürzende Staubwolke. Diego Fasolis dirigiert das verkleinerte Staatsorchester barockklangorientiert, nur bei einigen der Turbachöre ist die Koordination zur Bühne nicht optimal. Auch beim Schlusschor – „Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine“ bewegt sich die Menge wieder im Kreis. Bachs Zeitgenosse Händel zitiert im Messias den Propheten Jesajah: „Das Volk, das im Dunkeln lebt, sieht ein großes Licht.“ So betrachtet beginnt und endet Ulrich Rasches szenisches Oratorium der „Johannes-Passion“ mit einem kleinen Funken Hoffnung. Zur letzten Choralstrophe öffnet sich der schwarze Rundhorizont einen Spalt, und gleißende Helligkeit fällt in das Dunkel. 

 

3. April 2023

Wechsel der Perspektiven

6 Regieteams, eine musikalische Handschrift: der neue „Stuttgarter Ring“ ist geschlossen

 

 „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, heißt es zu Beginn von Thomas Manns Roman-Tetralogie über den mythisch-alttestamentarischen Stoff von „Joseph und seine Brüder“. Auch Richard Wagners Opern-Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ gräbt tief im Mythos, es ist eine Synthese von altgermanischer „Edda“ und „Nibelungenlied“ nebst anderer Quellen, die Wagner auf seine gesellschaftliche Gegenwart der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts projiziert und in seinem Musikdrama mit einer utopischen Weltsicht verknüpft. Jede szenische Deutung des Wagnerschen „Ring“ vermehrt die Fülle der Interpretationen, und jedes große Opernhaus stellt sich – zumindest seit Mitte des letzten Jahrhunderts – der Mammutaufgabe, die vier Opern des „Ring“ als Zyklus auf die Bühne zu bringen. In Stuttgart geschah das im Abstand von etwa 20 Jahren bis heute: Wieland Wagner brachte seine Neu-Bareuther Entrümpelungsästhetik 1953-55 ins Große Haus der Württembergischen Staatstheater, Jean-Pierre Ponnelle sorgte 1977/78 für eine spielerisch-ironische Deutung mit Tiefgang, Klaus Zeheleins Jahrtausender-„Ring“ (1999/2000) wagte das gelungene Experiment vier verschiedener Regisseure für die einzelnen Musikdramen, und nun haben sich die Regie-Handschriften sogar versechsfacht: bei der „Walküre“ waren gleich drei Regie-Teams für die drei Akte am Werk. An den vergangenen zwei Wochenenden ist nun erstmals der ganze 2021/22 entstandene Zyklus zusammen aufgeführt worden – Gelegenheit also, eine Bilanz der Gesamtwirkung zu versuchen.

 

Am Beginn von Stephan Kimmigs Inszenierung des „Rheingold“ steht ein projiziertes Zitat. Es stammt von Richard Wagner aus seiner Schrift „Die Revolution“ von 1848: „Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose in Reiche und Arme teilt, denn sie macht aus Allen nur Unglückliche“. Die fünfzehn Stunden seines „Ring des Nibelungen“ handeln von solchen Katastrophen und von Glückshoffnungen. Kimmigs Wotan (Goran Juric) als Zirkus-Zampano und Mime als trauriger Clown unter der Fuchtel des finsteren Weißclowns Alberich (Robin Adams) treten gegeneinander an, die Götter- und Unterwelt ist durch Verrat und Intrige schon hier zum Untergang verdammt, und Cornelius Meister arbeitet die musikalischen Leitmotive mit dem Staatsorchester akribisch heraus. Zwei Ensemblemitglieder, die in ihren Rollen im weiteren Zyklus so etwas wie Kontinuität garantieren, überragen singdarstellerisch: Matthias Klink als listiger Loge, der im „Siegfried“ einen wunderbar präzisen tragikomischen Mime verkörpert, und Stine Marie Fischer, die hier als grüne Erda-Aktivistin mit Fahrrad Wotan vor dem Fluch des Rings warnt und dem Wanderer im „Siegfried“ als ratlose Ur-Gebärerin  („Wild und kraus / kreist die Welt“) gegenübertritt;  auch als Waltraute in der „Götterdämmerung“ ist ihr abgrundtiefer Mezzosopran atemberaubend.

 

Szenische Leitlinien in diesem „Ring“-Projekt der Stuttgarter Oper zu finden, ist müßig. „Multiperspektive“ ist das Zauberwort, das zieht sich filmisch in den Videoprojektionen durch Kimmigs „Rheingold“, ist natürlich das Grundkonstrukt der 3-Teams-„Walküre“. Während der Kontrast von Kriegstrümmerwelt und Wälsungen-Liebessturm, Ratten-Figurentheater und Nothung-Attrappe in den Live-Animationen der Mini-Bords von Hotel Modern verblüffend funktioniert und Urs Schönebaums Spagat von Personendrama (mit einer großartigen Annika Schlicht als Fricka) und Nazi/Pulp Fiction-Zitaten halbwegs überzeugt, ist Ulla von Brandenburgs Oberammergau-Schlussakt mitsamt dem schwankenden Wotan-Brünnhilde-Abschied auch sängerisch schwach. Ein Glück, dass Cornelius Meister mit großen, spannungsreichen Bögen und opulenten Klangfarben - ganz anders als in dem auf Sprechgesang pointierten „Rheingold“ – das Ganze mit einem hörbar hoch motivierten Staatsorchester zusammenhält.

 

Absoluter Höhepunkt dieses ersten „Ring“-Zyklus – ein zweiter folgt in der Osterwoche – war die „Siegfried“-Aufführung, in der die Sänger über sich hinauswuchsen, allen voran, neben dem schon erwähnten Matthias Klink als Mime, Stefan Vinke als stürmischer „Schlapper-T-Shirt „Sieg Fried“ und Simone Schneider (eine lyrisch ausdrucksvolle Sieglinde in den beiden ersten „Walküre“-Akten) als eine Brünnhilde, bei der der junge Schlagetot endlich das Fürchten lernt. Die Übernahme von Wieler/Morabitos Inszenierung aus dem 2000er-„Ring“ zeigt nicht nur die Fallhöhe von grandios durchdachtem Musiktheater zu mehr oder weniger gelungenem Handwerk, sondern beflügelte ganz offensichtlich alle Mitwirkenden. Auch Thomas J. Mayer als Wanderer und Alexandre Duhamel als Alberich agierten bravourös, Cornelius Meister und das Ensemble schienen selbst von sich begeistert beim jubelnden Schlussapplaus. Wie sich Gewalt, Furcht, Verzweiflung schließlich in Liebe verwandeln, das zeigte die halbstündige Schlussszene im weißen Schleiflack-Schlafzimmer auf menschlich anrührende Weise. Dass auch die sängerischen Leistungen in Marco Stormans Inszenierung der „Götterdämmerung“, mit einem ewig grinsenden Daniel Kirch (Siegfried) und einer die Grenzen ihres scharfen Soprans streifenden Christiane Libor (Brünnhilde) außer dem überragenden Patrick Zielke als Hagen mit dem überwältigenden „Hoiho“-Staatsopernchor, dagegen abfielen, mag auch dem teilweise fragwürdigen Comic-Helden-Konzept geschuldet sein. Ovationen gab es am Ende für Meister und das geschlossen auf der Bühne sich zeigenden Staatsorchester.

 

14. März 2023

 

 

Zaubertrank und Nebeldüsen

Marco Storman inszeniert Richard Wagners „Götterdämmerung“ in der Stuttgarter Oper

 

Nach Stephan Kimmigs Inszenierung des „Rheingold“ mit Wotan als Zirkus-Zampano, der auf drei Regie-Teams verteilten „Walküre“ und dem vom legendären 2000er-„Ring“ übernommenen „Siegfried“ ist nun mit der von Marco Storman inszenierten „Götterdämmerung“ der neue Stuttgarter „Ring des Nibelungen“ fertig geschmiedet. Nur die musikalische Leitung blieb in einer Hand: Cornelius Meister gestaltet auch den letzten Teil der Richard-Wagner-Tetralogie mit dem bis auf wenige Intonationsprobleme beim Vorspiel zum 1. Akt und beim Trauermarsch im Finale kompakt und ausdrucksstark musizierenden Staatsorchester überzeugend. Bei der Premiere gab es starken Applaus vor allem für den Opernchor und die Interpreten von Hagen und Waltraute. Auch das Regieteam wurde beklatscht.

 

Wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr in einem sinnvollen Zusammenhang existieren – so der Inszenierungsansatz - zersplittert die Welt in Bruchstücke der Wirklichkeit. Aus dieser Multiperspektive wird Wagners Musikdrama vom Ende des Mythos und dem durch List und Intrige verursachten Untergang des Helden Siegfried erzählt. Wenn die drei Schicksalsnornen (Nicole Piccolomini, Ida Ränzlöv, Betsy Horne) unter den wie zu einem Sarg zusammengebundenen Resten der von Wotan zertrümmerten Weltenesche auf ihr „Weißt du wie das wird?“ ohne Antwort geblieben sind, öffnet sich der Vorhang über einer mit zwei Schauplätzen vollgerümpelten Bühne. Im Vordergrund treten Brünnhilde und Siegfried vor einen höhlenartigen Tempel, im Hintergrund ragen die Türme und Kuppel einer anderen Zivilisation empor. Auch die Bilder des Karl-May-Illustrators Sascha Schneider und seiner Winnetou-Männerakte spielen auf der Bühne Demian Wohlers eine Rolle: sie werden in Goldrahmen herumgetragen, und mit einem Pferdegemälde über dem Kopf (für Brünnhildes Ross Grane) begibt sich Siegfried auf seine Rheinfahrt zu den Gibichungen. 

 

Christiane Libor und Daniel Kirch erreichen stimmlich bei diesem Abschied nicht die Hitzegrade des Orchesters, und als Siegfried-Darsteller ist Kirch von der Regie von Anfang an auf jugendlicher Comic-Held fixiert. Das verstärkt sich, nachdem er am Hof der Gibichungen durch Zaubertrank seine Erinnerung verliert und zu Hagens Werkzeug in seinem Vernichtungsplan wird. Grinsend wird er zum Doppelgänger Gunthers (Shigeo Ishino), dem er Brünnhilde zur Frau verhelfen soll. Die starken sängerischen Momente Waltrautes (Stine Marie Fischer, schon im „Siegfried“ eine abgrundtiefe Erda, hier mit leidenschaftlich erregtem Mezzosopran die Unheilsbotin) und Hagens (Patrick Zielke als bassmächtig dröhnender Strippenzieher) werden konterkariert durch den bei der Brautschau mit Nebeldüse hantierenden und im Gestrüpp vor Brünnhildes Felsenhöhle herumturnenden Siegfried. Wehmütig erinnert sich wohl mancher Zuschauer an die psychologisch erschütternd schlüssige Gewaltszene in der Konwitschny-Inszenierung des letzten Stuttgarter „Ring“, hier führen die gleich blond perückten und mit rosa Overalls bekleideten Siegfried/Gunther eine Art Kasperltheater auf, was dem von Cornelius Meister großartig differenziert ausgeleuchteten Pathos der Partitur total entgegenläuft.

 

Nicht nur der Hagen-Monolog Zielkes im 1. Akt („Hier sitz‘ ich zur Wacht“), auch die Alberich/Hagen-Szene zu Beginn des 2. Aufzugs gehört zu den stärksten singdarstellerischen Momenten der Aufführung. Dass beide, Vater und Sohn, hier vom selben Sänger in einer Art Spiegel-Dialog ihre finsteren Pläne zur Eroberung des Rings bekräftigen, ist eindrucksvoll realisiert. Als Massenszene grandios danach die Begrüßung Brünnhildes durch Hagens Mannen, inszeniert wie eine römische Senatorensitzung mit goldenen Kultmasken im Plenarsaal, mit Streitreden am Mikrofon und Brünnhildes Racheschwur. Hier erreicht Christiane Libors Sopran eine dramatische Leuchtkraft und emotionale Vielschichtigkeit, die ihr bei ihrem Schlussmonolog nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Auch Esther Dierkes als Gutrune ist sängerisch überzeugend, nur Daniel Kirchs Tenor hat hier Mühe, sich gegenüber den heftig erregten Orchesterstimmen zu behaupten. Dass sein Siegfried sich immer wieder einen Schluck des Vergessens aus der Plastikflasche nehmen muss, um sich nicht an seine frühere Identität als Götterheld zu erinnern, widerspricht zwar einer realen Logik, passt aber wohl genauso ins Regiekonzept wie sein Ende, als sich Daniel Kirch nach seiner Tötung durch Hagen der rosa Verkleidung entledigt und nach Brünnhildes Schlussmonolog mit Libor auf einem silbergrauen Einhorn davonreitet, während Hagen am Rinnsal unter den Stammesresten begaben wird. Musikalisch erreicht die Aufführung dagegen, angefangen vom brillant gesungenen Rheintöchter-Terzett mit Eliza Boom, Linsey Coppens und Martina Mikelic, über die sehr differenzierte Leitmotiv-Interpretation Meisters bis zu den überwältigenden Blechbläser-Schlagwerk-Attacken des Trauermarschs, eine begeisternde Intensität. Am Ende präsentierte sich Cornelius Meister mitsamt seines Staatsorchesters und allen Mitwirkenden auf der Bühne dem Premierenapplaus.

