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Kulinarische Besonderheit

Hans-Christoph Rademann und die Gaechinger Cantorey mit Rossinis „Petite Messe“ zum Abschluss des Musikfests

 

„Geschmacksache“ war das Motto des diesjährigen Musikfests Stuttgart, das mit einer Aufführung von Gioacchino Rossinis „Petite Messe solennelle“ zu Ende ging. Teils mit digitalen Aufzeichnungen im Internet, teils mit Live-Publikum war das zweiwöchige Programm der Corona-Situation angepasst. Beim Abschlusskonzert im Beethovensaal der Liederhalle konnten immerhin 250 Besucher dabei sein. Statt des vorgesehenen „Menu surprise“ gab es eine andere kulinarische Besonderheit. Denn bei Rossinis „kleiner feierlicher Messe“ glaubt man den Geschmackssinn des über 70jährigen Gourmet Rossini mit zu spüren, der die letzten Jahrzehnte seines Lebens bevorzugt seiner Kochkunst widmete, nachdem er 1829 mit „Guillaume Tell“ seine letzte Oper komponiert hatte.

 

34 Jahre später schuf er als Auftragswerk für die Comtesse Louise Pillet-Will seine Messe. Schon die instrumentale Besetzung ist außergewöhnlich und unterstreicht den privaten Charakter dieser „Petite Messe solennelle“: Nur Klavier und Harmonium liefern die Begleitung für den Chor und die vier Solisten, deren Solo-Arien und Ensembles mit Operneffekten gewürzt sind. Das „Domine Deus, Rex caelestis“ schmettert der Tenor Maximilian Schmitt mit Inbrunst, und überhaupt ist das „Gloria“ wie eine üppige Pizza mit pikanten Zutaten. Beim Duett von Sopran und Alt („Qui tollis peccata mundi – Der du trägst die Sünden der Welt“) schnarrt das Harmonium mit bedrückendem Affekt, und im totalen Gegensatz dazu hüpft die Chorfuge des dem Heiligen Geist gewidmeten „Cum Sancto Spiritu“ als liedselige Canzone über die Bühne. Die 28 fabelhaften Choristen der Gaechinger Cantorey singen das so hinreißend, dass der sichtlich animierte Hans-Christoph Rademann sie am Schluss nach lang anhaltendem Beifall noch einmal als Zugabe serviert. 

 

Rossini nimmt sich bei der Komposition seines Messe-Menüs noch andere Freiheiten. Zwischen „Credo“ und „Sanctus“ platziert er ein dreisätziges „Prélude religieux“, das von Ewa Danileska am Flügel mit großem Pathos intoniert wird. Und nach Fabian Wöhrles Ritornell auf dem Harmonium erklingt das gesamte „Sanctus“, „Benedictus“ und „Hosanna“ als A-cappella-Motette, bei der es im heiklen solistischen Teil ein bisschen an der Intonation hapert. Das macht Sarah Wegener bei ihrer folgenden „Opern“-Arie „O salutaris hostia“ wieder mehr als wett, wie auch Daniel Ochoa seine Bariton-Arien sogar mit leicht ironischem Touch („Quoniam tu solus sanctus“ mit viel Öl in der Stimme) zubereitet. Wunderbar ausgelotet aber dann am Ende das „Agnus Dei“ mit der Altistin Julia Böhme, die sich vom andachtsvollen Gebet-einer-Jungfrau-Ton zum hoch dramatischen „Miserere nobis – Erbarme dich unser“ steigert. Und dazu säuseln die Gaechinger im Pianissimo ihr „Dona nobis pacem“! Wie schrieb Rossini doch über seine „Petite Messe“: „Lieber Gott, voilà, nun ist diese kleine Messe beendet … Ich wurde für die Opera buffa geboren, das weißt du wohl! Wenig Wissen, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.“ Das Abschlusskonzert wie auch eine Reihe weiterer Aufführungen sind in der Mediathek der Bach-Akademie online verfügbar.

 

Im Geisterreich der Kunst

Schumann bei den Festspielen im Ordenssaal meisterhaft interpretiert

 

Dieser zweite Satz von Robert Schumanns Klavierquintett Es-Dur: an diesem Sommerabend im Ordenssaal des Schlosses ist er vielleicht der intensivste Höhepunkt eines unvergleichlichen Festspielkonzerts. „In der Art eines Marsches, weit ausgreifend“, hat der Komponist 1842 in seiner Partitur notiert, und tatsächlich hat es etwas von einem Trauermarsch, mit pochenden Seufzerschritten am Beginn, die von Isabelle Faust und ihren phänomenalen Partnern wie mit stockendem Herzschlag artikuliert werden. Wie Alexander Melnikov die Klavierakkorde antupft, mit welcher Stimmigkeit sich Anne Katharina Schreiber an der zweiten Violine, der Bratschist Antoine Tamestit und Jean-Guihen Queyras mit seinem Cello zusammenfügen, ist großartig ausdrucksvoll, und das Gegenthema klingt wie Sphärenmusik. Feinst austariert ist die Tongebung der vier Streichinstrumente, im wild aufgewühlten Mittelteil entfacht das Quintett ein solch ohrensengendes Feuer, dass sich Queyras und Melnikow spontan zulächeln. Ungeheuer spannend und bis ins Letzte ausgelotet ist diese Musik, in der man auch Tragik und Leidenschaft der Persönlichkeit Schumanns mitzuhören glaubt. Man wähnt sich „im Geisterreich der Kunst“, wie der junge Musikkritiker Schumann 1838 schrieb.

 

Isabelle Faust, die bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen schon in vielen Rollen, von Bachs Solo-Partiten und Sonaten bis zu romantischen Violinkonzerten, gefeiert wurde, erntet auch mit diesem Kammermusikabend jubelnde Ovationen. Zweimal 60 Besucher dürfen im Ordenssaal dabei sein, auch im Schlosshof auf dem Klangpodium sitzen Zuhörer beim 18-Uhr-Konzert (zum 21-Uhr-Termin drohen Gewitterwolken). Das deutsch-französisch-russische Gemeinschaftswerk beginnt mit Schumanns Klavierquartett op. 47, und sofort besticht die hohe Sensibilität der vier Ausnahme-Musiker, die sich klanglich introvertiert in die langsame Einleitung des Allegro-Satzes vertiefen und im gespenstisch vorüberhuschenden Scherzo Schumanns Phantasiegestalten Florestan und Eusebius zum Leben erwecken. Schade, dass auf dem dürftigen Programmzettel nicht mal ndie Satzbezeichnungen erwähnt sind, geschweige denn irgendetwas zur Genese der eizelnen Werke. Voller Süße, doch ohne klebrig oder schmalzig zu werden, interpretieren die Vier das Andante cantabile, Queyras und Faust geben den Gefühlston an. Wenn Tamestit das Ohrwurm-Thema, umspielt von den anderen drei Dialogpartnern, aufgreift, bekommt es etwas Ätherisches, um dann wieder mit Melnikov in irdische Sphären zurückzukehren.

 

Überraschend, aber weit mehr als ein zeitfüllendes Intermezzo, folgt auf den hinreißend tänzerischen Übermut des Klavierquartett-Finales Mozarts Streichquartett-Bearbeitung von fünf Fugen aus J.S.Bachs „Wohltemperiertem Klavier“. Dass Bach bei Schumann immer wieder auftaucht, kann man auch in der Doppelfuge im Finale des Klavierquintetts begeisternd erleben. Nachdem sich der Sturm der Gefühle – manchmal glaubt man in der äußerst pointierten, lustvollen Interpretation des Isabelle-Faust-Quintetts eine Karikatur des Schumann-Schwiegervaters Wieck mitzuhören – etwas beruhigt zu haben scheint, streicht die Primaria noch einmal zur leidenschaftlichen Attacke und kann sich dabei ein Lächeln nicht verkneifen. Dann die Fuge am Ende dieser heißen eineinhalb Stunden: Riesenapplaus!

 

 

Mozarts „Requiem“ zum Abschluss der Musikalischen Abendgottesdienste in der Stiftskirche

Kay Johannsen gelingt mit der Stuttgarter Kantorei und der Stiftsphilharmonie eine beeindruckende Aufführung

 

Ein oratorisches Großwerk integriert in einen Abendgottesdienst – oder die notwendigen Teile protestantischer Liturgie gestreut zwischen Introitus, Kyrie, Sequenz, Offertorium, Sanctus, Benedictus, Agnus Dei und Communio von Mozarts „Requiem d-Moll? Seit November 2020 bietet die Stuttgarter Stiftskirche jeden Freitagabend musikalische Kostbarkeiten, wie sie üblicherweise nur im Konzertformat stattfinden. Während anderen Veranstaltern wegen der Corona-Pandemieregeln acht Monate solche öffentlichen Konzerte in Innenräumen untersagt waren, hat die „Stunde der Kirchenmusik“ in der Stiftskirche wenigstens als eine Art Notversorgung (auf durchgehend hohem Niveau) funktioniert. Bis zu 200 Besucher konnten in der größten Stuttgarter Kirche mit ihrer imponierenden kirchenmusikalischen Tradition unter optimalen Hygienebedingungen jeweils teilnehmen: für viele ein wahres Geschenk in kargen Lockdown-Zeiten. Nun, quasi zum Abschluss dieser musikalischen Notzeit, führte Kay Johannsen das Mozart-Requiem in zwei Abendgottesdiensten hintereinander, natürlich mit allen zulässigen Plätzen in den Kirchenbänken besetzt, mit seiner Stuttgarter Kantorei und der Stiftsphilharmonie auf. 

 

Der Altarraum ist weiträumig gefüllt mit dem Orchester und den auf Abstand postierten Sängerinnen und Sängern, von denen daher jeweils die Hälfte in den beiden Aufführungen alternieren. Schon beim Introitus erstaunt die Homogenität, die Johannsen mit seinem Chor unter diesen Bedingungen erreicht, und wenn Felicitas Frische, getragen vom warmen Klang der Bassetthörner, mit ihrem oboengleich geführten Sopran den „Lobgesang in Zion“ anstimmt, dessen musikalische Leuchtspur am Schluss in ihrem „Lux aeterna luceat eis“ wiederkehrt, dann ahnt man, dass diese Aufführung außergewöhnlich sein wird. Seit Karfreitag 2020 – damals wegen der ersten Corona-Welle verschoben – hat der Stuttgarter Stiftskantor gehofft, Mozarts „Requiem“ hier aufführen zu können. Auch der November-Termin musste abgesagt werden, lange Wochen und Monate durfte überhaupt nicht mit dem Chor gemeinsam geprobt werden. Man spürt die Intensität und innere Beteiligung, mit der hier musiziert wird, und es ist bewundernswert, wie Kay Johannsen in der durch die vielen Leerplätze bedingten Hallakustik, welche die Wucht und Klanggewalt des „Dies irae“ noch unmittelbarer erlebbar macht, das Ganze zusammenhält.

 

Den Posaunenruf zum Jüngsten Gericht – Stiftspfarrer Matthias Vosseler wird in seiner Predigt auf die unterschiedlichen Akzente katholischer und protestantischer Jenseitsvorstellungen eingehen – führt der Bass Matthew Anchel mit majestätischem Volumen weiter, der Tenor Stefan Heibach und die Altistin Seda Amir-Karayan mischen sich kraftvoll und dunkel tönend ein. Das „Rex tremendaie“ und „Confutatis maledictis“ des Chors hat ungeheure Schlagkraft, „Lacrimosa“ und „Offertorium“ lassen die einzelnen Chorstimmen sich lyrisch entfalten, besonders die Soprane der Kantorei beeindrucken durch makellose Intonation. Im „Benedictus“ fügt Johannsen die solistisch schön harmonierenden Vokal- und die charakteristischen Instrumentalstimmen zu klangvoller Synthese. Während er bei seiner „Requiem“-Interpretation überwiegend straffe Tempi einsetzt, ist das „Agnus Dei“ von bedeutsamer Largo-Tiefe: dicht fluktuierend die Streicherfiguren, dunkel tönend die Posaunen, doch von lichter Transparenz das „Dona eis requiem sempiternam – Gib ihnen die ewige Ruhe“. Mancher Zuhörer wird da auch an die Toten dieser Corona-Pandemie gedacht haben.

 

 

 

Ein Festival in Corona-Zeiten

13 Konzerte mit 24 Uraufführungen bei „Eclat“ im Stuttgarter Theathaus


„Herzlich Willkommen! Um 19.00 geht es hier los!“ wird man auf der Internetportalseite zum „Eclat“-Festival begrüßt. Die Programmübersicht mit Einwahlmöglichkeiten zu den einzelnen Konzerten ist auf den ersten Blick etwas verwirrend, aber wenn man geckeckt hat, dass es entlang dem Zeitstrahl zum gewünschten Konzert geht und auf der linken Seite die Künstlerbiografien und Werkinfos zu finden sind, braucht man nur noch auf „Ansehen“ zu klicken und den Ticket-Code („Pay what you can!“) eingeben, dann ist man dabei. 


„Voice Affairs“ zum Auftakt des fünftägigen Festivals am Mittwochabend ist ein mit Video-Installationen des libanesischen Filmemachers Panos Aprahamian durchsetztes Konzert mit sieben Uraufführungen mediterraner Komponisten, die ihre Stücke zusammen mit den Neuen Vocalsolisten entwickelt haben. Die stehen zuerst Äpfel essend mit gelben Servietten vor der Brust auf der Bühne des Theaterhauses, es schmatzt, einer hustet, ein Apfel fällt zu Boden: eine Geräuschkomposition? Nein, eine witzig gemeinte Performance, aus der sich Cynthia Zavens „Madrigal d’Essilio“ entwickelt. Ganz konventionell im Halbrund stehen die sechs Vocalsolisten vor ihren Notenpulten, doch die Kamera überblendet immer wieder einzelne Sängerinnen und Sänger in die Totale, per Video werden nächtliche Sternenhimmel und grafische Lasereffekte unterlegt, der mit Sprech-Vokalisen angereicherte Sound klingt betörend, sinnlich. Ein starker Beginn, während den etwa fünf Minuten Umbaupause blickt man auf Beirut am Meer in der Sonne und die Küste des Libanon aus Weltallperspektive. 


*Voice Affairs“ – ein audiovisuelles Ereignis

Raed Yassins „A Short Biography of a Snake“ verfremdet die von ihm über den Ruinen der Stadt Aleppo gehörten Koranverse eines Muezzins zu einem dichten, ritualistischen Klangbild, packend interpretiert von Johanna Vargas und Susanne Leitz-Lorey (Sopran), Truike von der Poel (Mezzosopran), Martin Nagy (Tenor), Guillermo Azorena (Bariton) und Andreas Fischer (Bass). Während hier aus Dantes „Göttlicher Komödie“ zitiert wird, bezieht sich der Ungar Dániel Péter Biró in seinem Stück „Asher Hotseti Etkhem“ („Der aus dem Land führte“) auf Spinoza. Ganz im Gegensatz zu solch philosophischer Aufladung versetzt die ägyptische Singer/Songwriterin Aya Metwalli sich und die drei Neuen Vocalistinnen im „Cabaret macabre“ in surrealen Arrangements in den Kairoer Nachtclub-Flair der 1920er Jahre. Der Israeli Samir Odeh-Tamimi zeigt in seinem Stück „Vros“ für vier Stimmen und Elektronik die vokalen Akteure mit Rasseln, Dosenbündeln, Muschelketten und Holzplatten in einer sich zur Sprechorgie steigernden Litanei extremer Isolation, und Youmna Sabas Stück für sechs Stimmen, Oud und Elektronik ist von meditativer Schönheit. Manolis Manousakis‘ „State of Exception“ schließlich, über die Situation von Flüchtlingen an den Grenzen Europas, ist weil intellektuell überfrachtet das ästhetisch schwächste Stück. Doch „Vocal Affairs“ als Ganzes: ein audiovisuelles Ereignis!


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Tag zwei bis vier beim „Eclat“-Festival für Neue Musik aus dem Stuttgarter Theaterhaus, das coronabedingt nur im Internet verfolgt werden konnte. Für die Zuschauer, die mit verbalem Beifall am Ende der jeweiligen Konzerte auf der „Eclat“-Homepage nicht sparten, vermittelten die Veranstaltungen auf jeden Fall ein facettenreiches Panorama der Neue-Musik-Szene. Die Kommentare reichten von „toll“ bis „langweilig“, es gab jede Menge Likes und Emoys, und jemand fand es „spannend, was man heutzutage alles aus einer Geige rausholen kann“. Das galt zumindest für eines der beiden mit dem Kompositionspreis der Stadt Stuttgart ausgezeichneten Stücke: Matthias Kranebitters „pitch study no.1“ für Solovioline und Stereoplayback behandelte „die Vereinsamung des Individuums inmitten einer übervollen Klangwelt als soziologische Metapher“. Auch der Haupt-Preisträger Laure M. Hiendl konfrontierte in „Ten Bullets Through One Hole“ für 2 Stimmen, Elektronik und Video Mensch und Maschine und zog Parallelen zwischen Pornografie und Propaganda der Waffenindustrie.

Nicht alle Uraufführungen hatten solch soziologischen Überbau, einige beeindruckten durch ihre Inspiration und Transformation von Poesie. Enno Poppes „Der Wechsel menschlicher Sachen“ auf ein barockes Sonett aus Quirinus Kuhlmanns „Himmlischen Liebesküssen“ mit seinen zwölf Dutzend antithetischen Schlagworten wurde vom SWR Vokalensemble grandios vielschichtig dargeboten, wechselnd zwischen Clusterklängen und solistischen Figuren, Madrigalton und Mikrotonalität. In einem der vielen Interviews, die zum Online-Konzept des Festivals gehörten, meinte der Dirigent Bas Wiegers dazu: „Wenn die Klangschönheit da ist, stimmt es immer“. Eine starke Performance boten spätabends die Sängerin Sarah Maria Sun und die Schlagzeugerin Vanessa Porter in Marta Gentiluccis „Canzoniere I“: mit Scheinwerfer-Spots herausgeholt aus der Schwärze des Raums, auf Corona-Distanz und doch filmisch ineinander geblendet, mischten sich Klangschalen, Gongs, pulsierende, vibrierende Klänge mit dem Körperhaften einer Stimme in allen Registern, vom Raunen, Hauchen, Deklamieren bis zu leidenschaftlicher Ekstase.

Im Labor der Klänge

Gestern wurde der Bürgerrechtskämpferin Maria Kaleshnikava der Menschenrechtspreis der Gerhart-und-Renate-Baum-Stiftung verliehen. Wie sich die Situation von Diktatur, Unterdrückung und Freiheitssehnsucht in ihrem Heimatland derzeit darstellt, war in den Video-Musik-Clips von „Echoes – Voices from Belarus“ zu besichtigen. Im Terror-Soundscape, durchsetzt mit Stimmen des Widerstands, ist das in Sergey Shabohins und Christoph Ogiermanns Kurzfilmen „Practices of Subordination“ und „Crisis as a Chance“ künstlerisch verarbeitet, viele der Video-Clips berühren durch ihre Authentizität. „Don’t forget! Don’t forgive!“ lautet der Epitaph für einen im Minsker Stasi-Gefängnis erschlagenen Jungen. Andere Unheimlichkeiten verarbeitet Günter Steinke in seiner E.T.A.Hoffmann-Adaption von „Der Sandmann“ für Sprecher und Ensemble. „Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten“, zitiert Gerhard Mohr aus der Novelle, und die sieben Musiker des Ensemble Ascolta produzieren mit doppelter Percussion, E-Gitarre, Trompete, Posaune, Cello und Klavier genügend schaurig schrille, geräuschhafte Klänge. Dass ein solches Werk, wie viele aus den live gestreamten Konzerten, bei seiner Aufführung mit Publikum im Saal ungleich effektvoller über die Rampe käme, ist unbestritten.

Doch es gab auch kompositorische Highlights wie Franck Bedrossians „Don Quixote Concerto“ mit dem SWR Symphonieorchester, die selbst digital auf dem Bildschirm Furore machen. Der 1971 in Paris geborene Franzose ist einer der Großen der zeitgenössischen Musikszene, sein Stück mit Pianist und Schlagzeuger in der Rolle Don Quichottes und Sancho Pansas ist spannendes Musiktheater, in dem beim Zuhören und Zuschauen Cervantes‘ Dulcinea, Windmühlen und Gasthöfe vor dem inneren Augen auftauchen können. Klangbecher auf Klaviersaiten, Gläser, die aneinander klingen, raschelnde Buch- und Notenblätter, mannigfache perkussive Aktionen innerhalb und außerhalb des Klaviers: „Man wird in den Mythos der Geschichte hineingezogen“, verrät Bedrossian im Interview mit fünf Jung-Journalistinnen. Ricardo Eiziriks „Placeholder“ dagegen ist ein reflektiertes Frust- und Versagensdokument der Pandemie. Die Handkamera schwenkt zwischen den Instrumenten hin und her, die Musiker des Ensembles Recherche sind auf der Suche nach ihren Plätzen, in Untertiteln bekennt der Komponist seine Blockade unter solchen „bad conditions“. Am Schluss wird den vergeblichen musikalischen Aktionen der Stecker gezogen, und Elzirik bekennt „I am ashamed – ich schäme mich“.

Sternstunde mit Aperghis

Es war der musikalische Höhepunkt des Online-Festivals „Eclat“ am Ende von 13 Konzerten mit etwa 4500 Besuchern im Internet: eine epische Gipfelbesteigung ist „Der Lauf des Lebens“ von Georges Aperghis, uraufgeführt letzten September zwischen den Lockdowns in der Berliner Philharmonie. Damals erklang das einstündige Werk des 75jährigen griechischen Komponisten unter Corona-Bedingungen vor Publikum, und man glaubt die Spannung und Energie zwischen den Ausführenden und den Zuhörern im Live-Event zu spüren, die bei den „Eclat“-Livestreams aus dem Stuttgarter Theaterhaus doch fehlte. Beim Abschlusskonzert wurde nun die Berliner Uraufführung mit dem Klangforum Wien wiederholt, was wohl auch der Mitwirkung des hauseigenen Ensembles der Neuen Vocalsolisten Stuttgart zu verdanken ist.

Aperghis nennt sein Werk eine Reise mit komischen und tragischen Situationen: „Das Leben ist verrückt und disparat. Davon erzählt dieses Stück.“ Aus der zarten Figur eines Solo-Akkordeons entsteht bald ein wilder Tanz aus Stimmen und instrumentalen Aktionen: des Komponisten schiere Lust an musikalischer Theatralik überwältigt, einerseits höchst effektvoll inszeniert, andererseits mit vielen ungeheuer einfallsreichen improvisatorischen Aktionen der einzelnen Musiker. Beispielhaft dafür ist eine Szene mit der Mezzospranistin Truike van der Poel im Dialog mit dem Solobratschisten Dimitrios Polisoidis, aus dem sich eine furiose Kollektiv-Battaglia mit Cluster-Überfällen und einem satyrhaften Nachspiel entwickelt. Die instrumentalen Interaktionen des Klangforum Wien sind hochdramatisch in ihren scharfen Kontrasten, von den vorzüglichen Neuen Vocalsolisten kommen alle Arten von Vokalisen, deklamatorischem Gesang und virtuoser Lautakrobatik. 

Wie ein roter Faden ziehen sich Verse aus Goethes „Faust II“ durch die Komposition, die vom Bassisten Andreas Fischer sonor rezitiert werden. „Ich kam her auf glatten Wegen / Und jetzt steht mir Geröll entgegen“ lautet ein solcher Bezug zum „Lauf des Lebens“, der dann wieder mit drei Frauenstimmen zur jazzigen Akkordeon-Combo, diversen Loops wie im Hamsterrad oder einem Tenorsax-Chorus samt Schlagwerk-Explosionen weitergeführt wird. „Das Schiefe grad, das Grade schief“: steigert sich diese Lebensreise am Schluss zur finalen Agonie, zum vitalen Orgasmus? Am Ende verhaucht Aperghis‘ Vision in einem schwebenden, von Flötentönen umspielten Andante – alles kommt zur Ruhe, doch die Dramatik dieser musikalischen Sternstunde wirkt nach. Es wäre ein Glück, wenn die Veranstalter von „Eclat“ diese Produktion als Video-on-Demand wenigstens für kurze Zeit verfügbar machen könnten. Nach der Berliner Uraufführung war sie nur drei Tage in der Digital Concert Hall abrufbar.

 

Sündendornen und Lasterdisteln

Bach-Sternstunde mit Kay Johannsen und der Stuttgarter Kantorei in der Stiftskirche


„Bach:vokal“ nennt sich der auf zehn Jahre programmierte Zyklus, in dem der Stiftskantor Kay Johannsen alle Bach-Kantaten und Oratorien aufführt und der im kommenden Jahr zu Ende geht. Neben dem instrumentalen „Stiftsbarock“ sind das Ensemble Stimmkunst und die Stuttgarter Kantorei daran beteiligt, letztere gestaltete mit vier Kantaten Johann Sebastian Bachs aus seiner Weimarer und Leipziger Zeit das anspruchsvolle Programm am letzten September-Wochenende. Nicht nur wegen der Länge des Konzerts – üblicherweise sind unter Corona-Bedingungen 70 Minuten der Richtwert, hier waren es 100 Minuten ohne Pause – sondern auch wegen der komplexen Faktur der Chöre waren die sechzig Sängerinnen und Sänger der Kantorei stark gefordert. Wegen des Abstands beim Singen hatte Johannsen seinen Chor geteilt, bei den Kantaten BWV 136 und 45 zum 8. Sonntag nach Trinitatis wurde der Eingangschor als Schlusschor von der jeweils anderen Hälfte wiederholt. Das bedeutete auch gemessene Auf- und Abgänge innerhalb der Kantaten; dennoch wurden Spannung und Intensität hochgehalten.

Das lag nicht zuletzt an Johannsens variablen Tempi. Kein Stück glich dem andern, die großen Chöre und Choräle waren feinfühlig differenziert, auch in der Arienbegleitung wählte der Dirigent feinste Nuancen. Und die Werke boten das ganze Panorama Bachscher Kantatenkunst, angefangen vom mit Horn und konzertierenden Oboen bestückten Eingangschor „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz“: hier klingt schon dramatisch an, was im Folgenden zwischen Sündenfall und Jüngstem Gericht von Tenor, Alt und Bass verhandelt wird. Nur Jesus – „Dein Blut, der edle Saft / Hat solche Stärk und Kraft“ - kann den Menschen vor der Verdammnis retten – der Tenor Henning Jendritza ließ die „Sündendornen und Lasterdisteln“ mit Schärfe stechen. Eine ganz andere, tröstliche Botschaft verkündet die Choralkantate „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“: wunderbar artikuliert in der von Traversflöte umspielten Arie der Altistin Henriette Gödde, die mit ihrer klar fokussierten Stimme und ausdrucksvollen Phrasierung das hervorragende Sängerquartett anführte.

Schade, dass Fanie Antonelou – seit Jahren eine große Stütze in Johannsens Solistenensemble – nur in der 1715 für Weimar komponierten Kantate „Nur jedem das Seine“ zum Singen kam: klanglich fein ausbalanciert im Arioso- und Arienduett mit Henriette Gödde, welches im mehrfach wiederholten Wunsch des barocken Textdichters Salomon Franck gipfelt: „Nimm mich mir und gib mich dir!“. Dass Bach die Hingabe zu Gott in dieser Weise musikalisch abbildet, ist hier genauso sinnfällig wie zuvor in der von Christian Wagner prägnant gesungenen Bassarie „Lass mein Herz die Münze sein“, wo Solocello und Basso Continuo den Arbeitsprozess des Schmelzens und Prägens der Münze in sonorer Fülle illustrieren. Festlich beschwingter Abschluss des Konzerts war die Aufführung der Kantate „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ mit den neun ganz unterschiedlich gestalteten Choralstrophen von Johann Jakob Schütz. Auf den mit Traversflöten und Oboen geschmückten Eingangschor folgen Rezitative und Arien von Tenor, Alt und Bass, in der Mitte steht ein Choral, und wie am Ende jeder Strophe erklingt zum Abschluss der imperative Appell des Chors: „Gebt unserm Gott die Ehre!“ Bewundernswert, mit welcher Klarheit und Homogenität die auf Abstand postierten Sänger*innen der Kantorei agierten, lebendig und klangintensiv das von Christine Busch als Konzertmeisterin angeführte Ensemble Stiftsbarock, begeisternd und animierend Kay Johannsens Interpretation: es war eine „Bach:vokal“-Sternstunde in der Stiftskirche.

 

 

 

 

 

Vokale Intensität

Singer Pur gastiert in der Stunde der Kirchenmusik in der Stiftskirche


Seit über einem Vierteljahrhundert existiert das Vokalensemble SINGER PUR, und naturgemäß hat sich das aus den Regensburger Domspatzen hervorgegangene Sextett schon öfters verwandelt. Nur noch der Tenor Markus Zapp und der Bass Marcus Schmidl sind seit der Gründung 1992 dabei, der Salzburger Manuel Warwitz schon mehrere Jahre, sein Tenorkollege Christian Meister (2019) und der Bariton Jakob Steiner (2020) sind die jüngsten Zugänge. Seit 2003 krönt die Sopranistin Claudia Reinhard mit ihrer leuchtenden Stimme das Männerquintett.

Mit dieser Besetzung sind SINGER PUR innerhalb der international renommierten Vokalensembles eine hörbare Ausnahmeerscheinung. Gerade in der Interpretation alter Musik unterscheiden sie sich vom Klangspektrum reiner Männerensembles, das war auch bei ihrem neuerlichen Auftritt im Rahmen der Stunde der Kirchenmusik in der Stuttgarter Stiftskirche beglückend zu erleben. „Musica Ibérica“ war der Titel des Programms mit geistlicher Vokalmusik vom Mittelalter bis zum Frühbarock mit Stücken spanischer, portugiesischer und lateinamerikanischer Komponisten.  Eine Cantiga des Königs von Kastilien, Alfonso X. El Sabio aus dem 13. Jahrhundert, in der eine Heiligenlegende aus dem Kloster Los Huelgas in Burgos erzählt wird, ist in ihrer Monodie grundverschieden von der Motette „Veni Domine“ des drei Jahrhunderte später in Toledo wirkenden Renaissance-Meisters Cristóbal de Morales, deren strahlende Polyphonie an die italienischen und franko-flämischen Zeitgenossen erinnert. In beiden Stilrichtungen zeigte sich SINGER PUR prächtig bewandert, die Kontraste im 16-teiligen Programm waren reizvoll herausgestellt.

Über die Hälfte der Kompositionen waren Mariengesänge, einige davon Stücke aus dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts im oben erwähnten Zisterzienserkloster Santa Maria la Real wiederentdeckten Codex Las Huelgas. Neben bekannteren spanischen Renaissance-Meistern wie Tomás Luis de Victoria („Beate es, Virgo Maria“) vermittelten die Motetten der Portugiesen Pedro de Escobar und Diogo Dias Melgás eigene Eindrücke. Von besonderer Qualität war der Villancico „Eso rigor é repente“ des von Portugal nach Guatemala und Mexiko ausgewanderten Gaspar Fernandes: im Gewand der biblischen Dreikönigsgeschichte erzählt das Stück von Sklaverei und den Feindseligkeiten zwischen Schwarzen und Weißen in der Neuen Welt.

Dietholf Zerweck

 

Verheißungen für die neue Saison


Das Stuttgarter Kammerorchester spielt auf der Bühne des Beethovensaals


Seit März war die Stuttgarter Liederhalle verwaist, bis das Staatsorchester mit seinem Beethoven-Zyklus aller acht Sinfonien die Musik dort wieder zum Leben erweckte – mit Musikern und Zuhörern in Corona-Abstandsregeln im Parkett. Pünktlich zur Lockerung der Konzertbeschränkungen von 99 auf 500 Besucher in Innenräumen ist das Stuttgarter Kammerorchester mit seinem Chefdirigenten Thomas Zehetmair nun Anfang August wieder auf die Bühne des Beethovensaals zurückgekehrt. Die zwanzig Geiger, Bratscher, Cellisten und Kontrabass samt Cembalistin in ihrer Mitte sind auf Abstand an ihren Einzelpulten verteilt, Zehetmair gibt den Tutti-Einsatz zu Johann Sebastian Bachs a-Moll-Konzert mit dem Rücken zum Publikum, bevor er sich als Solist in den Wettstreit mit dem Orchester wirft. 

Der gelingt überraschend homogen in der Klangbalance, deren Wirkung bei den im Parkett und auf der Empore locker verteilten Publikumsinseln weniger spröde als sonst bei Kammerorchesterkonzerten im gefüllten Beethovensaal ankommt. Und Zehetmair, der Salzburger, genießt seinen Bach auch keineswegs trocken: Im Andante lässt er seinen solistischen Geigenton vom feinsten Pianissimo bis zum strahlenden Forte aufblühen, die Ecksätze atmen lyrischen Schwung, auch im folgenden E-Dur-Konzert vereinigen sich rhythmische Prägnanz und Kantabilität zu stetigem melodischen Fluss. Besonders der elegische Mittelsatz hatte Spannung und Tiefe.

Mehr als eine Stunde sollten Konzerte derzeit nicht dauern, Pausen entfallen, allein schon wegen der schwer kontrollierbaren Publikumsbewegungen und Toilettengänge. Doch das vom tradierten Konzertformat mit doppelter Länge samt meist nahezu halbstündlicher Unterbrechung abweichende Angebot sorgt für Konzentration und Entspannung zugleich. So hellwach und vom üblichen Pausen-Smalltalk unberührt die Zuhörer dem schockartigen Unisono-Überfall am Beginn von Beethovens „Quartetto serioso“ op.95 ausgesetzt sind, so furios und ohne Schrecksekunde stürzt sich die Streicher-Phalanx unter Zehetmairs inspirierender Leitung als Dirigent in dieses Allegro con brio. Düster und zerrissen wie selten, und dennoch formvollendet steht dieses Werk an der Schnittstelle zwischen Beethovens mittleren und späten Streichquartetten. Seine emotionale Unbedingtheit ist auch in der Streichorchester-Bearbeitung spürbar, die kommunikative Auseinandersetzung der vier Quartett-Partner gerät beim dirigierten Musizieren freilich etwas aus dem Blick. Doch die Streichorchester-Dynamik, kräftig angespornt von Zehetmair, lässt dieses Opus 95 in ihrer geradezu expressionistischen Aufgewühltheit eher noch moderner erscheinen. Musikalisch - und auswendig dirigiert - ein gelungenes Experiment. Und fürs Publikum eine Verheißung für halb- oder viertelwegs normale Konzerte in Coronazeiten nach der Sommerpause.

 

Von der Kunst des Abschieds


Marcus Creed gibt sein letztes Konzert als Chefdirigent des SWR Vokalensembles


Es sollte ein großes Abschiedskonzert werden für Marcus Creed, der das SWR Vokalensemble seit 2003 zu einem der repertoirereichsten und anspruchsvollsten Profichöre entwickelt hat. „Zeitenwende“ war das Motto eines Programms, mit dem im angestammten Auftrittsdomizil in der Gaisburger Kirche noch einmal Wegemarken der äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Creed und seinen 32 solistischen Sängerinnen und Sängern aufscheinen sollten. Statt eines Panoramas der Chormusik mit den unterschiedlichsten Ausdrucksstilen europäischer und amerikanischer Herkunft vom Barock über die Vielfalt der Romantik bis zur Moderne - von der auch die reichhaltige Diskothek des SWR Vokalensembles in der Ära Creed zeugt – war es nun ein Doppelkonzert unter Corona-Bedingungen mit je 99 Zuhörern in der Stuttgarter Stiftskirche, das in seiner Auswahl von Madrigalen und Motetten aus Renaissance und Barock von Creed ganz auf seinen auf zwei kleinere Ensembles verteilten Edelklangkörper abgestimmt war. Am Ende des Abendkonzerts wurde der 69jährige Marcus Creed, dessen Leben mit der Chormusik im King’s College Choir in Cambridge begann, zum ersten Ehrendirigenten in der 75jährigen Geschichte des SWR Vokalensembles ernannt.