 

31. Januar 2023

Die Rückeroberung der Natur

Giacomo Donizettis „L’elisir d’amore” als Premiere im Stuttgarter Opernhaus

 

Irgendwo auf dem Land liest die gescheite Adina den Dörflern die Geschichte von Tristan und Isolde und ihrem Liebestrank vor. Das kriegt auch der junge Nemorino mit, der unsterblich in sie verliebt ist, aber keine Chancen bei ihr sieht. Also bräuchte es ein solches „Elisir d’amore“, und schon ist der reisende Quacksalber Dulcamara zur Stelle, der die ganze Bevölkerung mit seiner Medizin für alle Wehwehchen versorgt, also auch den liebeskranken Nemorino. Was der Mailänder Dirigent Michele Spotti und ein junges, spielfreudiges Ensemble der Stuttgarter Oper mit Donizettis melodienseligem „L’elisir d’amore“ in der Inszenierung von Anika Rutkofsky anstellen, hat bei der Premiere ein total begeistertes Publikum zu großem Jubel hingerissen: die Neuproduktion ist musikalisch bravourös und szenisch überraschend stimmig.

 

Statt einem Bauernhof zwischen Bergen, Wald und Getreidefeldern, wie es Donizettis 1831 uraufgeführte Liebeskomödie vorsieht, blickt der Zuschauer in eine gläserne Industriehalle mit Pflanzbeeten (Bühne: Uta Gruber-Ballehr). Das Neonlicht über der Belegschaft in rosa und gelben Einheits-Overalls ist so grell, dass die deutsch-englische Übertitelung kaum zu lesen ist, doch bald, wenn die Vorarbeiterin Adina auf dem Laufsteg ihre Cavatine vom schönen Tristan und der grausamen Isolde („della crudele Isotta e bel Tristano“) anstimmt, wird das Licht wärmer, und die weißen Zwiebelköpfe beginnen zu sprießen, einige davon schon zu Kokon-Kohlköpfen. Doch bis es auch in Adinas kokettem Kopf zum Sinneswandel kommt und Gefühle sprießen, dauert es noch eine ganze Weile. Eine köstliche Idee, wie sie dem armen Nemorino anhand einer x-y-Achse auf ihrem To-Do-Board erklärt, warum ihre Flirtkurve nicht mit seiner Leidenschaftsdiagonale kompatibel ist: „Ché capricciosa io sono – ich bin eben launisch!“ Und da kommt ihr der Sergeant Belcore gerade recht, den sie sogar gleich heiraten will. Wobei der als fesches Mannsbild mit seiner von der Regie als Werkspolizei karikierten Truppe doch eher komisch inszeniert ist, während Dulcamara bei seinem Auftritt die ganze Belegschaft gleich in der Tasche hat.

 

Donizettis Liebeskomödie ist ein „Melodramma giocosa“, mischt also komödiantisches Spiel und sentimentale Empfindsamkeit auf effektvolle Weise. Die Oper ist eine Partitur voller funkelnder Belcanto-Schmuckstücke, die von Spotti und seinem Ensemble glänzend dargeboten werden. Das Staatsorchester brilliert mit farbig differenziertem Spiel, Claudia Muschio ist eine singdarstellerisch hinreißende Adina mit federleichten Koloraturen und leuchtenden Spitzentönen, Kai Kluges Nemorino lässt sein tenorales Herz mit ausdrucksvoller lyrischer Emphase sprechen, Björn Bürger glänzt als stimmgewaltiger Macho-Belcore, Laia Vallés als Mitglied des Opernstudios hat als Gianetta feine Kantilenen, und der italienische Bass Giulio Mastrototaro ist ein überaus gewandt parlierender Liebestrank-Guru, der seinen Dulcamara auch schon an der Mailänder Scala gesungen hat und den Spaß dieser Inszenierung in vollen Zügen mitgestaltet. Donizettis Italianità ist mit ihrem mediterranen Klangkolorit bei Spotti in besten Händen. 

 

Nach der Pause hat sich die Pflanzenproduktionshalle „Paradiso“ in ein subtropisches Gewächshaus verwandelt: die Natur hat sich die rationalisierte Funktionswelt zurückerobert, so wie allmählich der Zaubertrank Wirkung zeigt. Freilich ist Dulcamaras Gebräu einfaches Rotwein-Gemisch, und es ist Nemorinos Glaube an dessen Wirkung, der zwar keine Berge versetzt, aber Adinas Herz erweicht. Schon beim ersten Duett der Beiden spielt ja die Natur, mit Bach und Flur, Blumenduft und Morgenluft, Felsenquell und Meereswogen eine metaphorische Rolle. Nun bettet die Inszenierung den Liebeswahn in ein künstliches Paradies, in dem Adam und Eva züchtig mit Feigenblättern bekleidet zu Vogelgezirp lustwandeln und der Liebestrunkene im Blumenbeet seine berühmte Arie „Una furtiva lagrima“ singt. Die verstohlene Träne Adinas bleibt zwar unsichtbar, stattdessen triumphiert Nemorino in einer Slow-Motion-Traumsequenz über seinen Nebenbuhler, das Landvolk hat sich seiner Overalls entledigt und zu Individuen kostümiert. Was in der Realität trotzdem noch schief gehen könnte – Belcore hat den Ehevertrag schon unterschrieben und Nemorino soll für Geld in den Krieg ziehen – wandelt Adinas Liebesbekenntnis zum Happy End.  

 

2. November 2022

Richard Wagners „Siegfried“ als spannender Psycho-Thriller

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben ihre Inszenierung für den Stuttgarter „Ring“-Zyklus neu einstudiert

 

Zurück vom Grünen Hügel in Bayreuth, hat Cornelius Meister als erste Premiere der Stuttgarter Opernsaison Richard Wagners „Siegfried“ dirigiert. Es ist der dritte Teil des neuen „Ring“-Zyklus, der mit Stephan Kimmigs Inszenierung von „Rheingold“ im November 2021 begann und der von drei Regieteams zerlegten „Walküre“ im April dieses Jahres fortgesetzt wurde. Im Januar folgt Marco Stormans Deutung der „Götterdämmerung“, im März und April werden dann alle vier „Ring“-Opern als Zyklus innerhalb einer Woche aufgeführt. „Siegfried“ - von Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock nun nach 23 Jahren neu einstudiert – ist dabei eine Reverenz an den legendären Stuttgarter „Ring des Nibelungen“ der Zehelein-Ära. Mit sechs großartigen Rollendebüts neben Daniel Brenna in der Titelrolle und Matthias Klink als Mime ist diese Aufführung szenisch wie musikalisch erneut ein großer Wurf. Das Publikum im ausverkauften Opernhaus war hörbar begeistert.

 

Nach dem diesjährigen Bayreuther szenischen „Ring“-Fiasko als Netflix-Grusel-Kolportage muss der Stuttgarter Generalmusikdirektor den dramaturgisch so schlüssigen und in seiner Personenregie überragenden „Siegfried“ wohl als Wohltat empfinden. Allerdings gerät ihm der 1. Akt orchestral über weite Strecken des Mime-Siegfried-Geplänkels zu massig: man könnte meinen, Meister hätte noch die akustischen Verhältnisse des tiefen Bayreuther Festspielhaus-Orchestergrabens im Ohr, vieles am eher kammermusikalisch durchleuchteten Dialog zwischen falschem Ziehvater und „zullendem Kind“ ist instrumental zu dick aufgetragen. Andererseits spielt und singt Matthias Klink seinen Mime grandios fokussiert, während Daniel Brenna den jungen Wilden tapsig bärenstark und mit kehligem Tenor auf die Bühne stellt. Erst mit dem Auftritt des Wanderers und seinem Rätsel-Duell mit Mime gewinnt der Akt in Anna Viebrocks düsterer Wohnküchen-WG die richtige musikalische Balance. Der finnische Bariton Tommi Hakala als Lederjacken-Wotan artikuliert genauso messerscharf wie Klink, seine breitbeinig hüftwiegenden Kampfschritte wiederum ähneln dem Bewegungsdrang seines Enkels Siegfried, von dem er sich als Held und Gatte Brünhildes die Erlösung der Welt erhofft.

 

Doch im 2. Akt – von Cornelius Meister mit dem dynamisch und klangfarbig auftrumpfenden Staatsorchester vielschichtig ausgelotet – wird dieser Wotan-Spross zum blutbesudelten Zweifach-Täter: erst tötet er den Riesen Fafner (David Steffens) und raubt Tarnhelm und Ring des Nibelungenschatzes, dann seinen Ziehvater Mime. Zuvor kommt es zwischen Alberich (der französische Bariton Alexandre Duhamel mit einer ebenfalls singdarstellerisch starken Partie) und dem Wanderer vor der mit Stacheldraht bewehrten Todeszone Fafners zur markant inszenierten Begegnung, und Beate Ritters Waldvogel-Debüt ergänzt die sängerischen Glanzleistungen. Äußerst originell und überzeugend gestalten Wieler/Morabito dann den Schlussakt. In einer fensterlosen, von einem Video-Screen dominierten Geburtskammer kommt es zur Auseinandersetzung zwischen der „urweisen, allwissenden“ Erda (Stine Marie Fischer mit magischen Tiefenregistern) und Wotan, der sich mit seiner früheren Geliebten in einen verzweifelten Totentanz windet, und nach der Konfrontation mit dem ödipalen Siegfried, der den Speer des Großvaters zerschlägt, beginnt die schier endlose Schlussszene.

 

Kein Walküre-Felsen, keine wabernde Feuerlohe: Über eine halbe Stunde reden, singen Siegfried und die von ihm zum irdischen Leben erweckte Wotanstochter Brünnhilde aufeinander ein und aneinander vorbei. „Wie Wunder tönt, was wonnig du singst; doch dunkel dünkt mich der Sinn“, versucht der Wilde im blutgetränkten Schlabber-Shirt mit der Aufschrift „Sieg Fried“ dieser Frau im weißen Schleiflack-Schlafzimmer klar zu machen, die als Ex-Walküre und Lieblingstochter Wotans noch halb im Banne Walhallas und ihres „ewigen Wissens“ befangen ist und doch ihn anschwärmt: „O Siegfried! Siegfried! Siegendes Licht! Dich liebt‘ ich immer; denn mir allein erdünkte Wotans Gedanke…“ Wie man den sprachlichen Schwulst und die gewaltigen musikalischen Längen dieser Szene, die so leicht kitschig oder peinlich oder statuarisch wirken kann, als berührende Menschenkomödie mit Tiefgang inszeniert, das haben Wieler und Morabito 1999 meisterhaft vorgemacht, und jetzt wieder wunderbar detailliert erneuert, bis zu jenem Moment, in dem Siegfried vor Brünnhildes Verzückung in den Schrank flüchtet. Und Brenna, der jetzt zu großer Kantilene gefunden hat, und eine in ihren Spitzentönen überwältigende Simone Schneider steigern dieses Finale mit einem von Cornelius Meister zum Gleißen gebrachten Staatsorchester zum enthusiastischen Schlusspunkt.

 

10. Oktober 2022

Im Dreiecksspiegel

Claudio Monterverdis „L’Orfeo“ als Opern-Parcours im Wizemann

 

Oben auf dem Parkplatz der Industriebrache an der Pragstraße kommt die mythische Geschichte von Orpheus und Euridice an ihr Ende. Auf einem Schutthügel, mit einem riesigen Hauswand-Werbeposter für „Tanz der Vampire“ im Rücken, hat Josefin Feiler als Proserpina noch einmal ihren Dreiecksspiegel zur Hand genommen, auch an die Menge der Zuschauer werden Spiegelsplitter verteilt, und sie beschwört Pluto, den Gott der Unterwelt, dem Sänger die Rückkehr seiner Gattin ins irdische Leben zu gewähren. Doch vor dem Gebot, ihr beim Geleit den Blick nicht zuzuwenden, rennt Orfeo davon, der Geisterchor kommentiert: „Orfeo besiegte die Hölle und wurde von seiner Leidenschaft besiegt. / Ewigen Ruhm aber verdient nur der, der sich selber besiegt.“ Mit Monteverdis berühmtem Ritornell endet der Opern-Parcours.

 

Ganz am Ende ihrer ersten Nach-Corona-Spielzeit hat die Stuttgarter Oper sich noch einmal (wie in den beiden Jahren zuvor mit ihren Musicals am Neckarhafen) ins Freie begeben: der Regisseur Marco Storman erzählt Claudio Monteverdis „favola in musica“ an vier Stationen in und um die Wizemann-Club-Location. Es beginnt im leergeräumten Biergarten mit Josefin Feilers Auftritt als gestenreicher La Musica: „Ich bin die Musik, die mit lieblichen Tönen / dem verwirrten Herzen Ruhe schenkt“ singt sie auf Italienisch, begleitet von einem kleinen Ensemble von Barock-Instrumentalisten im Hintergrund, und die Töne schweben wunderbar klar in den Abendhimmel. In einer Prozession führt sie die Besucher die Straße entlang zum Tor in die Unterwelt: Feuerrot leuchten die Lichtröhren in der Schwärze des Wizemann-Saals, in dem in der Mitte ein schwarzer Laufsteg zu einer silbrigen Flügeltür führt. Zu beiden Seiten haben Musiker des Staatsorchesters Platz genommen, sie begleiten die Hirten und Nymphen auf ihren Podesten mitten im Publikum bei ihren Festgesängen für Orpheus, den mythischen Sänger. Auch Besucherinnen werden aufgefordert, den Körper des mythischen Helden zu betasten, er wird mit Blumen überschüttet. Musikalisch und szenisch ist das unterhaltsam. Mitten im Fest kommt plötzlich die Nachricht von Euridices Tod, Pihla Terttunens Todesbotin verwandelt sich in La Speranza, die Hoffnung: „Nun können dir nur noch ein großes Herz / und schöner Gesang helfen.“

 

Diesen schönen Gesang hat der Tenor Moritz Kallenberg (in schwarzen Shorts und Flower-Power-Hemd) bis dahin schon trefflich demonstriert. Auch Mingjie Lei, Angel Macias und Junoh Lee als die Hirten, Andrea Conangla und Sirin Kiliç als Nymphen geben ein glänzendes Vokalquintett, und auch das Orchester unter der Leitung des irischen Dirigenten Killian Farrell, an dem das Publikum auf dem Weg zur dritten Station vorbeizieht, musiziert seinen Monteverdi kultiviert. Dass man von der (Saal-)Unterwelt nun im Fabrikhof des Wizemann-Geländes mit Orfeo erst an den Ufern des Styx angelangt ist, darf man nicht so wörtlich nehmen: Regisseur Storman folgt bei seiner Inszenierung nach eigenen Worten „mehr der Logik des Raumes als der Logik des Werks“. Und da kommt die Eisentreppe gerade recht, an deren oberem Ende der Fährmann Charon die Toten in die Unterwelt geleitet. Bevor das Publikum mit Orfeo in die Parkplatz-Oberwelt hinaufsteigt, entspinnt sich zwischen ihm und dem in einen grauen Reifrock gewandeten Andrew Bogard ein komödiantischer Dialog. Zu den Flöten- und Theorben-Verzierungen der Sinfonia bezirzt Orfeo seinen Widerpart, der gibt den Weg frei und liefert sich oben als Pluto bassmächtig das nächste Dialog-Duell mit Proserpina. Bis alle der geschätzt 500 Besucher versammelt und die Kopfhörer verteilt sind, über die das Orchester aus der (Saal-)Unterwelt eingespielt wird, dauert es eine Weile. Aber das gehört nun mal zu solchen Mitgeh-Parcours, bei denen ein Werk dem Publikum auf ganz andere Weise nahekommt. Die leuchtenden Augen mancher Zuschauer zeigen: es funktioniert.


Wiedersehen im Schnee

Umberto Giordanos „Siberia“ als musikalisch-szenische Collage im Bregenzer Festspielhaus

 

Dass mit Puccinis „Madame Butterfly“ und Umberto Giordanos “Siberia” zwei italienische Opern die Bregenzer Festspiele 2022 eröffnet haben, die beide in der Saison 1903/04 in der Mailänder Scala zur Uraufführung kamen, ist mehr als ein netter Zufall. In beiden Werken stehen Frauenschicksale im Mittelpunkt: die japanische Geisha Cio-Cio-San hofft vergebens auf ein glückliches Leben in Amerika und tötet sich aus Verzweiflung, die St. Petersburger Kurtisane Stephana folgt ihrem Geliebten ins Straflager nach Sibirien. Giordanos „Siberia“ wird heutzutage nur noch selten gespielt: wohl wegen der sängerisch anspruchsvollen Partien für Stephana und Vassili hat die Bregenzer Festspielintendantin Elisabeth Sobotka die Oper im Festspielhaus wieder auf die Bühne gebracht.

 

Vom musikalischen Stil des italienischen „Verismo“, welcher die Wirklichkeit ungeschminkt abbilden soll, ist Giordanos „dramma in tre atti“ vor allem der Anfang und Schluss der Oper beeinflusst. Grell ist das Klangmaterial der Ouvertüre, das der russische Dirigent Valentin Uryupin mit den Wiener Symphonikern genauso drastisch darbietet wie die Dialogfetzen im Palais des Fürsten Alexis, an den der Zuhälter Gleby (Scott Hendricks als singdarstellerisch beweglicher Bariton) die schöne Stephana verkauft hat und der vom eifersüchtigen Vassili umgebracht wird. Das szenische Durcheinander des 1. Akts wird noch dadurch vermehrt, dass der Regisseur Vasily Barkhatov eine fremde Figur einführt, die auf der Suche nach ihrer Vergangenheit mit der Urne ihres verstorbenen Bruders aus Mailand nach Russland fliegt und auf den Spuren ihrer verschollenen Eltern in den Weiten Sibiriens landet. Das wird filmisch in Schwarz-Weiß dazu erzählt, doch der Einbau dieser „alten Frau“, die auch noch eine kurze Gesangsrolle des „Mädchens“ im Gulag-Archiv im Mittelakt übernimmt, in die Opernhandlung ist derart unbeholfen inszeniert, dass Clarry Bartha am besten in den Filmausschnitten wirkt.

 

So wie die Regie verschiedene Zeitebenen collagiert, so versucht Umberto Giordano das Russland seiner Zeit durch musikalische Zitate als atmosphärisches Element einzubauen. Ein „Lied der russischen Bauern“ erklingt zu Beginn, im zweiten Akt wird das „Lied der Wolgaschiffer“ adaptiert, im Straflager tritt ein Balalaika-Orchester auf, und zum Osterfest singt der Gefangenenchor den orthodoxen Auferstehungshymnus. Die Liebesgeschichte von Stephana und Vassili taucht Giordano dagegen in schwelgerisches italienisches Belcanto, das von der kanadischen Sopranistin Ambur Braid mit üppigem Vibrato, vom russischen Tenor Alexander Mikhailov mit feinem, jedoch öfters gepressten Timbre bewältigt wird. Musikalisch am gelungensten ist der Schlussakt, bei dem der Regisseur für Vassili und Stephana noch einen Jungen und ein Baby zum Familienglück hinzuerfunden hat. Das hilft womöglich den beiden, als Gleby wieder auftaucht und seine frühere Edelhure ins alte Leben nach St. Petersburg zurückholen will, zusammenzubleiben und einen Fluchtversuch aus dem klischeehaft bebilderten Straflager zu wagen. Doch dabei wird Stephana tödlich verwundet und stirbt in den Armen Vassilis. Zu beiden legt sich die alte Frau in den Schnee, die nun über Zeiträume hinweg zu ihren Wurzeln gefunden hat.


Versunkener japanischer Traum

Bregenzer Festspiele starten mit Puccinis „Madame Butterfly“ auf der Seebühne

 

Eine Stunde vor Beginn von „Madame Butterfly“ tröpfelt es in den Wiener-Symphoniker-Teich, doch die Besucher harren noch in Vorfreude auf den Einlass zur Seebühne. Der österreichische Bundespräsident ist angekündigt, die Bregenzer und Vorarlberger Schickeria hat sich in Schale geworfen, nach der Vorstellung ist man um Mitternacht zur Premierenfeier auf der Werkstattbühne im Festspielhaus geladen. Doch die Aussichten für diesen Mittwochabend schauen mulmig aus, der zuverlässige Schweizer Meteo-Wetterbericht gibt Gewitterwarnung für 23 Uhr. Umso hoffnungsvoller, dass um dreiviertel Neun Tiepolo-Wölkchen den Himmel auflichten und das Spiel auf dem See vor 7000 Zuschauern pünktlich um 21.15 Uhr im Trockenen beginnen kann.

 

Was für ein Auftakt! Enrique Mazzola bringt mit den im Festspielhaus platzierten Wiener Symphonikern den Bregenz-Open-Acoustics-Luxussound hautnah zum Klingen, hoch oben im wie ein riesiges Papiertaschentuch im See schwimmenden Bühnenbild öffnet sich eine Luke und der amerikanische Marineoffizier Pinkerton wirft seinen Seesack hinunter. Diese Bühne von Michael Levine – 23 Meter hoch, 1340 Quadratmeter Fläche, 300 Tonnen Gesamtgewicht – wirkt wie eine fragile Gebirgslandschaft mit Serpentinenwegen kreuz und quer: ein genialer Wurf und für sich allein ein künstlerisches Objekt, bemalt wie eine japanische Tuschzeichnung mit zartester Vegetation und skizzenhaftem Gipfelpanorama, getaucht in wechselnde Stimmungsfarben.  Zur Ouvertüre wirbeln die zuvor in der grauweißen Bühnenlandschaft wie verschluckten, weiß maskierten Geister der Ahnen in dieser „japanischen Tragödie“ schon zum Tanz.

 

Pinkerton (Edgaras Montvidas mit glänzend stimmmächtigem Tenor) heiratet die 15jährige Geisha Cio-Cio-San, genannt Butterfly, arrangiert vom Heiratsvermittler Goro (Tayland Reinhard), „für 999 Jahre, mit Recht auf monatliche Kündigung“. Wenn sich die beiden auf der Riesenbühne zum ersten Mal begegnen, leitet eine pittoreske Parade der 40 Geishas mit roten Papierschirmen diese Szene ein. Nach exotischem, geschäftsmäßig abgewickelten Heiratsritual wird in Gesellschaft mit dem amerikanischen Konsul Sharpless (Brian Mulligan mit öligem Bariton) gefeiert. Effektvoll, wie Puccini hier, zu Pinkertons „America-Forever“-Lebens-Credo, die „Stars-and-Stripes“-Nationalhymne zitiert, und wie aus der Einstiegsluke des Vorspiels eine riesige USA-Flagge am Fahnenmast emporsteigt. „Überall auf der Welt fühlt sich der Yankee heimisch – das Leben zu genießen, wo Schätze sich erschließen“, so lautet Pinkertons amerikanischer Traum. Doch Cio-Cio-San lebt einen anderen Traum: sie will sich von ihrer elenden Herkunft emanzipieren, vertraut sich ganz dem Fremden an – und sie liebt diesen Pinkerton, für den seine japanische Heirat nur ein Abenteuer ist. Großartig komponiert Puccini diese gegensätzlichen Gefühlswelten, und grandios verkörpert die usbekische Sopranistin Barno Ismatullaeva die Fallhöhe zwischen leidenschaftlicher Hingabe und zartesten Vokalisen. Jubelnder Szenenbeifall nach diesem rotglühenden Aktfinale, das von der Gewitterkulisse des Bodensees mit wildem Wetterleuchten über Lindau begleitet wird. 