„Wir haben riesige Ohren und versuchen über die Entfernung hinweg mit den anderen Stimmen in Berührung zu bleiben“, sagt eine der Sängerinnen in der Pause zwischen den beiden Konzerten. In weitem Abstand stehen die Akteure im Halbrund, umso überwältigender ist die Klanggewalt und Homogenität der Stimmen, mit denen Marcus Creed Henry Purcells Anthem „Hear My Prayer, O Lord“ am Anfang intoniert. Die kühne Harmonik der Madrigal-Kompositionen des Engländers steht im reizvollen Kontrast zu den ganz aus dem Sprachduktus heraus entwickelten Motetten von Heinrich Schütz, in dessen „Geistlicher Chormusik“ von 1648 die Dramatik und Spiritualität seiner Erfahrung des Dreißigjährigen Kriegs mitklingt. „Von der Kunst zu leben – und der Kunst zu sterben“ (so der Titel des Konzerts) sind wiederum die Ausdrucksgegensätze der Madrigale von Thomas Weelkes, John Wilbye, Thomas Tomkins im Vergleich zu den kunstvoll strukturierten Motetten von Johann Michael Bach geprägt. Dessen Psalmvers „Unser Leben währet siebenzig Jahr“ wird mit dem Tunder-Choral „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ gespiegelt, und vom SWR Vokalensemble so filigran und klangtransparent dargeboten wie das doppelchörige „Halt was du hast“ mit den kunstvoll eingewobenen drei Strophen des Cantus Firmus „Jesu, meine Freude“. John Wilbyes Madrigal „Draw on sweet night“ ist schließlich der vollkommene Abschluss dieses wunderbaren, alle vokalen Klangregister in der Stiftskirche weckenden Abschiedskonzerts für Marcus Creed, in dessen Elegie an die Nacht es am Ende heißt, während sie alles in Stille einhülle, sei die beste Zeit für jede Klage: „And while thou all in silence dost enfold / I then shall have best time for my complaining“. 


Doch zur Abschiedsklage besteht kein Anlass. Als Gastdirigent wird Marcus Creed auch weiterhin ab und zu am Pult des SWR Vokalensembles stehen, schon bald im September zum Beispiel beim Festival d’Automne in Paris mit einem Kontrastprogramm von Gesualdo und Wolfgang Rihm. Und im November tritt der erst 30jährige israelische Dirigent Yuval Weinberg in Creeds große Fußstapfen – mit einem ganz auf die eminenten sängerischen Möglichkeiten des Ensembles zugeschnittenen Programm: Brahms‘ „Drei Gesänge“, Messiaens „Cinq Rechants“, Orjan Matres „Orphic Songs“ und einer Uraufführung von Georges Aperghis.

 

 

Disparate Daseinswelten


Beethoven und Schostakowitsch: „Al Fine da Capo“ bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen


Anfang März war Jochen Sandig, der neue Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele, die seit diesem Jahr auch als „Ludwigsburg Festival“ mit Unterstützung der UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklungsziele firmiert, noch voller Hoffnung. Ein innovatives Programm für acht Festspielwochen, ein opulent gestaltetes Programmbuch, das gerade auf die Shortlist der Schönsten Deutschen Bücher 2020 gewählt wurde: man war neugierig, wie der von Berlin (Tacheles, Sophiensäle, Radialsystem) ins Schwäbische heimgekehrte Kulturmanager seine Konzepte umsetzen würde. Doch dann kam Corona, auch alle Kultur im Lockdown, Sandigs erste Saison perdu? Zum Glück nicht ganz, außer einigen Internet-Aktivitäten rappelte man sich zu einem „Al Fine da Capo“ in der letzten Juniwoche, mit vier Live-Konzerten im traditionsreichen Ordenssaal des Barockschlosses, wo vor 87 Jahren eines der ältesten europäischen Klassik-Festivals begann. 60 Besucher waren gemäß den baden-württembergischen Abstandsregeln jeweils zugelassen, unter dem barocken Deckenfresko der italienischen Baumeister und den funkelnden Kronleuchtern im sonst eng bestuhlten Saal saß man auf Einzel- und Doppelsitzinseln exklusiv. Nach so langer Livemusik-Abstinenz für Zuhörer und Ausführende, die ihre 70-Minuten-Auftritte gleich zweimal an einem Abend ohne Pause absolvierten, ganz ungewohnt, aufregend, beglückend.


                                                                                  

Ognuno sta solo sul cuor de la terra

traffito da un raggio di sole

ed è subito sera

(Salvatore Quasimodo)


Neben Konzerten zu Beethovens Volkslied-Bearbeitungen mit Christoph Prégardien und dem Oberon Trio sowie einem Kammermusik-Finale mit Mitgliedern des Festspielorchesters waren ein Beethoven-Abend mit Cello-Sonaten und der Auftritt des Mandelring Quartetts mit drei Streichquartetten Dmitri Schostakowitschs die Höhepunkte der Festspielwoche. Ausdruckswelten liegen zwischen den Duo-Schöpfungen des diesjährigen Klassik-Jubilars und den Bekenntniswerken Schostakowitschs, in denen sich ein Künstlerdasein im 20. Jahrhundert aufs Intensivste spiegelt. Wie Sebastian, Nanette, Bernhard Schmidt und der befreundete Bratscher Andreas Willwohl die Angstschreie der Serenade von Schostakowitschs letztem, seinem 15. Streichquartett in Es-Moll artikulieren, geht tief unter die Haut. Überhaupt sind diese sechs pausenlos aufeinander folgenden Adagio-Sätze von 1974 ein ungeheures Vermächtnis im Rückblick auf ein existenziell gefährdetes Leben. Während zu Beginn ein Blick zurück die harmoniesüchtige Schönheit des 1. Streichquartetts von 1938 zitiert, welches die Mandelring-Spieler an den Anfang stellten, entwickeln sich die Stimmen der Instrumentalisten nach einer dramatischen Solokadenz der 1. Violine immer monologischer zwischen Fatalismus und Resignation. Einsam und wie von einem letzten Strahl der Sonne getroffen steht der Komponist „auf dem Herzen der Erde“, wie es der italienische Dichter Salvatore Quasimodo in seinem viel zitierten Vers aus dem Jahr 1930 formuliert.


Diese radikale Individualität ist in Schostakowitschs wohl bekanntestem, 8. Streichquartett op. 110, von ungeheuer leidenschaftlicher Intensität, mit den sich in jedem der fünf fugenlos ineinander verzahnten Sätzen wiederholenden Initialen D-Es-C-H ein autobiografisches Monument im Rückblick auf ein durchkämpftes und durchlittenes Lebens-Vierteljahrhundert. 1960 bei einem Aufenthalt in Dresden komponiert und offiziell „Den Opfern von Faschismus und Krieg“ gewidmet, ist diese Musik emotional hoch erregt von Trauer, greller Zeitdiagnose und Daseinswillen. Vom Mandelring-Quartett wurde es in einer souveränen, wenngleich etwas objektiv distanzierten Interpretation dargeboten. Ganz im Gegensatz dazu blieben die drei Beethoven-Sonaten mit Nicholas Altstedt und Alexander Lonquich in Erinnerung. Was hier an Gegensätzen von lyrischer Kantilene und glühendem Appassionato mit bravouröser Klanggewalt musiziert wurde, begeisterte die Zuhörer unmittelbar. Auch hier spannte sich der kompositorische Bogen über Jahrzehnte, vom rhapsodischen Adagio der F-Dur- und dem brillanten Pathos der g-Moll-Sonaten (1796) bis zum kunstvollen Freiheitsdrang der D-Dur-Sonate von 1815. Wahrhaftes Glück für die Festspielbesucher, die bei diesen Konzerten von „Al Fine da Capo“ im Ordenssaal des Ludwigsburger Schlosses dabei sein konnten.

Musikalische Ermunterung


Pfingstkantaten mit Kay Johannsen bei „Bach:vokal“ live in der Stiftskirche


Man konnte das Leuchten in den Augen sehen, bei einigen der „Stiftsbarock“-Musiker und „Stimmkunst“- Sänger schimmerten auch Tränen am Ende eines Konzerts, an dem in der Stiftskirche unter Corona-Hygienebedingungen immerhin 99 Besucher teilnehmen konnten. An den Freitagabenden der „Stiftsmusik“ erklingt schon seit der zweiten Maihälfte wieder Live-Musik für Zuhörer in der Stiftskirche, zunächst war das in der Form von „Musik und Psalm“ in gemeinsamer Regie von Organisten und Pfarrern möglich, mit jeweils zwei abendlichen Recitals im Abstand von einer Stunde, und mit diesem Pilotprojekt war die Stiftskirche allen Stuttgarter Konzertveranstaltern voraus. Nun konnte auch der zehnjährige Zyklus „Bach:vokal“ fortgesetzt werden, bei dem Kay Johannsen mit seinen Ensembles bis zum Jahr 2021 das gesamte Kantaten- und Oratorienwerk Johann Sebastian Bachs zur Aufführung bringt. Und am 3. Juli beginnt – ebenfalls mit freitäglichen Doppelkonzerten - der Internationale Orgelsommer.

Welche Herausforderung es für Musiker bedeutet, unter den geltenden Abstandsregeln gemeinsam im Orchester zu musizieren und zugleich einen homogenen und dynamisch strukturierten Gesamtklang hervorzubringen, war schon kürzlich beim Start des Beethoven-Zyklus von Cornelius Meister mit dem Staatsorchester in der Liederhalle zu beobachten. Auch in den groß besetzten Pfingstkantaten samt Holz- und Blechbläsern um den Altar der Stiftskirche war die Aufführung ein Experiment: Während das Dutzend der Streicher unter den kräftigen beidarmigen Taktimpulsen Johannsens immerhin auf Hörkontakt zusammenwirkte, waren die Bläser in weitem Umkreis postiert, was bei der einleitenden Sinfonia zu „Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüte“ – eine Umarbeitung des Kopfsatzes von Bachs 3. Brandenburgischen Konzert -  einige akustische Turbulenzen erzeugte. Dennoch und vor allem: nach so vielen Wochen musikalischer Abstinenz ein beglückendes, aufregendes Hörerlebnis, welches durch die exquisite Besetzung der konzertierenden Soloinstrumente (zum Beispiel die Cellistin Melanie Beck mit dem Bassisten Christian Wagner oder Annie Laflammes Traversflöte und Christine Buschs Violine zu Carmela Konrads Sopranarie „Gelobet sei der Herr, mein Gott“) sowie die vierzehn hervorragenden Solostimmen des Ensemble Stimmkunst intensiviert wurde.

Aus ihm heraus lässt Kay Johannsen jeweils die Arien und Rezitative singen, was bei diesem Programm in der Stiftskirche außerordentlich ansprechend gelang. Auch hier glaubte man die Freude der Sängerinnen und Sänger zu spüren, endlich wieder auftreten zu können. Und was den Ensembleklang angeht, so waren die Chöre und Choräle trotz der großen Abstände zwischen einander und der vorgehängten Plastikfolien ausdrucksvoll und fein abgestimmt. Nicht nur wegen seiner von Streichern, Oboen, Taille und Continuo reich verzierten kompositorischen Qualität war der Schlusschoral von BWV 174 ein tief berührender Moment der Aufführung: wie am Ende von Bachs „Johannes-Passion“ entfaltet sich dieses musikalische Gebet in den letzten beiden Verszeilen zu ekstatischer Vision, welche überwältigend interpretiert wurde: „Herr Jesu Christ, mein Gott und Herr / In Schanden lass mich nimmermehr!“

Sinfonischer Beethoven-Zyklus

Cornelius Meister und das Staatsorchester live vor 99 Zuhörern in der Liederhalle


Die Bühne versenkt, das Parkett leer geräumt und gemäß den Corona-Abstandsregeln schütter bestuhlt: den Besuchern des ersten von zehn Konzerten mit dem Staatsorchester Stuttgart bietet sich ein völlig ungewohntes Bild im Beethovensaal der Liederhalle, der mit diesem mutigen Versuch nach drei Monaten Lockdown wieder beglückend zum Leben erwacht. Was die Berliner Philharmoniker am 1. Mai, zu ihrem alljährlichen Geburtstagskonzert, mit Kirill Petrenko damals noch ohne Publikum in ihrem Domizil am Potsdamer Platz mit Streichorchester und einem Mahler-Arrangement als Versuchsballon starteten, bekommt hier mit Zuhörern eine neue Relevanz. Die Musiker sitzen an einzelnen Pulten gehörig weit voneinander entfernt in einer kreisrunden Ordnung unter den geschwungenen Leuchtbahnen der vor fünfundsechzig Jahren erbauten Konzerthalle, die Zuhörer in 45 darum im Halbrund verteilten „Blocks“ zu je fünf Stühlen, auf denen meist zwei Personen Platz nehmen. Sobald man sitzt, kann man die Atemschutzmasken abnehmen, auch der Dirigent entledigt sich seiner schwarzweißen Maske erst, wenn er sein Podest betreten hat.

Cornelius Meister, der bis Ende Juli bei diesen Konzerten jeweils eine Beethoven-Sinfonie von I bis VIII – „Eroica“ und „Pastorale“ stehen zweimal auf dem Programm – dirigieren wird (dass die Chor-IX. nicht aufgeführt wird, versteht sich von selbst), spricht zu Beginn davon, „wie sehr wir uns gefreut haben, Sie wiederzusehen“. Um dann einige knappe Erläuterungen zur C-Dur-Sinfonie – „vor 220 Jahren uraufgeführt, nach 250 Jahren im Beethoven-Jubiläumsjahr jetzt gleich von uns gespielt“ – zu geben. Was komponiert der 30jährige Beethoven, „wie klingt der erste Takt des 1. Satzes dieser 1. Sinfonie?“ Meister lässt den schon die damaligen Zuhörer irritierenden Dominant-Septimakkord, dessen schwebende Auflösung zum C-Dur hinführt, lang intonieren, zeigt auch mit einigen Beispielen aus den weiteren Sätzen typische Merkmale des Komponisten – Subito-Piano, lange Steigerungen – bis zu der „berühmtesten Tonleiter der Musikgeschichte“, jener sich langsam in einem halben Dutzend Anläufen hochrangelnden Einleitung zum endlich auftrumpfenden Allegro-Finale. Bei der „Großen Musikalischen Akademie“ am 2. April 1800 im Wiener Hoftheater stand Beethovens Sinfonie, nach Werken Mozarts und Haydns, einem eigenen Klavierkonzert, dem der Kaiserin gewidmeten Es-Dur-Septett für Streich- und Blasinstrumente und Improvisationen auf dem Piano-Forte, an siebter Stelle auf dem Programmzettel. Der Meister selbst spielte und dirigierte.

Beethovens Tempobezeichnungen seiner ersten Sinfonie tragen die Zusätze „con brio“, „con moto“, „molto e vivace“. Es ist nicht bekannt, wieviel Streicher bei der Uraufführung neben den jeweils zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten, Hörnern, Trompeten und der Pauke dabei waren. Doch Beethoven soll ziemlich wütend gewesen sein über die Trägheit des Orchesters bei der Ausführung seiner raschen Tempi. Davon kann natürlich bei der Wiedergabe im Beethovensaal keine Rede sein, obwohl vor allem Scherzo und Finale dem Dirigenten und seinem Staatsorchester in dieser Besetzung fast Unmögliches abverlangen. Bei solchen Abständen zwischen den einzelnen Musikern – die Bläser ganz hinten unter der Empore wegen der Aerosole noch weiter entfernt – geht nicht Alles perfekt zusammen. Aber was bedeutet schiere Perfektion gegenüber dem nachhaltigen Live-Erlebnis einer Sinfonie, deren Klangwucht und wunderbare Bläser-Details in diesem für über 2000 Besucher ausgelegten Beethovensaal einem nach aller Corona –Enthaltsamkeit fast Tränen oder Gänsehaut beim Zuhören bescheren. Auch die Musiker scheinen beim Schlussapplaus gerührt und stolz aufs Vollbrachte. Dieser Beethoven-Zyklus wird für viele Glückliche, die in den Genuss von Tickets kommen, unvergesslich bleiben.

 

Wunderland mit Sensenmann


Cornelius Meister eröffnet die Staatsorchester-Saison mit Mozart, Berg und Mahler


Die erste Sinfonie des achtjährigen Wolfgang Amadé, beim mehrmonatigen Aufenthalt in London auf Konzertreise Leopold Mozarts mit seinen Kindern quer durch Europa komponiert, ist ein glänzendes Beispiel für das Wunderkind-Image des späteren Fixsterns der Wiener Klassik. Wie er die dreisätzigen sinfonischen Muster Haydns und Johann Christian Bachs, der ihn in London unterrichtete,  hier einsetzt und verarbeitet, wie er Stürmisches und Inniges in den Themen des Allegro kontrastiert, wie er im Presto-Finale Rondo tanzen lässt und im Andante ein Vierton-Motiv erfindet, das fünfundzwanzig Jahre später das Finale der „Jupiter“-Sinfonie beherrscht: einfach unglaublich! Mit spürbarer Lust setzten das Staatsorchester Stuttgart und sein Generalmusikdirektor Cornelius Meister diesen Auftakt an den Beginn ihrer neuen Konzertsaison.