 

Minuten später - drei Jahre sind vergangen und Butterfly lebt mit ihrem Kind im „amerikanischen Kartenhaus“ von Nagasaki, immer noch wartend auf die Rückkehr Pinkertons und am untersten Rand der Levine-Bühne in die Flagge getaucht, die zuvor von starker Westbrise bewegt am Mast flatterte – wird die Seebühnen-Vorstellung genau nach einer Stunde wegen akuter Gewitterwarnung abgebrochen. Der Junge kann sein Papier-Faltboot gerade noch ins Wasser setzen, mit dem Auftritt des Konsuls, der Cio-Cio-San Pinkertons kühlen Abschiedsbrief überbringen will, geht es eine halbe Stunde später für die 1300 Hauskarten-Besucher drinnen weiter. So authentisch das sängerisch vor dem Orchester auch abläuft: Welche Faszination Andreas Homokis Inszenierung mitsamt der fabelhaften Aura der Seebühne erzeugte, wird jetzt überdeutlich. Das wider alle Vernunft hoffnungsvolle Trauer-Spiel zwischen Butterfly und ihrer Dienerin Suzuki (wunderbar ausdrucksvoll in jeder Nuance: Annalisa Stroppa) ist auf Proszeniummaße reduziert, und welch unermessliche Tiefe könnten Barno Ismatullaevas erschütternde Arie „Un bel di, vedreme“ und ihr Seppuku-Ende in der gewellten Gebirgslandschaft auf dem See erreichen!  - Noch zwei Dutzend Vorstellungen bei hoffentlich beständigerem Wetter bis 21. August.


Abgründiges Spiel mit Genderidentitäten

Bastian Kraft inszeniert „Rusalka“ von Antonín Dvorák in der Stuttgarter Oper

 

Melusine, Undine, Rusalka: die literarische Tradition der Wassernymphen, die mit der Menschenwelt in Berührung kommen und deren Liebe zu einem Prinzen tragisch endet, geht bis ins Mittelalter zurück. Besonders in der Romantik wurde die Begegnung mit der Natur und ihren Elementargeistern zum metaphysisch überhöhten Thema, und als Märchenmotiv bekam es abgründige Dimensionen. Der Regisseur Bastian Kraft, 1980 in Göppingen geboren und für seine Theaterarbeiten im deutschsprachigen Raum mehrfach ausgezeichnet, hat nun bei seinem Opernregie-Debüt in Stuttgart mit Antonín Dvoráks „Rusalka“ einen triumphalen Einstand gefeiert. So bildstark und facettenreich, wie er das „lyrische Märchen“ auf die Bühne bringt, und so klanglich fein differenziert, wie Oksana Lyniv das Staatsorchester dirigiert, ist dies die viel umjubelte und mit Standing Ovations gefeierte, gelungenste Neuproduktion dieser Spielzeit.

 

Rusalka lebt als Nixe mitten im Wald in einem See, doch anders als ihre Elfengeschwister sehnt sie sich nach Verwandlung in einen Menschenkörper mit einer Menschenseele. Bühnentechnisch geschieht das zunächst auf zwei Ebenen: Auf einem Steg über einer durch Spiegelprojektionen in ein Wasserreich verwandelten Spielfläche singt Esther Dierkes ihr trauriges Lied an den Mond, nach schlichtem Volkston leidenschaftlich sich entfaltend und wie auf Händen getragen von Lynivs orchestraler Klangmagie. Doch ihre Doppelgängerin unten im Spiegelsee, die Drag-Performerin Reflektra, singt mund- und lippensynchron täuschend echt dasselbe, und da sich in dieser Kunstfigur der Körper von Joel Small verbirgt, wird das romantische Doppelgängermotiv noch überlagert vom Transgender-Spiel mit verschiedenen Identitäten. Auch die singdarstellerisch exzellenten Elfen Natasha Te Rupe Wilson, Catriona Smith und Leia Lensing sind gedoppelt von den lippentechnisch perfekten und naturgemäß attraktiven Drag-Queens Vava Vilde, Lola Rose und Purrja, wie Reflektra Top-Stars ihrer Profession. Auch der Drag-King Alexander Cameltoe als Alter Ego von Goran Jurics stimmmächtigen Wassermann, sowie Judy LaDivina als doppelte Hexe Jezibaba neben Katia Ledoux im glutroten Nachtklub-Outfit, die bei der großen Spiegelszene im 3. Akt von der Königsloge herab mitmischt, sind Teil einer lustvollen Performance, die doch Rusalkas tragisches Dilemma nicht überdeckt.

 

Sie fühlt sich fremd in ihrer Haut, und das sieht Krafts Dramaturg Franz-Erdmann Meyer-Herder als „die perfekte Folie für queere Lesarten“ von Dvoráks „Rusalka“. Dass diese These in der Stuttgarter Neuinszenierung theatralisch und nicht theoretisch abgehandelt wird, ist ein großes Plus der Aufführung. Vor allem im zweiten und dritten Akt ist diese Existenz zwischen den Welten großartig inszeniert. Da Rusalka im Tausch für eine Menschenseele ihre Stimme eingebüßt hat, ist sie am Hof des Prinzen ohne Kontakt und Kommunikation. Reflektra, vor dem Spiegel in überlebensgroßen Live-Video-Projektionen eingefangen, stellt diese Situation als Ausgestoßene mimisch grandios dar, kontrastiert von der auch musikalisch genormten Konformität zwischen der Fürstin (Alison Cook) und dem Prinzen. David Junghoon Kim verkörpert diese Rolle mit einem in den Höhen strahlenden Tenor, dessen Timbre sich vom sentimentalen Schmachten („mein weißes Reh“) und fühllosen Besitzerstolz zu echter Leidenschaft wandelt. Doch Rusalka, entfremdet in der Menschen- wie in der anderen Welt, kann nur noch mit einem todbringenden Kuss, dessen eisige Kraft Esther Dierkes zuvor mit gellendem Sopran beschworen hat, mit ihm zusammen im Nichts versinken. Ihr Fischschwanz-Alter-Ego jedoch schwebt verklärt in den Bühnenhimmel. Musikalisch sind die manchmal an Richard Wagner erinnernden Leitmotive sorgfältig herausgearbeitet, die aus Volksliedern, Arien und Ensembles gemischte Partitur wird hinreißend dargeboten.

 

16. Juni 2022

Musik-Tanz-Theater in Vollendung

Purcells „Dido & Aeneas“ mit Sasha Waltz & Guests beim Ludwigsburg Festival


 

Terpsichore, Thalia, Euterpe – die Musen des Tanzes, des Theaters und der Musik - wirken selten so glücklich zusammen in einem Gesamtkunstwerk wie in Sasha Waltz‘ Tanzoper „Dido and Aeneas“. Die seit ihrer Premiere im Jahr 2005 in vielen Ländern und auf zahlreichen Festivals gezeigte Produktion war nun endlich auch bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen zu sehen, eigentlich sollte sie schon im Mai 2020 die erste Saison des neuen Intendanten Jochen Sandig eröffnen, doch Corona kam dazwischen. Was das Publikum im Forum erlebte, waren musikalische und tänzerische Sternstunden mit der von Christopher Moulds geleiteten Akademie für Alte Musik und  dem Vocalconsort Berlin, mit exzellenten Sängerdarstellern und dem grandiosen Tanzensemble der Choreographin Sasha Waltz, die auch Regie führte.

 

Mit einem Sprung ins Meer beginnt das Stück um Liebe und Schicksal, die weniger von menschlicher Vernunft als von unbewussten Kräften geleitet werden, welche in Purcells barockem Musikdrama als mythische Götterwesen repräsentiert sind. Phoebus und Venus, Amor und Jupiter werden vom Chor zitiert, von Tritonen und Nereiden wird im Prolog gesungen, der auf der Bühne von zauberhaften Unterwasserspielen begleitet wird. In dem Wassertank auf der Bühne schlängeln, drehen, wippen, umarmen sich Tänzerinnen und Tänzer, eingehüllt in ihre wehenden Kleider. Chor und Orchester feiern „diesen heiteren Tag“, in einem der dem Opernlibretto von Nahum Tate hinzugefügten Tanzlieder heißt es: „Lockende Stunden stehen euch bevor.“ Doch die unbeschwerte Fröhlichkeit ist nicht von Dauer. Plötzlich stehen zwei Kämpfer auf der leeren Bühne, in der Slow-Motion-Pose des Bogenschützen: Aeneas (der Tänzer Lukas Malkowski) und Aeneas (der Bariton Nikolay Borchev), Flüchtlinge aus dem Trojanischen Krieg, die mit ihren Gefährten in Karthago gestrandet sind. 

 

Sasha Waltz erzählt die nun beginnende und tragisch endende Liebesgeschichte mit der karthagischen Königin Dido abstrakt, doch mit sinnlich überwältigenden Bildern: die Gruppe der Trojaner, mit einem Kind auf den Schultern, die willkommensbereiten, stilvoll gekleideten Karthagerinnen, mit der doppelten Dido (Marie-Claude Chappuis und Clémentine Deluy) in der Mitte. Chappuis singt von „torments not to be confessed“: die unaussprechlichen Qualen sind Liebesklagen. Ihre Gefährtin Belinda (Aphrodite Patoulidou / Sasa Queliz) rät zum Glücklichsein: „Fortune smiles, and so should you!“ Während sich die Tanz-Dido noch in Qualen windet, schmiegt sich die Seele-Dido (Michal Mualem) schon in eine Aeneas-Umarmung. Diese von Sasha Waltz wunderbar anschaulich und einfühlsam choreographierte Szene gehört zu den absoluten Höhepunkten der Aufführung.

 

Dreierkonstellationen (Körper, Geist, Seele?) sind ein Leitmotiv in dieser Tanzoper, die zum Beispiel wie ein Zitat der drei Grazien aus der griechischen Mythologie zum Ende des 1. Akts zum Gesang „Fürchtet nichts, euch droht keine Gefahr“ auftauchen. Nun irrt ein Kind wie im Schattenriss über die Bühne, und aus einem der schwarzen Fenster der Kulisse quillt ein orientalisch bunter Hofstaat, untermalt von heiterer Musik und fröhlichstem Gesang: „Tanzt und trollt, ihr Liebesgötter, euch gehört der Tag!“ Die farbenfrohen Kleider fliegen hoch, ein Hochzeitspaar wird üppig ausstaffiert, doch plötzlich ist die Bühne leer, ein einsamer Tänzer bewegt sich widerstrebend, wie magnetisch angezogen, auf eine Falltür zu, die sich öffnet. Virgis Puodziunas ist mit seinem eindrucksvollen Solo das Aeneas-Pendant zur Dido-„Seele“: mit seinem Sturz in die Unterwelt beginnt der Hexensabbat. Auch hier verzichtet Waltz auf Kostümklamauk, allein die kollektiven Bewegungsrituale zeigen das Unheimliche, Bedrohliche der Szene, die sich zu gespenstischen Körperklumpen steigert. Tänzer hängen an den Seilen eines Mobiles, Körper rollen wie Steine über die Bühne, Menschenlangen schleudern die Fäuste gen Himmel, getanzte Bilder von Zerstörung und Verwüstung begleiten den vom falschen Jupiterboten verkündeten Auftrag an Aeneas, Karthago zu verlassen.  

 

Die Schlussszene vermittelt stärkste choreographische Eindrücke: in zwei schwankenden Reihen stehen sich Karthager und Trojaner gegenüber, Deluy und Malkowski versuchen sich, in der Horizontale gehalten von ihrer Gruppe, mit den Fingerspitzen zu berühren, umsonst. Als Aeneas sie verlässt, geht Dido in den Tod: „When I am laid in earth“ gehört zu den berühmtesten Arien der Operngeschichte, und die Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis singt sie vollkommen. Ihr „Remember me! (Denkt an mich!)“ hallt noch nach, wenn eine Tänzerin vier schlichte Feuerschalen auf der dunklen Bühne entzündet, die zu den letzten Klängen der Akademie für alte Musik verlöschen. Lange, begeisterte Ovationen.

21. Mai 2022

Im Fluchtpunkt traumatischer Erinnerungen

Johannes Kalitzkes Kammeroper „Kapitän Nemos Bibliothek“ eröffnet die Schwetzinger Festspiele

 

Unter dem Motto „Arkadien“ feiern die Schwetzinger Festspiele in diesem Jahr ihr 70jähriges Jubiläum. Bis zum 29. Mai gibt es 47 Veranstaltungen im Rokokotheater und den angrenzenden Sälen des Schwetzinger Schlosses, viele davon werden vom SWR als Hauptsponsor weltweit im Rundfunk übertragen. Eröffnet wurde das Festival am Wochenende mit der Uraufführung des Musiktheaters „Kapitän Nemos Bibliothek“ von Johannes Kalitzke, einem Auftragswerk in Kooperation mit den Bregenzer Festspielen.

 

Kalitzkes neuestes Werk ist eine Kammeroper nach dem gleichnamigen Roman des schwedischen Autors Per Olov Enquist. Zwei Jungen, die bei ihrer Geburt vertauscht werden und erst mit sieben Jahren zu ihren biologischen Müttern zurückkommen, stellen sich als Erwachsene ihrer Vergangenheit und den dramatischen Ereignissen, in denen sie aufgewachsen sind. So fragmentarisiert und verschachtelt wie der Roman ist auch das Libretto, das in 23 Szenen die verschiedenen Zeit- und Bewusstseinsebenen miteinander verschränkt. Bei der Schwetzinger Uraufführung mit dem Ensemble Modern wurde das Werk vom Publikum mi großem Beifall aufgenommen.

 

Der Bühnenraum von Angela Baumgart im Rokokotheater ist eine Art U-Boot-Dom mit riesigen Bullaugen, hinter denen die scheinbare reale Dorfidylle mit einer phantastischen Unterwasserwelt in den Skizzen der Videokünstlerin Conny Klar abwechselt. Mit einem verfremdeten Choral („O Haupt voll Blut und Wunden“) beginnt das Stück in der vom Pastor (Reuben Willcox) angeführten pietistischen Gemeinde. Kunstgriff des Regisseurs und Puppentheaterspielers Christoph Werners ist es, die beiden Protagonisten mit kindgroßen, den Sängern stark ähnlichen Puppen zu verdoppeln, die von schwarz maskierten Spielern virtuos bewegt werden. Der junge russische Countertenor Iurii Iuskevich und die Sopranistin Johanna Zimmer gestalten ihre komplexen Rollen sängerisch und darstellerisch brillant, durch ihre Interaktion mit den Puppen entsteht eine Art magische Zwischenwelt. 

 

Musikalisch kontrastiert die von den zehn Instrumentalisten des Ensemble Modern farbig expressiv dargebotene Partitur die erinnerte Realität der beiden Jungen und ihrer Mütter mit dem Fluchtpunkt von Nemos Unterwasser-Bibliothek.  Josefinas Bigotterie und Alfilds Kindheitstraum eines sexuellen Missbrauchs, aus dem sie in ihre Phantasiewelt entflieht und ins Irrenhaus bringt, werden von der israelischen Altistin Noa Frenkel eindrucksvoll verkörpert. Der von E-Gitarre und rhythmisch scharfen Schlagzeug- und Bläserclustern grundierten Grausamkeit dieser Ereignisse steht die von Akkordeon-Riffs und Streichtrioklängen begleitete Liebe und Eifersucht der beiden Jungen zu Eva-Lisa (Rinnat Moriah mit artistischen Koloraturen) gegenüber. Eine eigene musikalische Ebene schafft Johannes Kalitzke mit den Unterwasser-Szenen, in denen Unterbewusstes im Dialog bearbeitet wird: „Wenn man den Schmerz fortwirft, war er vergebens“ ist dessen Fazit.

2. Mai 2022

Dreifache Ästhetik

„Die Walküre“, dirigiert von Cornelius Meister, überzeugt in ihrer musikalischen Interpretation

 

Der letzte Stuttgarter „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner, damals in der Zehelein-Intendanz zu Beginn des Jahrtausends, war ästhetisch revolutionär: nicht eine einzige Regiehandschrift bestimmte die Deutung der vier Werke der Tetralogie, sondern vier Regisseure boten ihre verschiedenen Deutungen auf der Bühne in durchaus unterschiedlichen Inszenierungen. „Die Walküre“ als zweite Neuproduktion des im vergangenen November mit Stephan Kimmigs „Rheingold“ begonnenen neuen Zyklus toppt noch das damalige, gelungene Experiment: nun sind es gleich mehrere Regieteams, die sich mit den drei Akten auseinandersetzen. Das hat zumindest den Vorteil, dass man auch, wenn man von der szenischen Darbietung des einen Teils nicht begeistert ist, auf die anderen neugierig und gespannt sein kann.

 

Das niederländische Theaterkollektiv Hotel Modern macht den Anfang mit einer Inszenierung des Siegmund-Sieglinde-Liebesdramas, in welchem ein an den Rändern zerfetzter, vor Beginn bei offenem Vorhang wie eine düstere Wolke über der Bühne hängender Video-Screen eine Hauptrolle spielt. Darin hechelt schon zum Sturm-Vorspiel, welches von Cornelius Meister und dem Staatsorchester mit atemberaubender Hochspannung musiziert wird, eine Ratte die Gleise entlang, während sich einige Techniker an den beleuchteten Regalen links und rechts zu schaffen machen. Sie sind die Figurentheater- und Videozauberer von Hotel Modern (Herman Helle, Pauline Kalker, Arlène Hoornweg), die im Verlauf des 1. „Walküre“-Akts immer neue Tabletts mit Miniaturlandschaften vor ihre Live-Kameras platzieren und die Handlung mit ihren bewegten Bildern kommentieren. Die Ratten, welche nicht nur zur Liebesekstase der Wälsungen-Zwillinge sich zärtlich beschnüffeln, sondern bei dem Griff des magischen Schwerts Nothung aus der Weltesche durch Wotans als potentiellen Zukunftshelden gezeugten Sohn sich blutig zerfleischen, sind hier das szenische Leitmotiv, zudem bewegen Trümmerfelder, Kriegsruinen, verrostete Panzer und Wüstenoasen die Videobühne. Die Sänger dagegen singen statuarisch von der Rampe und strecken höchstens mal die Arme nach oben. Apropos Ratten: mit seinem Mäuse-„Lohengrin“ bei den Bayreuther Festspielen 2010 hatte der Regisseur Hans Neuenfels das Thema schon überzeugender bearbeitet.

 

Nun aber zur musikalischen Interpretation. Simone Schneider und Michael König sind ein durchschlagendes Wälsungen-Paar, auch ihr erster Auftritt mit Rattenköpfen tut dem keinen Abbruch, selbst solche „abstrakten“ Regie-Einfälle wie Sieglindes „Labung biet ich / dem lechzenden Gaumen“, die statt Becher mittels gekipptem Stuhl ausgeschenkt wird, schmälern nicht die sängerisch nuancenreiche Begegnung, die sich zu tosender Erregung steigert. Cornelius Meisters Orchesterbegleitung könnte hier farblich abgestufter sein, in den großen Charakter-Konfrontationen des 2. Akts und im elegisch aufbäumenden Finale des 3. Akts ist seine musikdramatische Intensität herausragend. Goran Juric, im „Rheingold“ als Wotan besetzt, singt den Hunding mit abgrundtiefer Bassschwärze. Wenn das Staatsorchester den liebesekstatischen Inzestjubel im Vorspiel zum 2. Akt wogend ausklingen lässt, sind wir in einer anderen Ästhetik: eine Glasvitrine mit einem Stück Astgabel, eine leere Bühne mit grauem Videogewölk, ein Herr im grauen Geheimrats-Gehrock, zu dem sich mit jubelnden (leider in den Höhen nicht lupenreinen) Hojotoho-Rufen Brünnhilde gesellt. Das Gespräch zwischen Wotan und seiner Lieblings-Walküre ist in jedem Impuls der Musik gestisch präzise inszeniert, der Regisseur Urs Schönebaum macht auch den Disput von Wotan und Fricka über Moral und Utopie zum höchst spannenden Musiktheater. Hier wandelt sich Brian Mulligan vom zukunftsorientierten Patriarchen zur tragischen Figur, und die grandiose Annika Schlicht triumphiert darstellerisch und sängerisch mit ihrem ausdrucksstarken Mezzosopran. Okka von der Dameraus Brünnhilde steigert sich in der von Schönbaum wie ein Zitat des expressionistischen Bühnenbildners Adolph Appia mit Lichtdom und Fackeln faschistisch überhöhten Todesverkündung an Siegmund zu starkem Ausdruck. Schade, dass die Inszenierung des 2. Akts dann am Ende ins Pulp-Fiction-Groteske kippt: Wotan metzelt seinen Sohn mit unzähligen Dolchstichen, nachdem Brünnhilde die gedungene Mörderschar mit Fingerschnippen erledigt hat. 

 

Nach aufwändiger, 50-minütiger Umbaupause trifft man in dem von Ulla von Brandenburg, Benoit Résillot und Julia Mossé inszenierten Schlussakt auf eine Art Oberammergauer Passionstheater mit achtfarbigen Kostümen für die acht Walküren, die sich zu ihrem Walkürenritt auf bunten Wellenbahnen dekorativ gruppieren. Auch hier ist die musikalische Interpretation der szenischen weit überlegen. Während Brian Mulligans Wotan im bunten Priestergewand sich grüblerisch den Bart krault bei seinen Überlegungen, wie er seine Verstoßung Brünnhildes aus Walhalla in irdische Normalität abmildern könnte, balanciert Okka von der Damerau auf dem Farbgebirge hin und her und wird am Schluss als Figurendouble in einen Feuerkreis erhöht. Großer Beifall für das Sängerensemble und Cornelius Meister mit dem Staatsorchester, einige Buhs für das Hotel-Modern-Kollektiv. „Siegfried“ als dritte Oper des „Ring“-Zyklus wird in der kommenden Spielzeit in der alten Inszenierung von Wieler/Morabito neu einstudiert.


12. April 2022

Kindermut gegen Verbrennungsofen

Axel Ranisch inszeniert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ 

 

Vor fünf Jahren hatte Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ seine letzte Premiere an der Stuttgarter Staatsoper: nach seinem grandiosen „Salome“-Debüt hatte man dem russischen Regisseur Kirill Serebrennikov die Inszenierung der populären Märchenoper übertragen, die er als Parabel von Kapitalismus, Konsum und Ausbeutung interpretieren wollte. Doch fertig wurde nur ein 80-Minuten-Film, der mit Laiendarstellern in Ruanda gedreht wurde; während Serebrennikov dann in Russland der Prozess wegen angeblicher Korruption gemacht wurde und er im Gefängnis saß, ging das Stück halbkonzertant in Stuttgart über die Bühne. Nun aber hat Axel Ranisch, von dem seit 2018 mit Prokofjews „Die Liebe zu drei Orangen“ eine grandios komische Familienoper mit Digitalcharme im Repertoire ist, „Hänsel und Gretel“ als wieder sehr gelungenes Familienstück - aber doppelbödig mit Tiefgang – inszeniert. Die Bühne von Saskia Wunsch changiert zwischen Naturzauber und unheimlicher Hexenofenindustrie, am Pult des Staatsorchesters steht die russische Dirigentin Alevtina Ioffe. Auch die Videosequenzen von Philipp Contag-Lada sind kunterbunt bis düster. Für alle Mitwirkenden, besonders die beiden Sängerinnen der Titelrollen, gab es starken Premierenapplaus.

 

Wenn Humperdincks Märchenouvertüre mit dem Waldhörner-Thema des „Abendsegens“ einsetzt, beginnt auf dem Bühnen-Screen die filmische Wanderung in die Tiefen des deutschen Waldes: Es geht stetig grün schillernd hangabwärts, erst noch mit klimageschädigten Tannenbäumen, bald nach einem verheerenden Waldbrand in eine Art Schlucht mit der notdürftigen Behausung der Besenbinder-Familie. Alevtina Ioffes Orchesterfarben sind hier empfindsam abgetönt zwischen romantischer Klangmalerei, leitmotivischer Klarheit und drohenden Bläserattacken. Später rückt die Dirigentin, die seit letztem Jahr die musikalische Leitung des St. Petersburger Mikhailovsky-Thaters übernommen hat, das Staatsorchester öfters zu laut in den Vordergrund, das von Richard Wagners Musikdramen inspirierte Klangspektrum könnte differenzierter sein. Möglich, dass die Maestra nach ihrem Debüt im Orchestergraben des Stuttgarter Opernhauses in den weiteren Vorstellungen mit der Akustik besser vertraut wird. Ida Ränzlöv und Josefin Feiler, die beiden sängerisch und darstellerisch hervorragenden Hänsel und Gretel, müssen da schon manchmal an Lautstärke mächtig zulegen, um sich gegen das Orchester zu behaupten.