„Weites Wunderland ist aufgetan“ singt die Sopranistin im ersten der „Sieben frühen Lieder“ von Alban Berg, Diese haben eine besondere Geschichte, denn von seinen über 80 Liedkompositionen, die meisten noch in spätromantischer Tonsprache, veröffentlichte Berg zwei Jahrzehnte später erst 1928 den siebenteiligen Zyklus - nun expressionistisch mit einem geschärften Sinn für Klangfarben und am Rande der Atonalität. Nacht, Traum, Einsamkeit, Liebe, Vergänglichkeit sind die Themen der Gedichte, deren lyrische Intensität der Gesangslinien mit äußerst differenzierten Orchesterstimmen kombiniert wird. Simone Schneider als Solistin und ein von Cornelius Meister auf farbigste Nuancen gepoltes Orchester machten diese poetisch-musikalischen Stimmungsbilder zum subtilen Erlebnis.


Wunderwelten bringt auch Gustav Mahlers 4. Sinfonie zum Erklingen: so wie sie von Cornelius Meister interpretiert wird, ist sie zu allererst ein Ausdruck der Sehnsucht nach kosmischer und innerweltlicher Harmonie. Zwar klingt das an eine Schlittenfahrt in der Bergeinsamkeit erinnernde Schellengeläut des Anfangs im „sehr behaglichen“ Finalsatz mit dem Lied „Der Himmel hängt voll Geigen“ aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ plötzlich grell in den Ohren, doch Simone Schneiders leuchtender, im zarten Piano wie im voluminösen Forte klar fokussierter Sopran hüllt die „himmlischen Freuden“ – auch beim Schlachten von Lamm und Ochsen – in wonnige Heiterkeit. Dass beim Abdruck des Textes im Programmheft Cäcilia als Schutzheilige der Musik und die Schlussstrophe – „Kein‘ Musik ist ja auf Erden, / Die uns’rer verglichen kann werden“ – einfach unterschlagen werden, ist ärgerlich.


Mahlers doppeldeutige Ironie in seiner 4. Sinfonie, mit der Walzer, Ländler, Volkston und Wiener Heurigenseligkeit vielfältig zitiert werden, schlägt an zwei Stellen ins Groteske und Unheimliche um: wenn er den Konzertmeister im 2. Satz auf seiner skordierten, also um einen Ganzton verstimmten Geige wie einen Sensenmann fiedeln lässt, und im „ruhevollen“ Adagio die Folklore-Themen auf einmal wie durch einen Teilchenbeschleuniger gezwungen werden. Doch sofort verströmt sich die Musik wieder in feinsten, farbigsten Harmonien, auch der mit größtem Paukengedonner inszenierte Tutti-Jauchzer am Ende dieses Satzes wirkt unhinterfragt euphorisch. So zelebriert Cornelius Meister diesen Mahler doch mit einer Spur allzu idyllischer Nostalgie.


 

Kreisläufer im Liebesterror

Jules Massenets „Werther“ als Neuproduktion im Opernhaus

 

Eine kreisrunde Spielfläche über dem Orchestergraben bis ins Parkett, Dahinter auf der Bühne das Staatsorchester: mit dieser minimalistischen Inszenierung bringt die Stuttgarter Oper kurz vor der Sommerpause den schon vor einem Jahr vorgesehenen „Werther“ von Jules Massenet doch noch auf die Bühne. Obwohl das Regiekonzept – ohne Kulissen und Requisiten, mit fünf Sängern in weitem Abstand voneinander agierend – angeblich schon vor der Corona-Pandemie so geplant war, bleibt diese szenische Umsetzung des Musikdramas, welches 1892 uraufgeführt wurde, ziemlich einfallslos, jedoch voll kompatibel mit den geltenden Hygienebedingungen: das Orchester hat genügend Platz, Charlotte und Werther kommen sich nur am Ende auf Rosenblättern gebettet nahe, ansonsten laufen alle Figuren ständig im Kreis, was bald als ideenlose Regie-Masche anödet. Damit liegt das Schwergewicht der Aufführung ganz auf der musikalischen Seite, und die wird von Marc Piollet mit dem Staatsorchester wie auch von den Protagonisten begeisternd realisiert.

 

Ein Blackout zu Beginn der beiden Handlungshälften: im Orchester beschwört Piollet sofort die Dramatik der tragischen Leidenschaft Werthers zu Charlotte, die wir wie in Goethes Briefroman bei der ersten Begegnung im Kreis ihrer jüngeren Geschwister erleben. In Felix Rothenhäuslers Inszenierung klettert gleich eine ganze Kinderschar, von Katharina Pia Schütz altersgerecht bis zum Backfisch-Ballkleid kostümiert, samt großem Plüschteddy aus den vorderen Parkettreihen auf die Spielfläche und singt „Noèl, noèl – Jesus vient de naître“. Das Weihnachtslied von der Geburt Jesu, von Massenet als Hoffnungsklammer am Ende nach Werthers Selbsttötung „von ferne“ wiederholt, erschallt nur aus den Lautsprechern – wie schön wäre es, den Opern-Kinderchor hier am Schluss noch einmal szenisch live zu erleben, immerhin sind die Kinder doch für Charlotte ein Motiv ihrer „Pflicht“, sich auf Geheiß ihrer verstorbenen Mutter in der bürgerlichen Ehe mit Albert um diese zu kümmern. Für diesen Albert (ein solides Rollendebüt des Baritons Pawel Konik) ist Glück genauso ein praktischer Lebensentwurf wie für Charlottes Schwester Sophie, deren Feel-Good-Philosophie Aoife Gibney im giftgrünen Kostüm und Aktenköfferchen sängerisch bravourös verkörpert: Sie ist eine lebensfrohe Vernunftschwester der Musette aus Puccinis ein paar Jahre später entstandener „La Bohème“. 

 

Werther freilich ist kein Bohemien, seine antibürgerliche Gesellschaftsunfähigkeit resultiert aus einem radikalen Gefühlsautismus, seine Naturschwärmerei ist nur ein Ventil für seine unbefriedigte Leidenschaft, die ihn beim ersten Anblick Charlottes rettungslos überfällt: „Rêve! Extase! Bonheur!“ schmettert der mexikanische Tenor Arturo Chacón-Cruz mit einem seinem Landsmann Rolando Villazón nicht unähnlichen Timbre in die Luft. Nur am Anfang klingt seine Stimme etwas gepresst in den Höhen, doch sängerisch meistert Chacòn-Cruz seine Partie formidabel. Dass er vier Akte lang mit einem Riesenstrauß roter Rosen im Kreis laufen muss, bevor er dann von einem Rosenblätterregen vom Bühnenhimmel in seinen 20-Minuten-Tod begleitet wird, ist der Regie geschuldet, der es nicht gelingt, diese Figur in ihrem Liebesterror differenzierter zu charakterisieren. Wie freilich Massenets fast schon impressionistische Klangpalette - auch in den Orchester-Intermezzi des ersten und zweiten Aktes - das Verhältnis von Werther und Charlotte zum Ausdruck bringt, ist von Piollet mit dem Staatsorchester fein ausgelotet. Überragend gestaltet Rachael Wilson ihre Charlotte: von Beginn an in weiße Unschuld samt Hochzeitstüll verpackt, bringt sie ihre Gemütszustände von Pflicht, Zuneigung, Freundschaftsillusion, Treue, Selbstvorwürfen, Jenseitshoffnung musikdramatisch höchst eindrucksvoll zur Geltung. Ihre „Tränen“-Arie ist der Höhepunkt einer sängerisch makellosen Partie. Shigeo Ishinos Amtmann mit „Security“-Jacke komplettiert die Schmalspur-Inszenierung, bei der eine Reihe von Nebenfiguren gestrichen sind. 

 

Info: 3 weitere Vorstellungen heute, 15. und 18. Juli im Opernhaus.

 

Dietholf Zerweck 

Filmisch-musikalische Collage in sieben Passionsstationen

Stuttgarter Oper zeigt „Glaube, Liebe, Hoffnung“ als virtuelle Installation im Internet

 

Im März hatte die Staatsoper Stuttgart zwei szenische Premieren im Opernhaus geplant: erst sollten Robert Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ auf die Bühne kommen, dann sollte es Andrew Lloyd Webbers „Jesus Christ Superstar“ in einer Corona-tauglichen Version sein. Da beides ohne Publikum keinen Sinn macht und die Kultur auch in Baden-Württemberg immer noch im Total-Lockdown gehalten wird, steht nun in der Woche vor Ostern ein Online-Projekt auf dem „Spielplan“, welches beide Stücke und manches Andere unter dem Titel „Glaube, Liebe, Hoffnung“ mit zu verarbeiten sucht. Passend zur Passionszeit haben Marco Storman – er war, nach seinem formidablen „Nixon in China“-Debüt, als Regisseur für die geplanten Inszenierungen vorgesehen – und die Video-Künstlerin Susanne Steinmassl in Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Demian Wohler eine „virtuelle Ausstellung“ geschaffen, die in einem knapp einstündigen Parcours bis Ostern im Internet besichtigt werden kann. Beim Eintritt hat man die Wahl zwischen „Video ansehen“ oder „Selber spielen“ – wobei für letzteres vermutlich ein hochleistungsfähiger Game-Computer vonnöten ist. Beim Selbstversuch hat es trotz öfteren Probierens mit dem Download nicht geklappt.

 

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe“, heißt es beim Apostel Paulus in der Bibel, doch die Wortumstellung beim Opernprojekt ist wohl beabsichtigt: sehr spielerisch und freizügig geht man mit dem filmischen und musikalischen Zitatenmaterial um, welches beim Spaziergang durch eine „apokalyptische und postapokalyptische Landschaft“ (Staatsoper-Info) auftaucht. Schrittgeräusche und Synthesizer-Gewaber führen zur ersten Station: eine junge Frau mit Blutspritzern im Gesicht vor einem Marienaltar, dazu erklingt Schuberts „Gretchen am Spinnrad“, natürlich schrill verfremdet mit E-Gitarren-Begleitung. „Meine Ruh ist hin“, klagt die Singstimme, die in einer späteren Station eine Ikone Bachscher Oratorienmusik (die Altarie „Erbarme dich“ aus der „Matthäus-Passion“) als verschleierte schwangere Eva auf dem Blütenthron verballhornen wird. So geht es weiter, vorbei am abmontierten Mercedesstern vom Stuttgarter Hauptbahnhof, zum nächsten Andachtsbild oder Bildstöckl (wie man im Einführungsprolog aufgeklärt wurde). Zu einem Song aus „Fausts Verklärung“ schwebt auf dem in die Landschaft platzierten Billboard ein Heiligenreif über dem Haupt des Popsängers. Zwischen Wolkenkratzern und Industriebauten trifft man in einem grabartigen Monument ein singendes Skelett („I don’t know how to love him“) aus dem Webber-Musical. Durch einen dunklen Wald unter blutrotem Himmel geht es zu „Parsifal“-Klängen zum nächsten Screen: ein Motorradunfall, als Skulptur arrangiert, der Verunglückte steigt mit Wundmalen aus den Trümmern. 

 

Dazu passt für den Regisseur oder den Dramaturgen (Ingo Gerlach) ein Judas-Song aus „Jesus Christ Superstar“, und wenn zur Halbzeit (30:30 min.) die „Erbarme dich“-Geschmacklosigkeit überstanden ist, läuft man durch karstige Weltraumtopografie mit purpurfarbenem Sonnenuntergang auf einen mit Jeans und nacktem Oberkörper in einer Baumgabel gekreuzigten Ringellocken-Faust zu, der sich zuvor mit einem Energy-Drink aus der Dose gestärkt hat. Gretchen legt auf ihn mit dem Zielfernrohr an, dazu fällt saurer Regen aus dem Weltall. „Einen Versuch, sich aus Zuschreibung und Einschreibung zu befreien“, nennt der Vorspann zum Video-Parcours dieses Projekt, doch die Frage ist schon, ob die assoziative Collage dem Thema von „Glaube, Liebe, Hoffnung“ überhaupt nahekommt – zumal für jüngere User, man wird selbstverständlich geduzt in diesem Stream. 

 

Das doppelte Gretchen taucht wieder auf mit seinem Monolog „Ach neige, du Schmerzensreiche, dein Antlitz gnädig meiner Not“ aus den Schumannschen Faust-Szenen. Wie am Anfang stehen die beiden Frauen vor dem Marienaltar, studieren die stilisierte Handbewegung der Renaissance-Darstellung und lachen sich über deren Symbolik halb kaputt. Todesengel und Verkündungsengel flankieren die Figur auf den Altarflügeln, zwischen klassizistischen Skulpturen („Rossebändiger“) führt der Weg durch eine Schlucht, fern am Horizont steht eine bleiche Sonne wie aus Schuberts „Winterreise“. Noch einmal Parsifal-Klänge vom Akkordeon, ein Hügel mit bunten Pusteblumen, eine plane Fläche, an deren Ende eine Botschaft: „Sprung in den Abgrund“. Angekündigt im Prolog war ein persönlicher Passionsweg: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, durch Leben, Tod und Auferstehung“. Ziemlich bemüht das Ganze, Resteverwertung irgendwie. Vielleicht sollte man lieber (ab Karfreitag 2. April) auf Calixto Bieitos „Parsifal“-Inszenierung der Stuttgarter Oper zugreifen, als Video-on-Demand.

 

Dietholf Zerweck

Schlaflos in Terrana 2

Jelineks „Die Bienenkönige“ und Mahlers „Lied von der Erde“ zusammen in der Oper


Ein Wesen aus dem Weltraum betritt die Ruinen einer Zivilisation, um das Sterben unseres Planeten Erde zu erforschen, und findet einige Überlebende. Das ist das äußere Konstrukt der neuesten Produktion der Stuttgarter Oper, die Elfriede Jelineks Prosatext „Die Bienenkönige“ mit Gustav Mahlers sinfonischem „Lied von der Erde“ verkoppelt: ein Abend, der musikalisch weit mehr überzeugt als szenisch.

„Da haben wir also wieder mal einen, der sich selber zerstört hat“: so beginnt Jelineks dystopischer Monolog über die zukünftigen Folgen einer die Welt bedrohenden technologischen Katastrophe, die in gesellschaftlicher Perversion und Apokalypse endet. Die Schauspielerin Katja Bürkle spielt diesen gut halbstündigen Text in einer Art Baugrube (Bühne: Jo Schramm), in die beim Beginn des „Trinklieds vom Jammer der Erde“ die vier Mahler-Protagonisten hinabsteigen. „Terrana 2“ wird zur Arena der Emotionen zwischen Vergänglichkeit und Ekstase, Aufbruch und Untergang. Wirkt die Erzählung Bürkles, ironisch unterkühlt dargeboten und darstellerisch pointiert, zunächst wie ein ausgedehnter Prolog zum musikalischen Hauptteil der Aufführung, wird sie als Rahmenhandlung am Schluss wieder aufgegriffen: Unter einer riesigen, glitzernden Bienenwabe erscheint die Schauspielerin wieder, nun im insektenförmigen Panzer, und dirigiert die Überlebenden auf ihren Weg in die Unendlichkeit. „Ewig  … ewig“ klingt der letzte Satz von Mahlers Lied-Symphonie aus.

Um Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ zu inszenieren, nimmt der Regisseur David Herrmann die düstere Science-Fiction-Utopie Elfriede Jelineks zum Ausgangspunkt für das Sänger-Quartett. Statt Tenor und Altistin (oder Bariton), wie von Mahler im Wechsel der sechs Teile komponiert, sind es vier Protagonisten, auf die die Orchesterlieder verteilt werden. Thomas Blondelle – kostümiert wie ein verkommener Jedi-Ritter mit Plastik-Applikationen – beginnt mit dem „Trinklied vom Jammer der Erde“: mühsam wird das bebildert mit Wein aus der Thermoskanne und Müsli-löffelnden Gestalten, doch sängerisch eindrucksvoll ist das „Dunkel ist das Leben, ist der Tod!“ des Tenors. Das Staatsorchester im halb hochgefahrenen Orchestergraben spielt dazu unter Cornelius Meisters anspornender Leitung die kammermusikalische Schönberg-Fassung des Stücks: griffig, farbig, klangintensiv.

Evelyn Herlitzius besingt, kauernd vor ihrem Pflanzbeet und der erloschenen Lampe, die im Gedicht aus Hans Bethges „Die chinesische Flöte“ vorkommt, den „Einsamen im Herbst“, ihr eindringlich sonorer Mezzosopran vermittelt Trauer und Verzweiflung. Gehüllt in die Fetzen eines weißen Hochzeitskleides, ist sie der stärkste Kontrast zum pinkrosa Fitness-Outfit Simone Schneiders, die ihren Sopran im Lied „Von der Schönheit“ üppig leuchten lässt, nachdem der Bariton Martin Gantner – mit Wundverbänden verpflastert – der imaginären Szenerie „Von der Jugend“ heftige Fröhlichkeit entlockt. Was Cornelius Meister mit dem Staatorchester an differenzierter Darstellung beiträgt, findet kaum Entsprechung in der Personenführung. Endzeitstimmung wird oberflächlich illustriert, so auch im halbstündigen Schlusssatz „Abschied“. Als Obdachlose verkriechen sich die vier Überlebenden unter ihren Decken, schlaflos und voller Unruhe folgen sie der tief lotenden Poesie – „O Schönheit! O ewigen Liebens-, Lebenstrunk’ne Welt!“ – und Expressivität des Klangs. Jeder singt von diesem Abschied, und Mahlers Unendlichkeitsmusik tönt: „Allüberall und ewig blauen licht die Fernen…“

Von Liebe, Tod und Eifersucht

Barbara Frey inszeniert „Cavalleria Rusticana” mit Sciarrino-Musikdrama im Opernhaus

 

Zwei Beziehungs-Tragödien an einem Opernabend: Pietro Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ ist ein oft mit Leoncavallos „Bajazzo“ kombinierter Einakter, der im sizilianischen Dorfmilieu zu Ende des 19. Jahrhunderts spielt. Doch in Stuttgart folgt auf den veristischen Opern-Reißer, dessen Melodien auch im Mafia-Film „Der Pate“ eine Rolle spielen, eines der feintönigsten Musiktheater der Moderne. Bei Salvatore Sciarrinos „Luci mie traditrici“, 1998 bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt, ist das Orchester auf 21 solistische Musiker reduziert, deren Aktionen oft am Rand der Hörbarkeit verlaufen; statt ausdrucksstarker Arien und Rezitative überschlägt sich die Leidenschaft in gestoßenen Vokalisen und erotischem Gestammel. Und doch ist diese erstmalige Verknüpfung der beiden stilistisch so extrem unterschiedlichen Kurzopern ein höchst reizvolles, spannendes, die Zuhörer forderndes Experiment.