 

Während die Beiden im ersten Bild ihre Kinderlieder wie „Suse, liebe Suse“ oder „Brüderchen, komm tanz‘ mit mir“ trällern statt zu arbeiten, was Catriona Smith als strenge Mutter ihnen verbietet, hätte der lebenslustigere Vater (Shigeo Isino) dafür eher Verständnis -  wenn sie nicht schon zum Beerensammeln in den Wald geschickt worden wären. Schon hier tauchen unheimliche Gestalten in roten Overalls und LED-Helmen aus dem Waldboden auf: es ist die 7er-Leibgarde der blond toupierten Hexe, die bei Gretels „Ein Männlein steht im Walde“ auch schon mit rotem Umhang in Erscheinung tritt. Statt Erdbeeren gibt’s Lockvogel-Taler, und der hohle Baumstamm, auf dem sich die müden Kinder zum Abendsegen zur Ruhe legen, hat Ähnlichkeit mit dem langen Ofenrohr, das monströs im Hintergrund lauert. Mit dem Gesang des Taumännchens (Claudio Muschio) beginnt ein neuer Tag: herrlich, wie Feiler und Ränzlöv ihre Fröhlichkeit singdarstellerisch zum Ausdruck bringen, bunt und verführerisch auch die Fassade vom „Leckermaul“-Pavillon, dem die Hexe (darstellerisch glänzend im adretten Kostüm, doch stimmlich wenig bedrohlich Rosie Aldridge) mit ihren Helfern vorsteht. Auf der Rückseite der Drehbühne freilich klotzt das Ungetüm eines Verbrennungsofens, dahinter lässt ein Kran die kleinen Menschenpuppen in seinen Schlund purzeln, die Rohre einer Zuckerwerk-Raffinerie leiten das Material dann in einen Zylinder, wo die bunten Knusperscheiben hineinpurzeln. So assoziativ wie dieser Hexenkannibalismus, so spielerisch und überraschend die Befreiung der gefangenen Kinder durch einen den Zauberbesen schwingenden Hänsel. „Juchhei! Nun ist die Hexe ist tot!“ schmettert der von Bernhard Moncado vorzüglich einstudierte Kinderchor, auch die Eltern kommen dazu, die Familie ist wieder vereint. Ein Happy End? „Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht!“ singen alle, während die Hexe im Zylinder-Orkus verschwindet. Doch statt frömmelnder Zuversicht wäre ein Wandel der Verhältnisse bitter nötig: die Video-Waldlandschaft bleibt versengt und kahl zurück.


7. .Februar 2022

 

 

Berührende Rituale statt triumphaler Gesten

Bildstarke Neuinszenierung: Antonio Vivaldis Oratorium „Juditha triumphans“ in der Oper

 

Antonio Vivaldi war dreizehn Jahre als Violinist, Musiklehrer und Hauskomponist am Ospedale della Pietà in Venedig tätig, als er im Jahre 1716 für das für seine Musikkultur berühmte Waisenhaus ausschließlich weiblicher Mitglieder sein Oratorium „Juditha triumphans – Die über die Barbarei des Holofernes triumphierende Judith“ komponierte. Äußerer Anlass war der Sieg der venezianischen Republik über die Türken bei der Belagerung von Korfu, daher erhielt das Werk auch den Beinamen „Oratorium sacrum militare“ – ein biblischer Stoff aus dem Alten Testament, der in der Bildenden Kunst schon seit der Renaissance vielfach dargestellt worden war: die tollkühne Tat der hebräischen Judith am General Holofernes, dessen assyrische Armee die jüdische Stadt Bethulien belagert und der von ihr umgebracht wird. Alle Rollen des Oratoriums wurden im Ospedale von Frauen gesungen – entsprechend agieren bei der szenischen Neuproduktion der „Judith triumphans“ in der Stuttgarter Oper fünf Sängerinnen und die Frauen des Staatsopernchors auf der Bühne. Auch das Regieteam mit Silvia Costa, Rosabel Huguet Dueñas, Maroussia Vaes (Bühne) und Laura Dondolí (Kostüme) ist weiblich, die vom Premierenpublikum gefeierte Inszenierung des Oratoriums ist durchaus ungewöhnlich. 

 

So sphärisch manche der Chorpassagen und zahlreiche instrumentale Kostbarkeiten von Vivaldis Partitur klingen, so behutsam, einfallsreich und assoziativ widmet sich die italienische Regisseurin der Darstellung der unzähligen Rezitative und Da-Capo-Arien, die das Geschehen voranbringen und emotional beleuchten. Vier Theorben, fünf Gamben, Blockflöten, Schalmeien, Mandoline bereichern das Klangspektrum des Barockorchesters, doch die Ouvertüre schmettert zunächst trompetenbewehrt militärisch. „Waffen, Gemetzel, Rache, Wut, Angst und Schrecken geht von uns aus“, singt der Chor, doch es sind nicht nur die Assyrer (wie im Libretto), sondern auch die Israeliten, alle in weißer Einheitsuniform. Auch das große Zelt des Herodes ist weiß, Pentagramm und Friedenslorbeer sind symbiotisch verschlungen, im über der Bühne schwebenden fünfzackigen Neonstern leuchtet auch ein Pentagon. Viele von Costas szenischen Chiffren scheinen mehrdeutig: das Zelt ähnelt solchen von UNO-Flüchtlingslagern, die Kalaschnikows und Gewehre werden in weiße Gaze verpackt, die Kämpferin Judith wird mit blutiger Kopfbinde mit Holofernes an ihrer Seite im Feldlazarett behandelt, hinter weißem Plastikstacheldraht fleht sie zum Ritual der Blutwäsche um Gnade, aus einem Mutterleib werden Säuglinge geboren, das Zelt verwandelt sich zum Liebeslager, am Schluss des ersten Aktes wird Judith in Kriegsbemalung hochzeitlich bekränzt.

 

Die Szene im 2. Akt verweist auf antike Tragödie: Stufen im Halbrund eines Amphitheaters, eine Herrscherstatue mit abgeschlagenem Kopf, die allmählich vom Sockel fällt, während Judith die „Sternbilder, Gestirne“ zur „Totenfackel dem Feind“ anfleht. Nun wird Rachel Wilsons Deutung ihrer Figur mit jeder ihrer Arien noch sängerisch differenzierter, auch gegenüber Stine Marie Fischers solidem Holofernes. Diana Haller als dessen Knappe Vagaus brilliert in jeder ihrer koloraturreichen Arien mit superber Technik und metallischem Timbre, Gaia Petrones Abra als Judiths Vertraute bleibt demgegenüber etwas blass, und der Hohepriester Ozias von Linsey Coppens hat am Ende einen starken Auftritt. 

 

Hier erreicht Silvia Costas Inszenierung eine ungeheuer beeindruckende Vertiefung: Nachdem die Tötung von Holofernes nicht nur in ihrer wunderbaren, mandolinebegleiteten Arie - „Der Grund unseres Verderbens sind wir selbst / Nur die Seele bleibt unsterblich“ - sondern auch szenisch (ihr wird in einem Tuch der abgeschlagene Kopf gebracht) vorweggenommen wurde, entwickelt die Aufführung die Antithese zum triumphalen Ende des Oratoriums. Judith sitzt, mit der Kopfmaske des Holofernes, zusammengesunken auf Kinderstühlen neben ihm, während der Chor den Sieg über die Assyrer feiert. Von dem in historischer Aufführungspraxis bewanderten Benjamin Bayl und einem klangfarbenreichen Staatsorchester musikalisch ausdrucksvoll begleitet, zeigt das Sängerensemble in der schlichten, innerlich berührenden Regie eine starke Performance. Viele von Silvia Costas Ideen wirken, als könnten sie im Ospedale in Venedig entwickelt worden sein.

 

Abgewrackter Zampano

Stephan Kimmig inszeniert Richard Wagners „Rheingold“ mit Cornelius Meister am Pult des Staatsorchesters

 

Vor 22 Jahren verortete Joachim Schlömer „Das Rheingold“ zum Auftakt des inzwischen legendären Stuttgarter „Ring des Nibelungen“ in der Zehelein-Ära in einem Hallenbad. Nun spielt der „Vorabend“ von Richard Wagners mythischer Tetralogie im Zirkus: Stephan Kimmig präsentiert den Göttervater Wotan als Zirkusdirektor im Glitzerfrack, seinen Gegenspieler Alberich als Zampano in Nibelheim, der seinen Bruder Mime als bösen Clown mit seiner Kinderarbeitstruppe schikaniert. Doch zu Beginn, in der Auseinandersetzung mit den Rheintöchtern um Liebe oder Herrschaft und Besitz, ist Alberich ein hin- und hergerissener Penner, der Woglindes trügerische Prophezeihung in die Tat umsetzt: „Nur wer der Minne Macht versagt, nur wer der Liebe Lust verjagt“, wird durch den aus dem Schatz des Rheingolds geschmiedeten Ring die Weltherrschaft erlangen. Der großartige britische Bariton Leigh Melrose ist an diesem vom Publikum musikalisch gefeierten, szenisch von einem Teil der Besucher mit kräftigen Buhs quittierten Premierenabend neben Matthias Klinks zynischem Loge der eigentliche Mittelpunkt der Aufführung.

 

Stephan Kimmigs Inszenierung schafft mit einem schon vor Beginn bei offener Bühne als Prolog projizierten Zitat und einem von den Rheintöchtern am Schluss entrollten Protestbanner den Rahmen für seine Deutung. „Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose, in Reiche und Arme teilt, denn sie macht aus Allen – nur Unglückliche“, notiert Richard Wagner im Revolutionsjahr 1848. Als Wotans Götterquintett bei den anschwellenden Klangwogen des Finales das Staatsorchester im Graben zu immer heftigerem Pathos animiert, wird von den um ihren Naturschatz betrogenen Rheintöchtern der Appell „Lasst alle Feigheit fahren“ hochgehalten. Als stimmlich funkelndes Terzett haben Tamara Banjesevic, Ida Ränzlöv und Aytaj Shikhalizade die Handlung in Gang gesetzt und sie protokollierend begleitet: drei Schülerinnen mit Fridays-for-Future-Idealismus, die dem Treiben der Mächtigen, deren List und Tücke wie auch ihrem Aufstieg und Niedergang ohnmächtig zusehen müssen. Symbol dafür sind in Wotans Zirkus-Rohbau (Bühne: Katja Haß) zwei Artistinnen, die sich an roten Stoffbahnen hochhangeln, verheddern und abstürzen. 

 

Elf von vierzehn Sängerinnen und Sängern im „Rheingold“ sind Rollendebüts. Das hat den Regisseur Stephan Kimmig gewiss motiviert, mit ihnen Figuren zu formen, die das Gesellschaftskritische und Tragikomische der Wagnerschen Helden prägnant zur Darstellung bringen. In der Tat ist dieses „Rheingold“ faszinierendes Singschauspielertheater: Kimmig verzichtet auf allen spektakulären Schnickschnack, sodass zum Beispiel die Tarnhelm-Verwandlung Alberichs in einen Riesenwurm und eine Kröte fast gar nicht inszeniert wird. Wichtig sind die Handlungsmotive der Figuren, die von Cornelius Meister mit dem Staatsorchester detailgenau beschworen werden. Wotans Eitelkeit und Machtschwäche wird von Goran Juric pointiert dargestellt, sängerisch ist er in den Bassregistern am überzeugendsten. Rachel Wilson ist eine sehr bewegliche Fricka, Esther Dierkes ihre schminksüchtige Schwester Freia, Donner (Pawel Konik) und Froh (Moritz Kallenberg) die in Bobby-Cars herumrollenden Brüder. Auch das Paar der Riesen (David Steffens und Adam Palka) auf Gabelstaplern ist glänzend besetzt, ebenso Elmar Gilbertsson als Mime und Stine Marie Fischer als eindrucksvolle Erda, die vom grünen Fahrrad steigt und Wotan die Götterdämmerung prophezeit. Insgesamt ist dieser „Rheingold“-Abend musikalisch von hoher Qualität: schon im Vorspiel mit einer fast unheimlich tönenden Basstuba, auf der sich der reine diatonische Vielklang-Akkord grandios aufbaut, ist Cornelius Meisters Absicht spürbar, die klanglichen Facetten der Partitur detailgenau herauszuarbeiten. Die Fülle der Leitmotive ist fast übergenau ausgeleuchtet, darunter leidet manchmal etwas der erzählerische Fluss. Kimmigs Regie macht die Oper durch genaue Personenführung zum spannenden Erlebnis.