 

Schon vor der Sommerpause, erzählt der Opernintendant Viktor Schoner zur Begrüßung vor der Premiere, war die für Ende Juni geplante Aufführung in den Bühnenbildern Martin Zehetgrubers fertig geprobt – mit den damals gültigen Regeln von 6 Meter Abstand zwischen den Sängern und entsprechend beim Orchester. Kein Chor auf der Bühne, die Bläser vom Graben auf die Hinterbühne ausgelagert, bei Sciarrino auf der Balustrade des Bühnenbilds. Damals, so Schoner, habe man gehofft, das Inszenierungskonzept bis zur Premiere in der neuen Saison in Richtung Normalität verändern zu können, jetzt im Oktober bleibt es unverändert. Aber man spielt: Oper trotz Corona! Zehetgrubers riesige, abgebrochene Freitreppe, der in die Schräge gestürzte Gartenpavillon auf der Rückseite der Drehbühne sind Zonen der Einsamkeit, Verlassenheit, in denen sich Spannungsfelder von ungeheurer Expressivität aufbauen.

 

Eine Frau, voller Unruhe zusammengekauert auf der Treppe vor den mit Graffiti beschmierten Wänden: Santuzza wartet auf ihren Liebhaber Turridu, der ihr die Ehe versprochen hat, sie aber mit seiner früheren Liebe Lola betrügt, die mit dem biederen Alfio verheiratet ist. Während der Chor vom 3. Rang herab die Glückseligkeit des Ostermorgens feiert, klagt Eva-Maria Westbroek mit ihrem farbenreichen, von leidenschaftlichem Vibrato erfüllten Sopran der Mutter Turridus (Rosalind Plowright) ihren Verdacht. Als dieser erscheint, eskaliert der Streit, Arnold Rutkowskis Tenor gleißt und triumphiert grandios - sie verflucht ihn. Musikalisch ist dies einer der Höhepunkte in Mascagnis Partitur, welche Sebastian Schwab für die Stuttgarter Aufführung für kleine Besetzung arrangiert hat. Mit Streichquintett und mehr als doppelt so vielen Bläsern klingt das zuweilen nach Salonorchester, Teile der Dialoge und Rezitative sind sogar für Klavierbegleitung umgeschrieben, die auch vom Dirigenten Cornelius Meister ausgeführt wird. 

Ein Notbehelf? Sicher, die Wucht des Melodrams kann da nur angedeutet werden, umso mehr kommen die lyrischen Seiten der Partitur zur Geltung. Als Alfio (Dimitris Tiliakos) von Santuzza über Lolas Ehebruch aufgeklärt wird, ist das blutige Ende Turridus nach dem bigotten Ehrencodex der Dorfgesellschaft besiegelt.

 

Salvatore Sciarrinos „Luci mie traditrici“ (“Meine trügerischen Augen“), eine Kammeroper par excellence, kommt der minimalistischen Personenregie Barbara Freys mehr entgegen. Die exaltierten Liebesbeteuerungen von Graf und Gräfin, singakrobatisch grandios gestammelt von Christian Miedl und Rachael Wilson, bleiben in körperlicher Distanz: ob Paradies oder Hölle, das erotische Vokabular ist inspiriert von den Renaissance-Madrigalen Gesualdo di Venosas, dessen Biografie in Sciarrinos Stück hereinspielt. Als ein Jüngling (Ida Ränzlöv) ins so glühend beschworene Eheparadies einbricht und mit der Gräfin betörend turtelt, meldet der Diener das dem Grafen. Dessen Dreifachmord geht ein aufs Subtilste instrumentierter Trauermarsch im Pianissimo voraus, nach dessen Ende der mit Schlagwerk komponierte Akt des Verbrechens umso greller tönt. Salvatore Sciarrinos assoziationsreiches Musiktheater, von Cornelius Meister und seinem Staatsorchester sorgfältigst ausgeführt, fasziniert.

 

Info: Die nächsten Vorstellungen am 18., 20. und 24. Oktober.

 

Mozarts „Zauberflöte“ als Comic Strip animiert

Barrie Koskys legendäre Inszenierung von der Komischen Oper Berlin jetzt auch in Stuttgart


Bei ihrer Premiere in der Komischen Oper Berlin war sie die Videospektakel-Sensation des Jahres: zusammen mit Suzanne Andrade und Paul Barritt vom britischen Künstlerkollektiv „1927“ inszenierte der gerade erst zum Intendanten avancierte Barrie Kosky Mozarts „Zauberflöte“, und diese Produktion ging um die Welt. Ob Moskau, Barcelona, Los Angeles oder Südkorea, die faszinierende Bilderflut dieser Märchenoper verzauberte Hunderttausende von Besuchern. Nun begeistert sie seit dem vergangenen Wochenende auch das Stuttgarter Publikum in einer besonderen, den Corona-Bedingungen angepassten Version: Mozarts Figuren werden auf der Bühne von Tänzern und Statisten verkörpert, die Gesangsstimmen kommen aus den Logen links und rechts der Bühne. Das hat im ersten Augenblick den Anschein einer Hilfskonstruktion, passt aber eigentlich perfekt zum Regiekonzept. Denn diese „Zauberflöte“ ist ein Gesamtkunstwerk aus Video-Animation, Stummfilmästhetik und musikalisch-theatralischer Reise durch Fantasiewelten.

Das Publikum blickt zur Ouvertüre auf eine Guckkasten-Bühne mit rot gefälteltem Kinovorhang. Beim Klang des vom jungen iranischen Dirigenten Hossein Pishkar geleiteten Staatsorchester – mit einem Streichquintett und fünf Bläsern plus Pauke und Schlagzeug – überlegt man, ob das bei der Uraufführung 1791 im Wiener Freihaustheater ähnlich unkonventionell geklungen haben könnte. Schon hier gewinnt das von Emanuel Schikaneder bunt zusammengewürfelte Märchenspiel eine kammermusikalische Offenheit, die im Verlauf der drei Stunden ein schönes Gegengewicht schafft zur perfekten Bühnenmaschinerie. Wenn der Vorhang hochgeht, blickt man auf eine Projektionswand mit einigen Drehtüren, die sich je nach Auftritt der Figuren öffnen und schließen. Doch die Pantomimen, wie Weißclowns maskiert, sind eingebettet in eine Fülle von bewegten Phantasiewelten. Wenn Tamino „in einem fernen, dunklen Wald“ von Riesenschlangen attackiert und von den drei Damen der Königin der Nacht gerettet wird, ist das ein optisches Dschungel-Vergnügen. Die Königin, deren abenteuerliche Koloraturen von Beate Ritter verschleppt werden, erscheint als Spinnen-Monster, Papageno (ein glänzendes Rollendebüt von Johannes Kammler) wird im Buster-Keaton-Look von Katze und Eule begleitet, Pamina (Josefin Feiler mit dramatischen Akzenten) ist dem Egghead-Sklavenaufseher Monostatos (Heinz Göhrig) mit seiner schwarzen Hundemeute im Klosterschülerinnen-Outfit ausgeliefert. Köstlich, wie sich die wilden Bestien dann zu Papagenos Glockenspiel in ein bestrapstes Revueballett verwandeln.

Wunderbar die Fülle der Einfälle, die von Andrade/Barritt für die Arien und Duette kreiert werden. Pamino fliegen die Herzen der drei Damen tonnenweise zu, bei Pamina/Papagenos Duett „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ verwandelt sich die Video-Wand in einen blühenden Garten. Beim Eintritt in die Sarastro-Welt ist Tamino mit einem rotierenden Maschinen-Gehirn („Weisheit / Arbeit / Kunst / Wahrheit“) konfrontiert, später werden die Tempelherren in ihren schwarzen Zylindern in Paminas  beklemmender Einsamkeits-Szene vor Dutzenden Stieraugen übergriffig. Jede dieser Szenen hat eine eigene Bildästhetik, verbunden sind sie durch eingeblendete Dialoge mit großen Art-Nouveau-Lettern, die am Hammerklavier mit Sound-Bites aus Mozarts Klavier-Fantasien begleitet werden. Im visuellen Stilmix aus Comic, Animation und expressionistischem Stummfilm agieren die maskierten Tänzer der Komischen Oper Berlin - allen voran Michael Fernandez (Papageno), Martina Borroni (Pamina) und Lorenzo Soragni (Tamino) – mit ins Video-Tableau eingepasster Souveränität. Von ihren im Dunkel der Logen verborgenen vokalen Alter-Egos überzeugt Mingjie Lei als Tamino mit einem sehr wandlungsfähigen, leichten Tenor. Barrie Kosky erzählt das Märchen von Tamino und Pamina, Sarastro und der Königin der Nacht als Geschichte des Erwachsenwerdens. Am Schluss stehen die beiden Liebenden vor dem geschlossenen Kinovorhang, Sarastros Jubelchor bleibt unbebildert.

Dietholf Zerweck

 

Träume von der Insel

Leonard Bernsteins „Trouble in Tahiti“ von Stuttgarter Oper im Neckarhafen


Tahiti ist nur 2600 Seemeilen von Hawaii entfernt, doch in Zeiten von Corona schrumpft die Distanz zwischen beiden Sehnsuchtsorten bei der Oper im Stuttgarter Hafen auf eine ganze Woche. Während in diesem Juli im Internet der legendäre Jahrtausendwende-Zyklus des „Ring des Nibelungen“ als Opera on Demand läuft, haben sich die Stuttgarter Staatstheater zu letzten Openair-Anstrengungen ermuntert. In der kommenden Woche feiert Valentin Schwarz, der in diesem Sommer ja den neuen Bayreuther „Ring“ inszenieren sollte, im Stadtraum mit dem Staatsopernchor noch ein „Bühnenfreifestspiel Demo(kratie)“, aber dann ist nach Meisters Beethoven-Zyklus und einigen Familienkonzerten und Kammermusik in der Liederhalle endgültig Saisonschluss: mit der Hoffnung, dass nach den Ferien im Oktober vieles wieder in Schauspiel, Ballett und Oper (fast) wieder zur Freiheit auch der Kunst zurückkehren möge.


Am Mittelkai des Stuttgarter Neckarhafens also gab es nach der kommentierten Nummernrevue aus Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ Leonard Bernsteins „Trouble in Tahiti“. Musikalisch zum Glück vollständig, wenn auch mit einigen Metatexten des französischen Aufklärers Denis Diderot in Prolog und Intermezzo unnötig übergestülpt – vielleicht auch um den 40-Minuten-Einakter, den Bernstein 1951 während seiner Flitterwochen komponierte, auf Einstunden-Länge aufzublasen. Diderots Plädoyer für indigene Kultur und gegen europäische Kolonialpolitik im 18. Jahrhundert passt nur entfernt zum Sujet von Bernsteins Musical, das mit sarkastischen Untertönen das geistlose Elend eines Vorstadt-Ehepaars im American Way of Life skizziert. „In the little white house“ schwärmt ein jazziges Gesangstrio von einem Leben voller Liebe und Harmonie, doch zwischen Dinah und Sam ist alles alles andere als „full of harmony and grace“. So spult sich ein Tag der Beiden vom quarreligen Frühstück über Bürotriumphe und frustrierte Hausfrauenträume, Psychiatersitzung und Sporthallendate bis zum Abend ab, an dem beide im Kino den Alltag hinter sich lassen wollen. Der Film heißt: „Trouble in Tahiti“.


Die Band – Flöte, Klarinette, Trompete, Posaune und Jazz-Combo – unter der Leitung von Vlad Iftinca bringt den Bernsteinschen Stilmix aus Jazz, Musical-Sentimentalität und kühner Polytonalität, in der sich schon der packende Groove der fünf Jahre später komponierten „West Side Story“ ankündigt, ganz gut in die Kopfhörer. Und bei den prima dargebotenen Duetten und Monologen von Sam (Pawel Konik) und Dinah (Alexandra Urquiola) kann man die ruhig absetzen, trotz Abstandsregeln und Wind treffen die Emotionen direkt ins Ohr. Die Bühne von Susanne Gschwender besteht im Prinzip aus zwei Loren mit aufgehäuften Koffern, die auf  Hafenschienen hin und her gezogen werden und zwischen denen Sam und Dinah ihre Wohninseln bespielen. Auf einer Videoplane (Lukas Rehm) werden in die kitschbunte Insellandschaft von Palmen und Meer monotone Reihenhaussiedlungen projiziert, am Schluss fährt das Paar im Schlauchboot der untergehenden Sonne Tahitis entgegen, und Bernstein zitiert Walther Stolzings Preislied aus den „Meistersingern“. Ein ironischer Gag, der sich mit Anika Rutkofskys lockerer Regie ganz gut verträgt.

Paradies am Mittelkai


Stuttgarter Oper spielt Paul Abraham: „Die Blume von Hawaii“ auf Neckarfloß


Inbrünstig schmettert der Tenor Matthias Klink seinen Abraham-Song vom Paradies am Meeresstrand in die Abendluft, die milde übers Wasser weht. Doch sein Heimatland sind nicht die USA vor Hawaii, sondern der Neckar mit seinen Hafenbecken neben Hedelfingen an der B 10, und nicht „duftet ein süß ein buntes Meer / von Blüten rings umher.“ Die Zuschauer sitzen am Holzpaletten am Mittelkai auf Straßenniveau, unten auf dem Fluss ist auf einem Floß mit Südseepalme um die bekannten Evergreens aus der Operette „Die Blume von Hawaii“ eine lockere Erzählshow arrangiert, auf einem Hafenkutter daneben begleitet die Staatsorchester-Combo die schmissigen Songs mit Banjo und Jazzfeeling.

Der Schauplatz ist nicht ganz leicht zu finden, bis man zum Großplakat „Oper trotz Corona“ gegenüber dem Einlass kommt, gibt’s keinen Wegweiser. Mit Kopfhörern bestückt hört man den Sound, nur manchmal etwas blechern, direkt von den Body-Mikes und den Musikern, das harmoniert perfekt. Und die Sänger sind exzellent: Dass die Stuttgarter Oper für die drei Vorstellungen dieser Open-Air-Produktion in Corona-Zeiten ihren Star Matthias Klink als Captain Stone im Hawaii-Hemd aufbietet und dazu die verheißungsvollen Fiorella Hincapié und Moritz Kallenberg (beide übers Jahr aus dem hauseigenen Opernstudio ins Ensemble engagiert) als Prinzessin Laya und Prinz Lilo-Taro, ist ein wirklich lobenswerter Dienst am Publikum. Weil ja die international renommierte Sopranistin Natalie Karl, als Diva Susanna Provence die Paar-Symmetrie des Operetten-Happy-Ends komplettierend, auch noch im wirklichen Leben Klinks Ehefrau ist, macht das sogar die Abstandsregeln beim Turteln und Schmusen überflüssig. Den gefühlt längsten Kuss der Stuttgarter Operngeschichte zelebrieren die Beiden, umnebelt von Desinfektionsspray, zu „Du traumschöne Perle der Südsee, schenk mir Liebe“ im Titelsong.

Operettenhandlung und Identitäten spielen kaum eine Rolle bei dieser leicht kabarettistisch angehauchten Abraham-Show. Zwischen den Songs wird munter drauf los geplaudert, über Hawaii-Hemd und Hawaii-Toast, Bikini-Kleidungsstück und Bikini-Atoll, aber auch Amerikas Okkupation der Sudsee-Inselgruppe, welche den historischen Hintergrund des Operetten-Hits aus dem Jahr 1931 bildet. Irgendwann fischt Martin Bruckmann, der einzige Schauspieler im 5er-Team auf dem Neckarfloß, eine Flaschenpost aus dem Wasser und zitiert daraus die Lebensdaten des Komponisten, der 1933 vor den Nazis aus Deutschland emigrierte und lange Jahre während und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Psychiatrie auf Long Island und in Hamburg litt. Welches Schicksal dem Leben und Werk des deutsch-ungarischen Juden Paul Abraham in finsteren Zeiten und danach beschieden war, wäre eine eigene Geschichte. Doch auf dem locker inszenierten und mit Engagement gespielten, unterhaltsamen Floß-Musical triumphieren die genialen Songs Abrahams – auch das berühmte „Bin nur ein Jonny, zieh um die Welt“, dessen Schluss-Refrain lautet: „Heimat, dich werd ich nie wiedersehn.“

(Am kommenden Wochenende vom 10. bis 12. Juli am gleichen Ort Leonard Bernsteins Musical „Trouble in Tahiti“).