22. November 2021

Kaleidoskop und Klamauk in der Hölle

Staatsoper mit Brecht/Dessaus „Die Verurteilung des Lukullus“ als erster Premiere der Spielzeit

 

„HELL“ leuchtet unübersehbar auf den höllisch roten LED-Tafeln in der Unterwelt. Dort, wo dem antiken Feldherrn Lukullus im Reich der Schatten der Prozess gemacht werden soll, herrscht Durcheinander und Konfusion. Denn der Kriegsheld pocht auf seine Mächtigkeit, die freilich in der Unterwelt nichts mehr gilt, und auch der gute Rat der alten Tertullia (die 66jährige Cheryl Studer in einer Gastrolle) macht ihn nicht demütig oder gar einsichtig. Die Schöffen des Totengerichts aber sind Opfer aus dem Volk, sie stellen die Fragen, ob der Tote den Lebenden einst genützt oder geschadet hat und entlarven den Sieger als Zerstörer einer humanen Gesellschaft. „Die Verurteilung des Lukullus“ als erste Neuinszenierung nach zwei Jahren Corona-Einschränkungen vor vollem Haus in der Stuttgarter Oper wurde bejubelt – als bunte Revue mit viel Aktionismus und zu vielen stückfremden Einfällen.

 

Als Hörspiel schrieb Bertolt Brecht „Das Verhör des Lukullus“ im schwedischen Exil nach dem

Überfall Polens durch Hitler-Deutschland am Beginn des 2. Weltkriegs. Gegen den Eroberungskrieg und den scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug des Faschismus führt er die Toten ins Feld, das Beispiel des römischen Lukullus und dessen Prozess wird zum Lehrstück. 1951 arbeiten es Brecht und der Komponist Paul Dessau in der DDR zur Oper „Die Verurteilung des Lukullus“ um, die trotz der Kritik des Regimes wegen Formalismus und Dekadenz in Ostberlin uraufgeführt und in den folgenden Jahrzehnten zum Erfolgsstück wird. Wo Brecht mit Mitteln seines epischen Theaters die Triumphe des Kriegsherrn dialektisch auf der Bühne zur Diskussion stellt und Dessaus Musik das Geschehen mit unerbittlicher Schärfe und kontrastreicher Farbigkeit kommentiert, wählt das Regieteam Hauen und Stechen - Franziska Kronforth, Julia Lwowski, Christina Schmitt (Bühne), Yassu Yabara (Kostüme), Martin Mallon (Video und Live-Kamera) – den Ansatz von Dekonstruktion, Collage und kaleidoskopartiger Assoziation. Vom klaren antiimperialistischen Konzept Brechts bleibt dabei wenig übrig, zudem sind viele Regieideen unbeholfen umgesetzt. Allein die musikalische Wiedergabe durch den 84jährigen Bernard Kontarsky und das expressive Staatsorchester wird dem Stück gerecht.

 

Kontarsky ist seit Jahrzehnten eine Koryphäe in der Interpretation zeitgenössischer Musik, auch in Stuttgart hat er im vergangenen Jahrhundert beispielhafte Aufführungen von Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ und Luigi Nonos „Intolleranza“ geleitet. Der Partitur von Dessaus „Lukullus“, bei dem das Orchester ohne Geigen und Bratschen, dafür mit solistischen Bläsern und viel Schlagzeug sowie mit Akkordeon und Trautonium besetzt ist, gibt er starke Prägnanz. Die Klage des Fischweibs, deren Sohn im Krieg gefallen ist, hat tiefe Eindringlichkeit, Maria Theresa Ullrich gestaltet ihr Arioso entsprechend; Alina Adamskis Auftritt der geschändeten Königin und Deborah Safferys Auftritt als Kurtisane zeugen von den Kollateralschäden des Kriegs, Gerhard Siegels Lukullus- und Torsten Hofmanns Koch-Arien dagegen werden vom Orchester effektvoll parodistisch untermalt. Mit Pomp, Pauken und Trompeten marschiert der Trauerzug in der ersten Szene rund ums Parkett durch die Foyers, der folgende Einzug auf die Bühne, mit einem anbrandenden Gewusel von Soldaten, Volk und Massenchören, die Operettenszene mit Lukullus‘ Lobpreis als Gourmet, setzen den Ton für eine von Kontarsky nicht schrill pointierte, jedoch klar austarierte musikalische Wiedergabe.

 

Dass Siegel (in seiner in Frage gestellten Heldentenorrolle sängerisch sehr differenziert) mit Oberlippenbärtchen dem Belarus-Diktator Lukaschenko ähnelt und sich per orangenem Ballonanzug stark aufbläst, um im Verlauf der zwölf Szenen immer mehr Luft abzulassen, mag als szenischer Gag durchgehen. Ob er während seines Prozesses durch den Totenrichter (Simon Bailey) sich in die Foyer-Bar verkrümeln und dort (per Live-Video zugeschaltet) ein Bier trinken und danach mit einer Lage Halbe die Randzuschauer im Parkett beglücken darf, schon weniger. Statt Polit-Musiktheater, wie von Brecht/Dessau intendiert, gibt’s viel Klamauk in der von Assoziationen überladenen Inszenierung, und auch die Songs verlieren an Wirkung, wenn es auf der Bühne dauernd drunter und drüber geht. Auch 

(Wohlstands?-)Müll, Exkremente, Trümmerfrauen, Hieronymus Bosch, filzrote Würmer als Schöffen des Gerichts und allerlei anderes Gewirr dürfen mitspielen, im Finale strömen blau gekleidete Aliens aus dem gelandeten Ufo, mit welchem Lukullus nach seiner Verurteilung abhebt. „Ah, ins Nichts mit ihm!“ rufen unisono die Chöre ihm nach. Das könnte, nach Meinung des Regieteams, wohl auch für Brecht gelten.

 

3. November 2021

 

 

Tragödie eines Zerstörers

Starke Bilder, extreme Tempi: „Don Giovanni“ bei den Salzburger Festspielen

 

Wenn die ersten Akkordschläge von Teodor Currentzis und seinem MusicAeterna Orchestra durchs Salzburger Große Festspielhaus dröhnen, ist der barocke Kirchenraum schon abgeräumt. Kreuz, Tabernakel, Heiligenbilder, Kirchenbänke sind beiseite geschafft, die Pfeiler und Bögen starren in kaltem Weiß. Dann läuft ein Ziegenbock über die Bühne, okkupiert den Raum mit einer ganz anderen Kultur. Romeo Castellucci, der für Regie, Bühne, Kostüme und Licht dieses neuen Salzburger „Don Giovanni“ verantwortlich zeichnet, sieht Mozarts eros-getriebenen Helden in der Antike verankert, ein Satyr des 18. Jahrhunderts. Statt christlicher Moral führt Dionysos das Zepter, das „dramma giocoso“ des Salzburger Genius Loci ist Tragödie, im Wortsinn „Bocksgesang“. Doch dies ist nur eine Assoziation in Castelluccis Flut der Bilder, welche diese Neuproduktion der Mozart-Oper im 100. Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele zu einem sehenswerten Ereignis macht. Und Teodor Currentzis gibt ihnen mit vor allem in den Orchesterrezitativen zuweilen bis zum Faststillstand zerdehnten Tempi alle Zeit der Welt.

 

Das Tragödienmotiv zieht sich wie ein schwarzer Faden durch die blendend weiße Bühnenlandschaft der beiden Akte. Weiß wie Zwillinge oder Doppelgänger sind die beiden bartgetrimmten Playboys Giovanni und Leporello gekleidet, weiß der Komtur, der von beiden mit seiner Krücke erwürgt wird, doch schwarz verhüllt sind die Erynnien, die die verlassene Donna Elvira bei ihrer Auftrittsarie („Wo ist der Grausame, den ich zu meiner Schande liebte?“) begleiten und den Verführer umtanzen. Schwarz gekleidet auch Donna Anna bei ihrer Nacherzählung der Schreckensnacht für ihren Verlobten Don Ottavio: „Or sai chi l’onore rapire a mi volse, chi fu il traditore che il padre mi tolse  – Nun weißt du, wer mir die Ehre rauben wollte, wer der Verräter ist, der mir den Vater nahm“. Hier gibt es zum ersten Mal Szenenbeifall für die Sopranistin Nadezhda Pavlova, die ihr Rezitativ und Arie mit einer ungeheuren Intensität und dramatischer Ausdrucksvielfalt gestaltet: eine vokale Gebirgstour von überwältigender Dringlichkeit, von Currentzis und seinen Klangmagiern wie auf Händen getragen. Und zugleich eine äußerst glaubwürdige Me-too-Zeugin – im Gegensatz zu manch modischen Inszenierungen, in denen Annas Bericht von ihrem unfreiwilligen Rendezvous mit Don Giovanni in Zweifel gezogen wird.

 

Federica Lombardis Elvira-Arie, Vito Priantes “1003” Leporello-Register (am Kopierer), auch Zerlinas Duett mit Don Giovanni („Vorrei, e non vorrei – ich möchte, und möchte nicht“), welches auf der Matratze mit nackter Doppelgängerin von Anna Lucia Richter und Davide Luciano absolviert wird, hat das maskenbewehrte Publikum im ausverkauften Festspielhaus bis dahin kühl gelassen, doch Michael Spyres als Don Ottavio bekommt für sein „Dalla sua pace – Von ihrem Frieden hängt meiner ab“) ebenfalls zurecht Ovationen. Seine tenoralen Nuancen zusammen mit den pastosen MusicAeterna-Farben sind ein kostbares Juwel. Dass er fortan als Kreuzritter, Imperator, Friedensfürst, Operettendiktator in wechselnder Verkleidung durch die Szene geistern muss, ist weniger schlüssig. Auch Castelluccis Garnierung des Don-Giovanni-Mythos mit Wohlstandsmüll im 1. Akt, mit vom Schnürboden herabkrachender Mercedes-Limousine und kaputtem Flügel, ist eher effektvoll und dekorativ. Stark dagegen die wie in einem antiken Bewegungschor agierenden Frauenensembles im 2.Akt: als solidarische Gefährtinnen Zerlinas  (150 vom Mädchen bis zur Oma aus Salzburg rekrutierte Statistinnen), als wilde Furien und schwarzes Memento mori, von Cindy Van Acker bildmächtig choreographiert. So bildmächtig wie Don Giovannis Todeskampf: am Ende nackt, verglüht und versteinert wie die erstarrten Leichen beim Vulkanausbruch in Pompeji. Dazu Mozarts von Currentzis und MusicAeterna musikalisch entfesselte Höllenfahrt: gewaltig!

 

30. Juli 2021

 

Im Todesrausch

„Elektra“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal bei den Salzburger Festspielen

 

Agamemnon! Wo bist du, Vater?“ – viermal ruft Elektra in ihrem Eingangsmonolog den Namen des von ihrer Mutter Ermordeten, und als musikalisches Leitmotiv, entwickelt aus den vier Silben A-ga-mem-non, zieht sich dieser Beschwörungsruf eindrücklich durch die ganzen zwei Stunden des Opern-Einakters. Max Reinhardt war 1903 der Regisseur der Uraufführung des Dramas von Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss  der Komponist der Musik-Tragödie, die ab 1909 die Opernbühnen der Welt eroberte. Alle drei wurden zu Gründervätern der Salzburger Festspiele, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum 

(nach-)feiern, nachdem 2020 wegen Corona kein reguläres Festival möglich war. Dass eine neue Produktion von Strauss/Hofmannsthals „Elektra“ das Jubiläumsprogramm krönen sollte, war ausgemacht, und Krzystof Warlikowskis Inszenierung erfüllt die meisten Erwartungen. Die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Franz Welser-Möst triumphieren.

 

In der Felsenreitschule taucht der polnische Regisseur die von Hass und Verzweiflung getriebene Handlung in ein düsteres Licht. Die Arkaden sind zugemauert, die rechte Seite der Bühne wird von einem länglichen Wasserbecken mit Wandduschen eingenommen, die linke Hälfte dominiert ein gläserner Container mit blutrotem Licht. Wie in einem Gefängnis bewegen sich die Figuren, jede in ihren eigenen Traumata verriegelt. Während Elektra im mädchenhaften Blumenkleid den Geist ihres toten Vaters beschwört und die Bilder des Mords durch Klytämnestra und Ägisth in erregten Wellen aus sich herausschleudert, wird eine nackte Frau von einer Wärterin geduscht: die zwanghaft wiederholte Handlung ist wie ein Zeichen für die Alpträume, von denen die Witwe Agamemnons im Gespräch mit ihrer Tochter klagt. Sie, die ihren Gatten nach der Heimkehr vom Trojanischen Krieg wegen seiner Opferung iphigenies im Bad getötet hat, ist erstarrt seit dieser Rachetat. Im Dialog mit Elektra treffen zwei unversöhnliche emotionale Gegensätze aufeinander: die ständig in vokalen und dynamischen Extremen sich gegenüber dem wilden Orchester grandios behauptende Ausrine Stundyte, und die zwischen elegischem und Herrschaftston schwankende Tanja Ariane Baumgartner als Klytämnestra.

 

Ein weiterer Gegenpol Elektras ist ihre Schwester Chrysothemis. Sie will aus dem Teufelskreis von Hass, Rache und Vergeltung ausbrechen, und die wie Stundyte aus Litauen stammende Vida Mikneviciuté gestaltet ihren Wunsch nach einem glücklichen Leben („Kinder will ich haben, bevor mein Leib verwelkt“) mit ihrem sinnlich aufblühenden Sopran üaberwältigend. Die Interaktion dieser drei Frauenstimmen ist hochgradig subtil und emotional, und Franz Welser-Möst am Pult der Wiener Philharmoniker vollbringt wahre Wunder an farbiger Differenzierung. Doch Strauss‘ „Elektra“-Partitur ist ja auch voller Brutalismen und hitzigster Gewaltausbrüche: die lässt Weser-Möst nie ins Grellgrobe ausarten, er setzt auf Klang statt Lärm. Selbst im Finale, als Elektras Bruder Orest (Christopher Maltman) Klytämnestra und Ägisth im blutroten Container umbringt, rast das Orchester in orgiastischer Polytonalität. Kamil Polaks Videokunst kreiert dazu eine vieldeutige Chiffre im fensterlosen Raum: Ein sich ständig vergrö0ernder Blutfleck klatscht auf die Wand, Scharen von schwarzen Fliegen umschwirren das Rachefanal, und Orest stürzt wie von Erynnien verfolgt aus dem Saal.

 

2. August 2021

Am trügerischen Ballon

Philipp Stölzls Inszenierung von Verdis „Rigoletto“ wieder einfallsreich auf der Seebühne

 

Die Gaukler trifft man schon auf dem Weg zu den 7000 Sitzplätzen, welche die eindrucksvolle Kulisse der Seebühne der Bregenzer Festspiele bilden. Jongleure drängen sich durch die Menge des Publikums, ein Clown scannt Besucher auf Corona-Viren, aber alle sind ja geimpft, getestet, gesundet, also alles gut? Lautsprecherdurchsagen fordern dazu auf, sich zwecks evtl. Nachverfolgung an Code-Stationen zu registrieren. Auch Rigoletto, der tragikomische Held in Giuseppe Verdis Erfolgsoper, ist als Hofnarr des Herzogs von Mantua ein trauriger Clown, und so hat ihn Philipp Stölzl in seiner schon 2019 viel bejubelten Bregenzer Inszenierung auch kostümiert, mitsamt einem Riesenensemble als Zirkustruppe. Rigolettos Halskrause ist die – bald unter den Intrigen zerbrechende – Rundbühne, die beiden tellerförmigen Handgelenkkrausen fungieren als Seitenbühnen, einerseits in der Begegnung Rigolettos mit seiner Tochter, andererseits als Wunschtraumort Gildas für ihre unerwiderte Liebe zum Herzog. Der riesige Kopf und die Hände, schon vor zwei Jahren ikonografisch das Herzstück der Aufführung, bilden auch im zweiten Aufführungsjahr – nach der Zwangspause wegen Corona – das Herzstück dieses „Rigoletto“.

 

Stölzls Regie bietet nicht nur großes, farbenprächtiges und aktionsreiches Spektakel, sondern viele kluge Einfälle, die nun noch stimmiger, symbolträchtiger und weiter verfeinert wirken. Schon die Anfangsidee, während die Zirkustruppe hereinstürmt und der Herzog sein Schmachtduett mit der Gräfin Ceprano aus dem Gebiss des monströsen Bühnenkopfes singt, ist berührend: eine lebendige Gliederpuppe hangelt sich mit einem gelben Luftballon an einem Seil entlang und stürzt langsam ab in den See. Als Leitmotiv bewegt sich dieser Ballon durch die Aufführung: Rigoletto führt ihn als Hoffnungszeichen eines befreiten Lebens mit seiner Tochter spazieren, bis ihm von der verhassten Hofgesellschaft der Faden abgeschnitten wird und er in den Nachthimmel entschwebt. Als großes Hoffnungsgefährt steigt der Fesselballon mit Gilda im Korb bei ihrer großen Arie „Caro nome“ auf wie ihre leidenschaftlichen Gefühle, bei ihren Kadenzen schwebt sie mit einem Bein über dem Abgrund - in den sie ja von des Herzogs Hofschranken dann auch verschleppt wird. Und als sie am Schluss, vom Vater statt des Herzogs irrtümlich erstochen, in dessen Armen stirbt, schwebt ihr Alter Ego mit dem Ballon gen Himmel. Oder der Herzog als Dompteur nach Gildas Entführung mit vier tollwütigen Affen, oder bei seiner Ohrwurm-Arie „La donne è mobile“ mit vier an den beweglichen Fingern der Bühnenhand zappelnden Dämchen. Als er im 3. Akt sein „Bella figlia dell‘ amore“ in der Hängematte hoch oben auf dem Clownschädel anstimmt und der arme Rigoletto auf Rache („Si, vendetta!“) sinnt, brechen die Höflinge dessen Augäpfel aus den Höhlen und werfen sie ins Wasser und hacken die Nase ab. So skelettiert erlebt der Narr dann seine Rachetragödie.

 

Musikalisch zeigt die erstmals in Bregenz wirkende Julia Jones (als erste Dirigentin in der 75jährigen Geschichte der Festspiele), dass sie mit den Wiener Philharmonikern Tempi und Emotionen mit gutem Timing in Beziehung setzen und die Wiener Symphoniker im perfektem Sound-System (BOA 2.0) klanglich wirkungsvoll zur Geltung bringen kann, aber zur begeisternden Verdi-Interpretin fehlt ihr ein Stück Italianitá. Sängerisch überzeugten bei der Premiere Long Long als Herzog und Ekaterina Sadovnikova mit einer die Gefühle ihrer Gilda reif gestaltenden Partie. Vladimir Stoyanov bevorzugt bei seinem Rigoletto die lyrischen Töne gegenüber den dämonischen Abgründen dieser Figur. Sparafucile und Maddalena sind bei Levente Pàll und Katrin Wundsam in guten Händen. 

23. Juli 2021

 

 

 

 

Blutiger römischer Karneval 

Mit Arrigo Boitios „Nerone“ eröffnen die Bregenzer Festspiele ihre Jubiläumssaison

 

75 Jahre feiern die Bregenzer Festspiele in diesem Sommer, und nach der Corona-bedingten Absage im letzten Jahr gibt es wieder ein volles Programm, mit dem „Rigoletto“ als Hauptattraktion wieder auf der Seebühne. Doch Arrigo Boitos „Nerone“ im Festspielhaus ist kaum weniger spektakulär, sowohl was seine Entstehungsgeschichte betrifft, als auch in der auf Horror-Tableaus getrimmten Inszenierung von Olivier Tambosi in den Bühnenbildern von Frank Philipp Schlössmann und den Kostümen von Gesine Völlm. Fast ein ganzes Leben lang hat der italienische Komponist Arrigo Boito – vor allem berühmt als Librettist von Verdis „Otello“ und „Falstaff“ und Komponist von „Mefistofele“ - an der Figur des spätrömischen Kaisers Nero musikalisch gearbeitet, als Fragment ist seine Oper „Nerone“ posthum von Arturo Toscanini 1924 in der Mailänder Scala uraufgeführt worden. Als Wiederentdeckung hat sie die Bregenzer Festspielintendantin Elisabeth Sobotka nun wieder auf die Bühne gebracht.

 

Als wäre die Corona-Epidemie schon Geschichte, sind in Österreich so gut wie alle Beschränkungen im Festspielbetrieb gefallen. Wer geimpft, getestet oder genesen ist, kann ohne Maske ins Festspielhaus, und trotz maximaler Auslastung und Gedränge in den Foyers trägt außer dem Personal kaum jemand Mund- und Nasenschutz. Als die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Dirk Kaftan im Orchestergraben mit einem brachialen Dissonanzakkord einsetzen und der feuerrote Vorhang aufgeht, blickt man auf eine dreigeteilte, in zwei Kreisen rotierende Bühne, auf der sich in blutgetränkte Bademäntel gehüllte Figuren lemurenhaft bewegen. Es wird erst allmählich klar, wer hier wen verkörpert: ein finsterer Bass (Lucio Gallo) markiert den Bösewicht Mago; ein durchdringend scharfer Tenor (Rafael Rojas) hantiert mit einer giftgrün gekleideten Puppe – Nero hat seine Mutter Agrippina ermordet und will die Urne bestatten; die Schlangenfrau Asteria (Svetlana Aksenova) bekennt ihre abgöttische Faszination für den Kaiser („Der Horror zieht mich an wie eine Geliebte“). Apostel Fanuèl im Büßergewand mit Herz-Jesu-Applikation (Brett Polegato) predigt den christlichen Glauben im heidnischen Rom, und die Vestalin Rubria im Nonnengewand (Alessandra Volpe) sucht Erlösung von ihren Sünden. 

 

Sängerisch bieten die vier Akte von Boitos Oper starke Kontraste in Deklamation und dramatischen, gelegentlich auch lyrischen Ariosi. Bei Nero, Mago und Asteria ist die Instrumentation mit viel Blech jedoch so kompakt und wird von Dirk Kaftan so grell exekutiert, dass die Sänger auch volumenmäßig an ihre Grenzen gehen müssen, um sich gegenüber dem Orchester zu behaupten. Obwohl Arrigo Boito in seiner Kompositionstechnik sowohl von Verdi als auch von Wagner beeinflusst war, hat die „Nero“-Partitur nicht den musikdramatischen Fluss solcher Vorbilder, sondern setzt auf mosaikartige Collage. So bizarr die dämonischen Machtspiele Magos und Neros gezeichnet sind, was besonders im 2. Akt – in der Inszenierung durch eine Billardpartie und Hofschranzen in Faschingskostümen mit Adlerflügeln illustriert – so nazarenisch melodieselig sind die Chöre der Fanuèl-Jüngerinnen im Zypressenhain, von der Regie allesamt in Nonnengewänder und himbeerfarbene Beleuchtung getaucht. Es gelingt der Inszenierung nicht, die Gegensätze dieser beiden Welten – außer kitschigen Kostümierungen und halb ironischen Verfremdungen – in einem schlüssigen Konzept auf die Bühne zu bringen. 

 

Was durchaus im Blick auf Boitos brutalistische Cäsarenmusik mit Anklängen eines faschistoiden Imperialismus, der in den Aufmärschen und Fanfarenterror im Rücken des Publikums zu Beginn des Schlussaktes gipfelt, interessant wäre. Es gibt eine Szene - während sich Christentod im Circus Maximus und Brand von Rom allein in der vom Orchester filmisch grandios ausgeführten Musik vor geschlossenem Vorhang abspielen – wo der Bezug zum präfaschistischen Italien der 1920er Jahre angedeutet wird: Nero lehnt wie ein Mussolini im Hermelin im Sessel am Bühnenrand und beobachtet den Liebestod von Fanuèl und Rubria inmitten der blutbesudelten Leichen. Ansonsten herrscht blutiger Karneval zwischen Hell und Dunkel, Gut und Böse schillernder Musik.

 

22. Juli 2021