 

Straßentheater vom LKW-Truck

Oper und Schauspiel zeigen Strawinskys „Die Geschichte vom Soldaten“ als Koproduktion


Etwas winzig steht der Bühnen-Truck vor dem Mega-Aufbau für die Popkonzerte auf dem Cannstatter „Kulturwasen“, am Eck des ausgeklappten LKW-Anhängers prangt das rote Staatstheater-Logo „Oper trotz Corona“. Auch der Theatervorhang, aus dem die drei Akteure von Igor Strawinskys „Histoire du Soldat“ auftreten, ist feuerrot, wie die Lippen des Teufels, der in dieser Musiktheater-Moritat die Hauptrolle spielt. Für die Koproduktion von Schauspiel und Oper in Corona-Zeiten ist „Die Geschichte vom Soldaten“ ein dankbares Stück: Abstand halten auf der Bühne geht, das siebenköpfige Orchester unter der Leitung des Generalmusikdirektors Cornelius Meister unter schwarzen Sonnenschirmen am Rand auf Parkplatzniveau kann sich ausbreiten, und für die in ihren Autos sitzenden Besucher sorgt der XXL-Video-Screen für leuchtende Bilder von dem, was unbeleuchtet live auf der Bühne passiert. 


Ästhetisch hat der Regisseur Maurice Leonhard die Aufführung als Straßentheater konzipiert – nach den drei Aufführungen beim Kulturwasen wird mit weiteren Vorstellungen als Wanderbühne auf  Plätzen auf der Waldau, vor dem Römerkastell und den Wagenhallen sowie vor dem Opernhaus am Eckensee gespielt. Dort werden die theatralischen Funken aufs Publikum direkter überspringen, denn Gestik, Mimik und Bewegung zielen schon auf unmittelbare Nähe. Robert Rozic als teuflischer Erzähler macht seine Sache virtuos. Er springt von seiner Gründgens-artigen Jokerfigur in die des Conferenciers und rhythmische Prosa-Deklamation, fällt öfters aus der Rolle und raunzt seine Mitspielerinnen im Probenjargon zurecht. Alexandra Mahnke als puppenhafter Soldat und Mariam Markl als Handlanger und Prinzessin sind von Altea Garrido pantomimisch effektvoll choroegrafiert – Strawinskys groteske Partitur mit Anklängen von Marsch, Tango, Walzer, Ragtime und Choral bietet dazu reichlich Material und wird von den Staatsorchester-Musikern griffig schräg artikuliert.


1917 hat Strawinsky sein Musiktheater mit dem Waadtländer Textdichter Charles-Ferdinand Ramuz für eine Gauklerbühne komponiert: Ein Soldat trifft auf dem Heimweg den Teufel und tauscht seine Geige gegen ein Zauberbuch, welches ihm Reichtum verspricht. Doch Geld macht nicht glücklich, so verlässt er seine Heimat und heilt eine kranke Königstochter mit den Tönen seiner Geige, die er vom Teufel bei einem Pokerspiel wiedergewonnen hat. Als er jedoch mit seiner Prinzessin nach Hause zurückkehrt, erwartet ihn schon der Teufel… So bizarr und vieldeutig gebrochen das Stück den russischen Märchenstoff behandelt, so theatralisch gauklerhaft und einfallsreich mit wenigen Requisiten wird er dargeboten. Spiel und Spektakel sind die Impulse der Inszenierung, die bewusst plakative Darstellung steht im Kontrast zur fein ziselierten musikalischen Darbietung. Aber die „Geschichte vom Soldaten“ hat auch eine hintersinnige Moral: „Man soll zu dem, was man besitzt, begehren nichts, was früher war. Man kann zugleich nicht der sein, der man ist und der man war. Man kann nicht alles haben. Was war, kehrt nicht zurück.“ Auch in Corona-Zeiten beherzigenswert.


(Bis 10. Juni auf dem Canstatter Wasen, danach auf Plätzen im Stuttgarter Stadtraum).

 

Exkurs in die Massengesellschaft

Schuberts „Winterreise“ von Hans Zender als szenische Installation in der Stuttgarter Oper

 

Als inszeniertes Video-Konzert realisiert der holländischen Installationskünstler Aernout Mik den Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert in der Bearbeitung von Hans Zender in der Stuttgarter Oper als Teil ihres diesjährigen Frühjahrsfestivals „Futur II“. Drei Videotafeln hängen über den Köpfen des Staatsorchesters, das auf offener Bühne in Gruppen aufgeteilt ist, auf einem Podium auf der rechten Seite steht eine Bank. Dort singt der Tenor Matthias Klink einige der Lieder, doch häufig bewegt er sich in den Gassen zwischen dem Orchester, wird verfolgt von zwei in schwarze Kapuzen-Parkas gekleideten Kameramännern, die mit ihren auf Stative geschraubten, wie Pistolen positionierten Live-Video-Geräten dem Sänger-Ich immer näher auf den Leib rücken.

 

Schuberts „Winterreise“ genießt Kultstatus im romantischen Repertoire und ist für viele Kunstlied-Liebhaber ein Höhepunkt musikalischer Selbstoffenbarung. Ein vom Leben und von der Liebe Enttäuschter, Einsamer, Verzweifelter spricht in den Gedichten des Schubert-Zeitgenossen Wilhelm Müller von seiner Krankheit zum Tode, die ihn in einer fremd gewordenen Existenz zerstört zurücklässt, und Schuberts Musik für Singstimme und Klavier bringt diese psychische Krise vollkommen zum Ausdruck. Der im vergangenen Oktober 82jährig verstorbene Hans Zender, der in vielen seiner Bearbeitungen klassischer und romantischer Musik „neue Funken aus der historischen Asche“ zu  schlagen suchte, fertigte 1993 eine Version der „Winterreise“, in welcher der Klavierpart auf 25 Instrumente erweitert und mit Stilmitteln der musikalischen Moderne behandelt wird. Zender nannte seine Arbeit eine „komponierte Interpretation“. Durch die verfremdete, in sich zerrissene Form bekommt der Zyklus eine verstörende Aktualität, welche in Aernout Miks szenischer Installation eine zusätzliche bildkünstlerische Neuinterpretation erfährt.

 

Für Mik ist die Krise des Individuums ein Phänomen der Massengesellschaft, verschärft durch die virtuelle Reizüberflutung der Gegenwart. Während des Orchestervorspiels zum „Fremd bin ich eingezogen“, in dem bedrohliche Schlagwerkgeräusche sich zu einem mit dem Holz der Geigenbögen auf die Saiten pochenden Schrittrhythmus verdichten, tauchen die ersten Schwarz-Weiß-Bilder auf den Videotafeln auf: Szenen von Massenprotesten wie in Paris, tanzendes Publikum bei Popkonzerten, einzelne Köpfe herausgezoomt aus der Menge. Matthias Klink streift unruhig durch die Klänge, bei der „Wetterfahne“ steigert sich sein expressiver Tenor zu scharfer Emphase, ungeheuer variabel gestaltet er jede einzelne der in den Liedern zum Ausdruck kommenden Emotionen. Beim „Lindenbaum“, den er liegend unter der Bank anstimmt, wachsen auf der Tafel darüber Wolkenkratzer empor, doch selten ist der Bildbezug so eindeutig wie hier oder beim Lied „Die Post“, wo Handys von einer Maschine geschreddert werden.

 

So radikal die Zender-Instrumentation einzelner Lieder mit Gitarre, Mundharmonika, Harfe, Saxophon oder Akkordeon wie zum Beispiel bei „Einsamkeit“, so konsequent geht Aernout Mik in seinem Bildkonzept den Weg von den Massenszenen zu intimsten Körperdetails. Bei den letzten Stationen der „Winterreise“ zeigen die Live-Videokameras Hautstücke, Bauchnabel, Kehlkopfbewegungen, Ohrmuschelöffnungen des singenden Matthias Klink, was einige der Zuschauer im Opernhaus am Ende zu lautstarken Buhs für den Regisseur und seine Video-Assistenten veranlasst. Ansonsten jedoch gab es starken Applaus für eine doppelt ungewöhnliche Aufführung von Schuberts „Winterreise“: musikalisch aufgebrochen in der Polystilistik der Postmoderne, installativ als Entfremdung des Einzelnen in Bilderfluten. Einhellig war der Beifall für Matthias Klink und die Musiker unter der Leitung von Stefan Schreiber.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 5. März 2020)

Verschränkt und verloren in der Geschichte

„Boris“-Musiktheater von Mussorgsky und Sergej Newski in der Stuttgarter Oper

 

Empörte Buhs und langsam anschwellender Applaus: am Ende von fast vier Stunden vielschichtigem Musiktheater mit visuellem Overkill reagierte das Publikum in der Stuttgarter Oper spontan kontrovers. Erst als der schwarze Vorhang wieder hochging und sich der fantastische Chor mit den 16 (!) Gesangssolisten präsentierten, galt ihnen einhelliger Beifall für eine großartige Ensembleleistung. Die Bravos verdiente sich auch Titus Engel, der das Staatsorchester wirkungsvoll durch die gegensätzlichen Klangwelten von Mussorgskys „Boris Godunow“ und Sergej Newskis Zwischenszenen der „Secondhand-Zeit“ führte. Als dann das zehnköpfige Regieteam auf die Bühne geholt wurde, gab es erneute Buhs.

 

Die äußere Handlung von Mussorgskys musikalischem Volksdrama über einen russischen Zaren an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ist schnell erzählt: der Bojar Boris wird vom unterdrückten Volk als neuer Zar bejubelt, während ein junger Mönch in einem fernen Kloster den Entschluss fasst, sich für den angeblich ermordeten Zarewitsch Dmitri auszugeben und Boris vom Thron zu stürzen. Auf dem Weg nach Moskau kann der falsche Dmitri seinen Häschern entfliehen, im Kreml bringt die Nachricht von seiner Wiederkehr den Zaren in innere Bedrängnis: sein Gewissen ist konfrontiert mit seiner Verantwortung am Tod des Zarewitsch. Das Volk wird Zeuge seiner psychischen Verwirrung und gerät in Aufruhr, Boris stirbt an seiner Schuld.

 

In Stuttgart wird die Urfassung der Oper von 1869 gespielt, verschränkt mit Sergej Newskis zwischen Gesang und Rezitation wechselnden Szenen mit Zeitzeugen der weißrussischen Dichterin Swetlana Alexijewitsch aus der postsowjetischen Gegenwart. Allein diese Struktur des „Boris“-Musiktheaters verlangt vom Zuschauer viel Verstand und Einfühlungsvermögen, obwohl Newski seine Intermezzi thematisch und musikalisch geschickt in die vier Mussorgsky-Akte montiert. In den auf Deutsch dargebotenen Monologen wechselt zum Beispiel der Bariton Elmar Gilbertsson vom Mönch Grigori in die Rolle des jüdischen Partisans, der als Kind von den deutschen Besatzern ins Ghetto von Minsk deportiert wurde und als alter Mann über seine Vergangenheit berichtet; auf drei Sänger ist diese Figur in verschiedenen Intermezzi verteilt, weitere fünf Parallelfiguren tauchen auf. Besonders eindrucksvoll treten Maria Theresa Ullrich als „Die Mutter des Selbstmörders“ und Stine Marie Fischer als „Die Frau des Kollaborateurs“ in Erscheinung. Grandios in den Hauptrollen der Mussorgsky-Oper agieren der mit mächtigem Volumen auftrumpfende Adam Palka (Boris) und der ebenso bassgewaltige Goran Juric (Pimen), Matthis Klink mit tenoraler Intensität als zwielichtiger Schuiski und das Opernstudio-Mitglied Carina Schmieger als Zarentochter Xenia.

 

Penetrant und häufig überladen ist der Videoanteil dieser Produktion. Während die Drehbühne von Joki Tewes und Jana Findeklee von der archaischen, ölverschmierten Kate zur Treppe der Macht, zur Klosterzelle, aus deren Sarg der Chronist Pimen an Zügeln der Geschichte steigt, zur grotesk mit an Milcheutern hängenden Babuschkas, zu Kreml-Interieurs und am Ende zum Sprech-Melodram an der Rampe wechselt, läuft auf einem darüber gestülpten Video-Fries die Bilderflut der „Secondhand-Zeit“. Von Stalin und Roosevelt und Churchill in Jalta bis zu Chrustschow, Gorbatschow und Putin, von Stukas bis zu umgekehrten Moskauer Stadtkulissen, über die sich Ströme von Blut ergießen, von tanzenden Ballerinenfüßen bis zu vollbandagierten Köpfen wird alles aufgeboten, was nur irgendwie mit Motiven der Bühnenhandlung in Verbindung gebracht werden könnte. Der Regisseur Paul-Georg Dittrich scheint die Inszenierungsflut von Schlingensief und Frank Castorf gut studiert zu haben, auf jeden Fall scheint ihn beim „Boris“ der sprichwörtliche Horror Vacui, d.h. die Angst vor der Leere, gepackt zu haben. Alles muss bebildert werden, sogar bei Newskis Chor-Prolog (über Lautsprecher) quält sich ein schlammverklebtes Pelikanküken im bühnenportalgroßen Reptilauge auf der Leinwand, und nach der Pause schaut man zwei Gesichtern minutenlang beim Bepflastern ihrer schönen Wangen zu, was auch Protest im Publikum hervorruft. So desaouviert sich der interessante konzeptuelle Ansatz des Stuttgarter „Boris“ selbst.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 4. Februar 2020)

Toller Tag im Bettenparadies


Mozarts „Le nozze di Figaro“ in der Staatsoper von Christiane Pohle neu inszeniert


Musikalisch ansprechend, szenisch unausgegoren war die Premiere von Mozarts „Le nozze di Figaro“ am Sonntag im Stuttgarter Opernhaus. Dafür gab es am Schluss für die Regisseurin unüberhörbare Buhs von den Rängen, während die Sänger, allen voran Michael Nagl als Figaro und Diana Haller als Cherubino, mit Bravos gefeiert wurden. Schon in der Ouvertüre – mit halb aus dem Graben hochgefahrenen Staatsorchester – setzte der Dirigent Roland Kluttig deutliche Akzente: trocken und pointiert die Bläsereinwürfe, spritzig und spitzzüngig die Geigenfiguren: das war mit Verve musiziert und erregte Spontanbeifall.

Wenn der schwarze Vorhang hochgeht, blickt man in ein Ikea-Schlafmöbelparadies.  Doppelbetten, auf fahrbaren Untersätzen montiert, sind eines neben dem anderen auf der Bühne verteilt, das Personal bewegt sich in den Gassen dazwischen oder liegt Probe auf den Matratzen. Wie Figaro im herzigen Hawaiihemd, der sein zukünftiges Ehebett vermisst und nach Susannes Aufklärung über die amourösen Absichten des Grafen bei seinem „Se vuol ballare, Signor Contino  - Wenn Sie tanzen wollen, Herr Gräflein“ den Brautschleier wie ein Stierkampf-Cape hin und her schwingt. Alle Figuren scheinen im 1. Akt unter ständigem Bewegungszwang zu stehen, ohne dass sie deshalb auch wirklich inszeniert wären: Bartolo (Friedemann Röhlig) singt seine Rachearie auf einem Bett hüpfend, Cherubino illustriert seine Liebesverwirrung gegenüber Susanna statt mit einem Band der Gräfin mit einer Strumpfhose hantierend. Diana Haller singt dieses „Non so più cosa son“ wunderbar ausdrucksvoll und differenziert, wie auch später Cherubinos Liebesarie „Voi che sapete“, doch ihre Figur ist von der Regie jeglicher pubertärer Schwärmerei entledigt und muss irgendwann wie ein Pokémon-Männchen über die Bühne rödeln.

„Ein toller Tag“ trägt Mozarts Comedia per musica im Untertitel, und Christiane Pohle versucht einiges an szenischen Gags, um den auch ja lustig zu erzählen. Wenn die Gräfin zu Beginn des 2. Aktes im Bett in ihrer Cavatine ihren Liebesfrust beklagt, schaut über ihr im grünen TV-Display Roland Kluttig zu und macht Dirigierbewegungen; in Natascha von Steigers Bühnenbild sind nun vier Bettverschläge nebeneinander gestaffelt, in denen weitere Gräfinnen-Duplikate darniederliegen. Später, bei ihrer großen Dove-sono-Szene  - „Wo sind die schönen Augenblicke der Zärtlichkeit und Liebe geblieben“ – kann Sarah-Jane Brandon die Gemütstiefe dieser Arie ohne szenische Mätzchen ausloten. Da haben sich die komödiantischen Turbulenzen - mit einem kissenschlachtwütigen Grafen (Johannes Kammler), der mit seinem Jagdgewehr herumballert und das Susanna-Versteck durch die Hintertür betritt, sowie mit einer Riege mäßig witziger Intriganten (Helene Schneiderman / Marcellina, Heinz Göhrig / Basilio, Christopher Sokolowski / Don Curzio), zusammen mit denen das Septett-Finale des 2. Aktes zwischen Orchester und Bühne rhythmisch wackelt – verzogen, doch die Türen-und-Betten-Turnerei geht weiter. Beim nächsten Akt-Finale lagert sich der Chor, von Sara Kittelmann als Prekariat kostümiert, in der Schlafzimmerflucht.

Es gibt einen Augenblick in Christiane Pohles Inszenierung, wo ihr Konzept einer Hinterfragung des von Mozart und Da Ponte in „Le nozze di Figaro“ dargestellten Beziehungsgeflechts auf Genderrollen vielleicht noch schlüssig werden könnte. Beim Übergang zum letzten Akt, mit Barbarinas Arie von der verlorenen Nadel (hinter der sich ja viel mehr an Verlust verbirgt) in der nun leeren Schwärze des Raums, aus dem eine Riesenqualle in den Bühnenhimmel steigt, bricht diese von Claudia Muschio unsagbar traurig gesungene Kavatine plötzlich ab, ein vieldeutiges Briefzitat Mozarts erscheint auf dem Vorhang, die Rezitative lässt Pohle ohne Musik sprechen. Doch die Funktion bleibt unklar. Wieder werden die Schlafzellen hereingefahren, die Figuren verdoppeln sich, Esther Dierkes als verkleidete Susanna kann alle Kultiviertheit ihres Soprans in ihre Sehnsuchtsarie legen. Doch das „Perdono“ der Gräfin gilt am Ende nicht dem Grafen, sondern ihrem Ebenbild. So kann, muss der Zuschauer allein auf die von den Sängern, Chor und Orchester ausdrucksvoll erzählte Musik hören, um diesen „tollen Tag“ zu verstehen.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 4. Dezember 2019)

Macht und Ohnmacht in zeitloser Tragik

Lotte de Beer inszeniert Giuseppe Verdis „Don Carlos“ im Opernhaus

 

Kein Wald, kein Kloster, keine königlichen Gärten, kein Kathedralenvorplatz: die Opernbühne in der Stuttgarter Neuinszenierung von Verdis „Don Carlos“ ist vor allem finster und leer. Dadurch schafft der Bühnenbildner Christof Hetzer unheimlich starke Bilder, in denen die niederländische Regisseurin Lotte de Beer die Konfrontation der Figuren eindrucksvoll herausarbeitet. Cornelius Meister dirigiert die Schärfen und emotionalen Höhepunkte des fünfaktigen, fast fünfstündigen Musikdramas mit dem Staatsorchester farbig und temperamentvoll, der von Manuel Pujol einstudierte Opernchor bewährt sich in seinen verschiedenen Rollen bravourös. Dass das Regieteam, anders als die mit Ovationen gefeierten Sänger, bei der Premiere auch hartnäckige Buhs abbekam, war vielleicht einigen zweifelhaften szenischen Zutaten geschuldet.

 

In Stuttgart wird der 1. Akt in Verdis französischer Fassung von 1867 gespielt - mit der Eröffnungsszene, die bei der Pariser Uraufführung schon nach der Generalprobe dem Fahrplan der Vorortzüge zum Opfer fiel, welche das Publikum sonst nicht mehr erreicht hätte. Die anderen Akte werden in der letzten Revision Verdis von 1886 aufgeführt. Nachdem der mächtige, bühnenhohe Wandkeil während des Vorspiels von der Drehbühne nach hinten geschoben wird, erscheint das hungernde Volk und trifft auf Elisabeth von Valois, die mit dem spanischen Thronfolger verlobt ist. Ihr Versprechen, sich um die Not der Armen zu kümmern, definiert ihren Charakter, wie auch die Nachricht, dass sie König Philipp II. von Spanien heiraten soll, den seines Sohnes Don Carlos: die unglückliche, unerfüllbare Liebe zu Elisabeth macht ihn von Beginn an zur verzweifelten, innerlich zerstörten Figur. Massimo Giordano, der zunächst mit der Intonation zu kämpfen hat, findet immer stärker in diese Rolle, sein gutturaler Tenor profiliert sich durch differenzierte Gestaltung und glühende Spitzentöne.

 

Aus dem nebulösen Dunkel des Bühnenraums schälen sich immer neue, schicksalhafte Konstellationen. Don Carlos allein am Rande des weißen Brautbetts, zusammen mit Rodrigo, dem Marquis von Posa, auf einer ins Nichts führenden Treppe, die Hofgesellschaft mit Elisabeth und der Prinzessin Eboli (Ksenia Dudnikova mit einer glänzend sinnlichen Ballade) unter einem blühenden Kirschbaum, die Bußpredigt des Mönchschors unter einer schwebenden weißen Wolke, das Freiheitsplädoyer Posas vor dem König an einem langen, leeren, weißen Tisch der Macht: dazwischen dreht sich immer wieder der Wandkeil nach vorne und ermöglicht so den fließenden Übergang der Szenen. Zur Ballettmusik im 3. Akt inszeniert Lotte de Beer ein symbolisches Minitheater auf der Opernbühne: Kinder in Weiß spielen formierte Gesellschaft und verbrennen eine Puppe im Autodafé, das danach im Aufmarsch der Inquisition Wirklichkeit wird. Die Schergen des Königs traktieren die gefangenen Ketzer aus Flandern mit ihren Lanzenstäben, das Volk, aufgestellt in den Stockwerken eines Gefängnistrakts, liefert sich Chorduelle mit dem Klerus, Don Carlos attackiert den König mit dem Messer statt wie im Libretto mit dem Degen, Posa, der Freund, lässt ihn verhaften. Weder in der Personenführung noch in den Kostümen erreicht die Regie in dieser Massenszene die Prägnanz der individuellen Konfrontationen, an denen Verdis Oper musikalisch so reich ist.

 

Diese Qualität wird sängerisch großartig zum Ausdruck gebracht. Olga Busuioc als Elisabeth beherrscht alle Register ihres klar fokussierten Soprans von der lyrischen Kantilene bis zur dramatischen Erregung auf begeisternde Weise, Björn Bürger als Posa in Revoluzzer-Kluft und später in höfischem Weiß überzeugt mit hellem Bariton.  Goran Juric als Philipp II. in der weißen Militäruniform eines Junta-Chefs artikuliert seine Einsamkeit der Macht so glaubwürdig wie seine Unterwerfung unter das fundamentalistische Diktat des Großinquisitors. Während beide um die Frage von Leben und Tod von Carlos diskutieren, isst der mit Stentorstimme argumentierende Falk Struckmann in weißer Papstsoutane genüsslich einen Apfel. Weiß ist in dieser Inszenierung weniger die Farbe der Unschuld als die der Macht und des Verbrechens.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 29. Oktober 2019)

 

Erinnerung statt Rache: In Distanz zu Claire Zachanassian

Burkhard C. Kosminski inszeniert Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ mit Evgenia Dodina


Güllen heißt Güllingen im Schauspiel Stuttgart, nicht Dürrenmatts Güllener, sondern Kosminskis Güllinger bekommen Besuch von einer ehemaligen Mitbürgerin, die in ihrer Jugend aus dem (schwäbischen?) Dorf vertrieben wurde und nun als reiche Milliardärin zurückkehrt, um sich zu rächen und Gerechtigkeit einzufordern. Alfred Ill, ihre Jugendliebe, hat sie geschwängert und verraten, nun soll er sterben. Für ihren Tötungsauftrag bietet Claire Zachanassian den Güllingern eine Million, zur Illustration flattern vom Bühnenhimmel eine Stunde lang Geldscheine herunter.

Der szenische Kunstgriff, mit dem der Regisseur und Stuttgarter Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski das schon etwas angestaubte Parabel-Drama Dürrenmatts in die deutsche Gegenwart zu holen versucht, hat einen Namen: Evgenia Dodina. In Weißrussland geboren, in Moskau zur Schauspielerin ausgebildet und am Majakowski-Theater und in sowjetischen Filmen erfolgreich, wurde sie nach ihrer Emigration nach Israel zum Star am Nationaltheater in Tel Aviv. Als Gast holte sie Kosminski in der vergangenen Spielzeit für Wajdi Mouawads „Vögel“ ans Stuttgarter Schauspiel, nun ist sie Ensemblemitglied. Ihre „alte Dame“ auf der Bühne am Eckensee ist eine Doppelrolle: die fiktive Claire, deren Familienname Wäscher in Kosminskis Version zu Goldberg verändert wurde, und die reale Evgenia Dodina, deren Familiengeschichte Peter Michalzik ihr in assoziativen Monologen auf Hebräisch in den Mund legt. Dodina ist Jüdin, ihre Erinnerungen an Mutter und Großmutter umkreisen Vertreibung, Flucht, Elend, Diskriminierung, Shoa. Doch gegen die Rache, mit der Dürrenmatts von Ill „zur Hure gemachte“ Claire Güllingen überzieht, wehrt sich die Schauspielerin kraft ihrer dem Vergessen entrissenen Identität: sie will humane Wahrheit statt radikaler „Gerechtigkeit“.

Dass dieses Collage-Konstrukt aus dramatisierter Biografie und antikisierendem Rachedrama auf der Bühne lebendig wird, ist der großen Schauspielerin Evgenia Dodina zu verdanken, und bis zu einem gewissen Grad auch Kosminskis stark in das Dürrenmatt-Original eingreifender Regie, welche das Personal der Güllinger auf wenige Figuren und den Zachanassian-Tross auf einen Kurzauftritt des Butlers reduziert. Bürgermeister, Lehrer, Pfarrer, Polizist sind in ihrer Scheinhumanität und Korrumpierbarkeit eher Pappkameraden, auf der einen Spielebene konzentriert sich das Geschehen auf die Auseinandersetzung zwischen Ill (Matthias Leja) und Claire, deren Dialoge zum Teil auf Hebräisch geführt werden (was einen sonderbaren, quasi didaktischen Effekt hat). So überzeugend Dodina diese Rolle in ihrer Schichtung aus antiker Rachegöttin und zynischer Geldverführerin ausspielt, so packend und grandios sind ihre theatralischen Register in ihrer Monologerzählung. Die jeweils von oben herabgelassene Tafel mit der deutschen Übersetzung wirkt wie eine Klagemauer: das bösartige „Jid!“, welches aus der Kindheit der Mutter in der Ukraine in Claire Dodinas Erinnerung wieder auftaucht und in der faszinierend wandelbaren Stimme der Schauspielerin in den Ohren gellt, geht tief unter die Haut.

Dietholf  Zerweck

 

Hamsterrad Wohnungssuche

„Die Lage“ vom Thomas Melle als Uraufführung zum Spielzeitauftakt am Schauspiel Stuttgart


Ein starkes Stück, ein furioses Ensemble, eine die theatralischen Mittel virtuos einsetzende Regie: Thomas Melles „Die Lage“ ist zum Saisonauftakt im Kammertheater als eine die schockierende Realität großstädtischer Wohnungssuche ins Groteske überzeichnende Szenenrevue ein großer Wurf. Im rechtwinkligen, zur Hälfte aufgerissenen weißen Kubus (Bühne: Stefan Hageneier) agieren Makler und ihre Kundschaft in wechselnden Rollen unter den Gesetzen des entfesselten Markts. Dabei füttert Melle seine Typen nicht mit papierenen Thesen, aber in ihren Monologen und Streitgesprächen fallen die Themen und Schlagworte mit Witz und Wucht. Wohnungsnot, Wucher, Eigenbedarf, Zwangsräumung, Obdachlosigkeit, Enteignung: Jeder „will in seinem Leben wohnen und nicht nur in Räumen leben“ fordert eine Figur im Stück. Doch das erscheint unter den gegenwärtigen Umständen der Wohnungssuche nur wie ein frommer Wunsch.

„Personen in Wohnungen an Orten und Zeiten“ nennt Thomas Melle sein Stück im Untertitel. Es beginnt mit einem sich schlangengleich windenden, sich ans Publikum heranschmeißenden Makler-Monster (Jannik Mühlenweg), das erst einmal die Regeln des Markts aufzählt, wo in den Bewerber-Emails auch „deine Schwächen, deine Macken“ und weitere Offenbarungen gefordert sind. Wenn Melle dann Paare bei der Besichtigung einer renovierten Drei-Zimmer-Altbauwohnung zu 1500 Euro Monatsmiete plus dreifacher Kaution, einer Eigentumswohnung zu 840.000 Euro oder einer Millionen-Villa auftreten lässt, nimmt die Selbstentblößung und Demütigung groteske Formen an: „Sind sie als Paar laut?“ fragt der Makler, und die Konkurrent*innen liefern sich einen Sex-Stöhn-Wettbewerb. Der grandiose Sebastian Röhrle wechselt vom zynischen Intellektuellen zum genervten Verkäufer, beim „Revolution“-Monolog am Schluss steigert er sich in eine veritable Publikumsbeschimpfung. Großartig auch Boris Burgstallers Monolog über Enteignung und „Die Lüge des Eigenbedarfs“, nachdem er in der Szene zuvor als vertriebener Hausgeist durch die Maklergeschäfte spukte. Marietta Meguid kabbelt sich mit ihrem Partner über die Sinnhaftigkeit des Flachspülers und protokolliert als Journalistin die Auswüchse des Raubtierkapitalismus: „Das System wird sich hochschrauben und kollabieren: Vorher aber kollabieren die Menschen in ihrer konkreten Situation.“

Tina Laniks Regie hat das Timing eines Wechselbads der komischen Erregungen und schreienden Empörungen. Besonders Josephine Köhler reizt die Skala der Emotionen zwischen eiskalter Casting-Agentin und reicher Erbin, die ihr Kapital in einem kabarettreifen Solo gebiert, gnadenlos aus. Mit „Die Lage“ hat Thomas Melle, der mit seinen Romanen „3000 Euro“ und „Die Welt im Rücken“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und mit der Dramatisierung des letzteren 2018 zum Berliner Theatertreffen eingeladen war, trifft mit seinem Stück „Die Lage“ den Puls der Zeit. Die Stuttgarter Inszenierung präsentiert dessen vielstimmigen Kosmos wirkungsvoll.


(Aufführungen bis 5. Oktober)

Hölderlin in Bäumen


Theater Lindenhof zieht von der Tübinger Neckarinsel in den Park der Villa Reitzenstein


Man lagert unter Hängebuchen im Park, auf den ausgelegten Sitzkissen steht der Slogan „flanieren wo andere regieren“. Auf Hölderlin bezogen, dessen Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ den Stoff für das Gastspiel des Theater Lindenhof an diesem Ort liefert, könnte man das abwandeln zu: „Dichten wo andere politisch handeln“. Denn Hölderlins Alter Ego kehrt nach seinem Freiheitskampf in Griechenland, nach dem Verlust seines Freundes Alabanda und dem Tod seiner Geliebten Diotima von seiner „exzentrischen Bahn“ zurück in eine von Grund auf angelegten poetischen Existenz, die er im „Einssein mit allem was lebt“ findet. 

Drei Schauspieler geben diesem Hölderlin/Hyperion ihre Stimme: Bernhard Hurm, Martin Olbertz und Linda Schlepps sind hoch oben über den Köpfen der Zuschauer in der Residenz des Ministerpräsidenten an Bäume gefesselt und lesen aus den Briefen des reflektierenden Ich-Erzählers an seinen fernen Freund Bellarmin. Was das Theater Lindenhof in diesem Hölderlin-Jubiläumsjahr als großes Stationentheater auf der Tübinger Neckarinsel in Blickweite des „Hölderlin-Turms“, wo der Dichter seine zweite Hälfte des Lebens in poetischer Umnachtung verbrachte, geplant hatte – noch vielschichtiger als 1986 beim ersten Tübinger Sommertheater – ist jetzt in der Textfassung und Regie von Siegfried Bühr als corona-bedingt reduzierte Performance zu erleben. Auf ihren Hochsitzen sind die drei Akteure freilich darstellerisch eingeschränkt, ihre Rezitation steigert sich erst mit der Zeit und der Entwicklung des monologischen Romanhelden zu leidenschaftlichem Pathos. Besonders Martin Olbertz findet dabei den am griechischen Versmaß geschulten Hölderlinschen Sprachrhythmus, seine begeisterten Erkenntnisse atmen hymnische Eloquenz: „O Seele! Seele! Schönheit der Welt! du unzerstörbare! du entzückende! mit deiner ewigen Jugend! Was ist denn der Tod und alles Wehe der Menschen? Ach! Viel der leeren Worte haben die Wunderlichen gemacht. Geschiehet doch alles aus Lust, und endet doch alles mit Frieden…“ Das nüchterne, trockene „So dacht‘ ich. Nächstens mehr“ markiert als ironische Pointe den Schluss der Aufführung.

Es gehört zur besonderen Qualität der Stücke des Theaters Lindenhof (welches ja vor nunmehr bald 40 Jahren von einer Schar Studenten der Empirischen Kulturwissenschaft in einem Dorf auf der Alb gegründet wurde), im allgemeinen Bewusstsein verankerte Stoffe neu zu interpretieren. Bei Hölderlins „Hyperion“ geschieht das mittels einer auf wesentliche Aspekte konzentrierten Textfassung, die von der Zivilisationskritik des Anfangs („die Unheilbarkeit des Jahrhunderts“) über die Abgründe revolutionärer Gewalt sich zur utopischen Vision einer im Einklang mit der göttlichen Natur lebenden Gesellschaft von Einzelnen steigert. „So kam ich unter die Deutschen“ heißt es im vorletzten Brief  Hyperions an Bellarmin, in dem der Dichter die Zerrissenheit und humanen Defizite eines Volkes beschreibt: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“ Dagegen steht die Allegorie einer Diotima, deren Schönheit als Fundament eines neu zu realisierenden Staates Hyperion beschwört: „Es war da, das Höchste, in diesem Kreise der Menschennatur und der Dinge, war es da! Ich frage nicht mehr, wo es sei; es war in der Welt, es kann wiederkehren in ihr, es ist jetzt nur verborgener in ihr. Ich frage nicht mehr, was es sei; ich hab‘s gesehn, ich hab‘ es kennen gelernt.“

(Weitere Aufführungen bis Ende August auf der Neckarinsel)

Zauberhafter Theaterspaziergang

Neustart am Eckensee: Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind

 

Seit März war das größte Dreisparten-Theater Europas wegen der Corona-Krise geschlossen, jetzt kommt wieder Leben in die beiden Häuser am Stuttgarter Eckensee: in einer Gemeinschaftsproduktion von Oper, Schauspiel und Ballett laden die Staatstheater Stuttgart zu einem 12-Stationen-Parcours unter dem Titel „Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind“ ins Innere des Musentempels. Beschränkt auf jeweils nur wenige Besucher, die an jedem der sechs Abende von hilfreichen Cicerones im zeitlichen und räumlichen Abstand voneinander auf sechzehn Touren begleitet werden, ist es nach Monaten der Kulturpause ein wunderbares Theatererlebnis der besonderen Art – gerade wegen seiner Unmittelbarkeit im Gegenüber mit den Schauspielern, Sängern, Tänzern, Musikern. Nicht weniger als 123 davon sind in den verschiedenen Teams am Theaterparcours unter der Regie von Schauspielintendant Burkhard Kosminski daran beteiligt. 

 

„Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind“: das Zitat von Prospero dem Zauberer aus Shakespeares „Sturm“ trifft den Ton der Aufführung, welche den Betrachter mit ganz einfachen theatralischen Mitteln durch ein Labyrinth von Gängen und überraschenden Perspektiven führt. „Es passiert aber auch gar nichts“ murrt André Jung im Souterrain des Schauspielhauses vor sich hin, und seine Didi-Gogo-Dialogschleifenpartnerin Sylvana Krappatsch antwortet lakonisch gequält: „Wir warten auf Godot!“. Ein Warten auf Erlösung, Veränderung, Neuanfang? Kein schlechter Bezug zur gegenwärtigen Corona-Situation, auch mit solchen Sätzen wie „Aller Anfang ist schwer - aber wir müssen uns entscheiden…“ Auch die wilden Trommelschläge zuvor auf dem Podest im Oberen Foyer schaffen einen beziehungsreichen Auftakt mit einem Ausschnitt der „Impuls“-Choreografie von Roman Nowitzky, in der vier Tänzerinnen und Tänzer schwarz gekleidet wie antike Tragödinnen bewegungsintensiv aufbegehren. Wenn der Beckett-Dialog für die auf weit voneinander postierten Stühlen sitzenden Zuschauer abbricht, hebt und bewegt sich die Drehbühne, es öffnet sich der Eiserne Vorhang und man blickt in den leeren Zuschauerraum. Auch dies nicht ohne Hintersinn.


Mit einer Sound-und Lichtinstallation zu Ligetis „Atmosphères“ geht es weiter, auf einer Betonwand Backstage wird Shakespeares berühmtes Sonnet 18 von Elmar Roloff rezitiert, im Lastenaufzug spielt eine Geigerin auf Kunstschneeflocken George Enescu, plötzlich öffnet sich ein Tor zum Bühnenhaus, in dessen hohem Flur das Corps de Ballet, von Standarten der Capulets flankiert, John Crankos Ballszene aus „Romeo und Julia“ zelebriert. Durch das Nischen-Spalier der Tänzerinnen und Tänzer (Abstand!) schreitet man weiter zur nächsten Theaterszene: ein alterndes Mimenpaar erinnert sich in Thomas Bernhards „Der Schein trügt“ an bessere Zeiten. Und plötzlich steht man fast hautnah neben einem bärtigen Cornelius Meister, der am Steinway aus seinem Träumen zum pianistischen Liebestod aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“ erwacht. Ein zauberhafter Höhepunkt dieses Traumspaziergangs, der sich nun, angekommen auf dem gedeckelten Orchestergraben mit dem Blick ins Opernhaus öffnet, wo im Parkett verteilt die Damen und Herren des Opernchors den „Abend“ in einem Brahms-Quartett besingen. Über Treppen und Flure in den Lila Salon hinter der Intendantenloge geleitet, folgt ein Spiegel-Monolog aus Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“, übers Treppenhaus hinauf im Foyer des 3. Rangs verwickeln sich zwei Schauspieler hinter Garderobetresen in einen „Leonce und Lena“-Dialog mit dem Schlusssatz „Welch‘ unheimlicher Abend“. Doch nicht unheimlich, aber schon etwas poetisch morbid, endet dieser von ästhetischen Eindrücken reiche Abend mit einem Dreiklang traumhafter Augenblicke: Hyo Jung-Kangs „Sterbender Schwan“ zur Cello-Kantilene von Camille Saint-Saens, beobachtet von der Foyer-Loggia im 2. Rang, das herbstliche Potpourri-Arrangement in der Kassenhalle mit Musikern des Staatsorchesters und einem fatalistischen Ticket-Abreißer, und schließlich, im Hof unter dem Pausenpavillon, Claudio Monteverdis „Lamento der Arianna“ mit der wunderbaren Diana Haller. Fünfviertelstunden Theaterzauber einer höchst gelungenen Ensembleproduktion.


Nach aktuellem Stand nur vom 6.-8. und 13.-15. Juni im Stuttgarter Staatstheater.

 

 

 

Alles geht vor die Hunde


Robert Icke inszeniert seine Tschechow-Bearbeitung „Iwanow“ im Schauspiel Stuttgart


Der britische Regisseur Robert Icke ist ein Spezialist für aktualisierte Bearbeitungen klassischer Texte. In der letzten Saison brachte er im Schauspiel Stuttgart die „Orestie“ des Euripides als modernes Familien-Psychodrama stimmig auf die Bühne, nun hat er „Iwanow nach Anton Tschechow“ im Yuppie-Jargon verfremdet und als Mischung aus Gesellschaftssatire und pathologischer Fallstudie inszeniert. Tschechows russischer Gutsbesitzer Iwanow, der an seiner Lebensleere verzweifelt, heißt nun Nikolas Hoffmann und sitzt schon, wenn die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, vor sich hin stierend auf einer Sargkiste in der Mitte eines von Wasser umgebenen quadratischen Podests. Die leeren Schuhe neben ihm assoziieren Becketts „Warten auf Godot“, am Rand liegt schon die Pistole, mit der sich am Ende in den Kopf schießen wird. Eine Videokamera filmt ihn von oben und überträgt die Szene auf die Wand im Hintergrund, ebenso die Aktwechsel. „Mein Scheißleben!“ bejammert der wie alle Spieler mit Mikroport bewaffnete Nikki seine Situation: vor fünf Jahren hat er eine Jüdin, die ihm zuliebe zum Christentum konvertiert ist, geheiratet, vermutlich wegen der Mitgift, die ihm dann verweigert wurde.


Geld spielt in den platten Dialogen, die aus Ickes englischer Fassung von John Birke ins Deutsche übersetzt wurden, eine große Rolle. Michael alias Borkin (Peer Oscar Musinowski) würde gerne damit zocken, wenn er es hätte, Matthias alias Iwanows Onkel Graf Sabelskij (Klaus Rodewald) könnte bei Heirat einer reichen Witwe (Christiane Roßbach) damit seinen Traum von Paris erfüllen, Sinaida (Marietta Meguid) hat genug davon und treibt ihren Ehemann Peter alias Pavel Lebedev ständig an, mehr davon zu ergattern. Michael Stiller als zappelig hilfloser Geschäftsmann, der „den Laden am Laufen halten“ will, spielt das als virtuose Karikatur, kann aber wie alle Figuren wenig von Tschechow in dieser zunehmend banaler werdenden Inszenierung retten. Schwächste Rolle im Stück ist Felix Strobels Landarzt Eugen alias Lvov, dem man weder sein Mitgefühl noch seine Heuchelei glaubt. An seiner Figur wird die Schwäche von Ickes Regieansatz am deutlichsten: das psychologische Geflecht von Tschechows Charakteren mit ihren Zerfallserscheinungen im zaristischen Russland Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich nicht im Rahmen einer modernen Gesellschaftskomödie à la Yasmina Reza aufbröseln.


Auch handwerklich kann Ickes Inszenierung nicht überzeugen. Nur im ersten Teil hält die Spannung der von Tschechow übernommenen Pausen im Dialog, Sabelskijs im Stück mehrfach variiertes Thema „Das Leben ist ganz und gar sinnlos“, von Matthias im Campingstuhl mit Sonnenschutz auf der Nase artikuliert, kann einsinken. Die erste Szene zwischen Benjamin Grüters Nikolas und seiner krebskranken Frau Anna (Paula Skorupa), die der Arzt zur Therapie nach New York (!) schicken will, hat darstellerisch Gewicht wie auch seine Begegnung mit der jungen Sascha (Nina Siewert). Doch stellt Icke diese Geburtstagsparty mit Statisten und Feuerwerk voll, und von da ab wird die Tragikomödie immer diffuser. Grüters nuschelnder Nikolas, gezeichnet von Psychopharmaka, Lebensüberdruss und Selbsthass, äußerst seine Unfähigkeit zu Gefühlen verbal, doch es mangelt an Darstellung. Nina Siewerts Sascha beeindruckt im Kampf um ihre Liebe, doch im weißen Hochzeitskleid ist sie plötzlich eine schrille Comedy-Figur, die ihren Nikolas unbedingt zum Traualtar schleppen will. Nach seinem Selbstmord beugen sich die Hinterbliebenen über die im Hintergrundvideo gezeigte Leiche, Benjamin Grüter geht durchs Wasser zum Ausgang. Wie zuvor die sprachlich und darstellerisch konzentrierte Paula Skorupa als gestorbene Anna.

Die nächsten Aufführungen am 1., 14. und 26. Dezember


18. November 2019

Republikaner unter sich


Calixto Bieito inszeniert Horváths „Italienische Nacht“ im Stuttgarter Schauspielhaus


An einer Stelle im Stück erzählt die junge Leni von einem Bekannten, der nichts anderes im Kopf hat als sein Motorrad. „Dein Kamerad Martin“, sagt sie zu Karl, der sich wegen seiner erotischen Gefühle die Schuld gibt, kein strammer Kommunist zu sein: „Mit dem ist auch nicht zu reden, weil er nichts anderes kennt als die Politik!“ 1931 hat Ödön von Horváth sein Volksstück „Italienische Nacht“ geschrieben, zwei Jahre bevor die Krise der Weimarer Republik mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten endete. Es zeigt die Unfähigkeit und Ratlosigkeit einer in einem „republikanischen Schutzverband“ organisierten Bürgerschaft, dem aufkommenden Faschismus Widerstand zu leisten. Dass dieses Thema in einer Zeit, wo sich eine rechte Partei als „bürgerliche Mitte“ mit national-sozialer Agenda geriert, höchst aktuell ist, liegt auf der Hand. Doch der katalanische Regisseur Calixto Bieito versagt sich in seiner Inszenierung jegliche naheliegende Aktualisierung – und verstärkt dadurch die Brisanz des Horváthschen Dramas.


Wenig gekürzt im Originaltext, höchst sorgfältig in der Struktur der Dialoge („Stille“!), vertraut Bieito ganz der Profilierung der Figuren durch Horváths pseudorealistischen Alltagsjargon, und bringt zur Spielzeiteröffnung ein hervorragendes Ensemble auf die Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses. Mit Elmar Roloff – gerade von einer Krebserkrankung genesen – hat er als Stadtrat und Ortsgruppenvorsitzenden einen leicht apathischen, schwer zu erschütternden Protagonisten (in der Uraufführung im Theater am Schiffbauerdamm von Oskar Sima gespielt). „Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt – solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, so lange kann die Republik ruhig schlafen!“ resümiert Alfons seine aus den Fugen geratene „Italienische Nacht“, die in Feigheit vor den Faschisten endete. „Gute Nacht!“ kontert der fanatisch auf Aktion gepolte Martin (David Müller), der seine Freundin auf den Nazi-Leutnant (Matthias Leja) ansetzt, um etwas über die Nachtübungen seiner geheimen Wehrsportgruppe zu erfahren.


So zwiespältig wie der Charakter und die Motive Martins, so interessant in ihrer Gebrochenheit sind die anderen Figuren, denen Horváth in seinem Stück eine „Demaskierung des Bewusstseins“ angedeihen lässt. Martins Freundin Anna (großartig: Paula Skorupa) ist leicht entflammbar für die Liebe und auch für Martins politischen Radikalismus, doch ihr Nazi-Flirt endet gewalttätig in der Fast-Katastrophe. Physisch geschunden und psychisch durch Martin genauso malträtiert wie Alfons‘ Frau Adele (Christiane Roßbach), die sich trotz dessen Demütigungen als einzige gegen den Nazi-Leutnant auf seine Seite stellt, ist sie am Ende stumme Zeugin des kollektiven „Wacht-am-Rhein“ Brüllgesangs, den Bieito dem Stückschluss implantiert hat. Da sind die Lichterketten des riesigen Wirtshaussaals längst erloschen wie am Beginn, als die gestapelten Biertische nach dem Aufzug des Eisernen Vorhangs wie Fluchtlinien der Geschichte aus dem grauen Hintergrund auftauchen. Viele davon werden im Verlauf des Stücks krachend umgestoßen, werden auch zu handfesten Hindernissen wie im einzig menschlichen Gespräch zwischen Martin und Anna. Auch Leni (Nina Siewert) und Karl (Peer Oscar Musinowski) finden zu einer Nähe, doch im von der Masse der Statisten bevölkerten Finale stimmen sie ein wie der opportunistische Wirt (Klaus Rodewald) zur „Wacht am Rhein“. Als ob die Wachsamkeit nicht anderswo sehr notwendig wäre.


Die nächsten Aufführungen: 29. September, 2.., 3. und 21. Oktober.


23. September 2019

 


Brillantes Tanzfest 

„New Works“ mit Choreographien von Stuck, Goecke, Clug und Forsythe beim Stuttgarter Ballett

 

Jubel und Applaus im Opernhaus, als Tamas Detrich zur Begrüßung der Zuschauer die Bühne betritt: der Stuttgarter Ballettintendant heißt, zum ersten Mal nach langer Zeit, sein Publikum „Herzlich willkommen zurück!“. In den Monaten seit Herbst letzten Jahres, in denen bestenfalls Premieren als Livestream im Internet gesendet wurden, sei bei ihm „ein Gefühl der Ewigkeit“ entstanden, doch nun wünscht er seinen Tänzern „Toitoitoi!“ und verspricht: „Die brennen auf Euch!“. Zwar belegen die Kameras – auch online wird die Premiere von „New Works“ übertragen – im Parkett einige Reihen, doch sonst wird zum ersten Mal die als Modellversuch erlaubte Schachbrett-Sitzordnung praktiziert: immer ein Platz bleibt frei, von Reihe zu Reihe schräg versetzt. Geimpft-Getestet-Genesen wird auf dem Platz vor dem Opernhaus kontrolliert, das klappt ohne größere Schlangen, und natürlich herrscht drinnen Maskenpflicht.

 

Drei Uraufführungen und die deutsche Erstaufführung von William Forsythes „Blake Works I“ bietet dieser Premierenabend, der von Christian Spucks „Cassiopeia’s Garden“ eingeleitet wird. Drei Frauen und sechs Männer tummeln sich darin in unterschiedlichen Konstellationen, vor dem an kostbare Tapestrien erinnernden Bühnenbild von Rufus Didwiszus, in dem sich Pflanzen aller Art zu grafischen Mustern verschlingen. Ein Männerpaar, eine Frau in Schlangenhaltung, hinter Sichtwänden, die später als Tische funktionieren, gesellen sich weitere Figuren mit farblich dezent aufeinander abgestimmten Shirts hinzu. Spuck pflegt hier – im Gegensatz zu seinen großen Handlungsballetten, mit denen er als Hauschoreograph in Stuttgart und jetzt als Chef des Zürcher Balletts reüssierte – die Kunst des abstrakten Tanzes. Das geschieht mit vom klassischen und vom Modern Dance inspiriertem Vokabular, welches elegant und virtuos exerziert wird. Scharfe Kontraste liefert die Musikcollage, die von Bach bis Sciarrino und Yan Cook reicht, doch die Akustik-Schocks von Elektro-Pop und Techno werden im Gegensatz zu sanfter Flöten-, Klavier-, Violin- und Orgelmusik tänzerisch nicht ausgereizt. Und der Titel? Spuck denkt dabei ans Sternbild Cassiopeia, von dem immer noch Radiowellen eines kosmischen Ereignisses zu uns dringen: „Jedes Ereignis in unserem Leben, auch wenn es scheinbar unendlich weit in der Vergangenheit liegt, stellt die Frage, was bleibt.“

 

Zwei Corps-Tänzer machen den 10-Minuten-Pas de deux von Marco Goecke – einem weiteren ehemaligen Hauschoreographen des Stuttgarter Balletts – zum viel umjubelten Höhepunkt dieses Abends. Wie Henrik Erikson und seine agile Partnerin Mackenzie Brown alle Facetten von Goeckes grotesk-skurriler Tanzsprache durchbuchstabieren, welcher  bei diesem neuen Stück nur das Unheimliche früherer Werke dieses Choreografen fehlt, ist bravourös und faszinierend. Zu Keith Jarrett („Budapest Concert“) und Lady Gaga („Bad Romance”) tanzen sie das Repertoire der clownesken Verdrehungen und hyperaktiven Flatterbewegungen mit umwerfender Attacke. Ein Pyro-Clou zum Schluss: Mehrmals entzündet Erikson ein Riesenstreichholz, aber Brown mag nicht Feuer fangen – eine schlechte Romanze eben. 

 

Tänzer und Tänzerinnen in weißen Unisex-Bodysuits: aus einem turmhohen Fadenzylinder treten sie hervor, zur Minimal Music von Milko Lazars „Stuttgart Suite“ beginnen die jeweils fünf Männer und Frauen in ihren futuristischen Tableaus zu posieren. Edward Clugs „Source“ ist ein artifizielles Abbild einer formierten Gesellschaft, atemberaubend synchron getanzt von den Solisten des Balletts, mit bis in kleinste Details identischen Parallelaktionen, als wären die Zehn geklonte Superwesen: kulminierend in Rocio Alemans und Friedemann Vogels zelebriertem Spiegeltanz. Brillantes Finale des heftig applaudierten Ballettabends war Forsythes „Blake Works I“: geschaffen wurde es 2016 für die Compagnie der Pariser Opéra, der für Modern Dance auf klassischer Grundlage renommierte amerikanische Choreograph zitiert darin auf witzige Weise die französische Balletttradition. Wie ein impressionistisches Gemälde stehen die 20 Tänzerinnen und Tänzer in Türkis zu Beginn in klassischer Formation:„It’s Show Time“ signalisiert das Arrangement. James Blakes Songs aus „The Colour in Anything“ bieten den wohlgelaunten Soundtrack für ein herrlich beschwingtes und dabei raffiniert virtuoses Tanzfest, bei dem die Elite der Compagnie mit Badenes, Kang, Su, Moore, Reilly und vielen anderen glänzend zur Geltung kommt. Ganz ohne Kulissen, auf weißem Boden vor schwarzem Hintergrund, feiern die Zwanzig ihre übermütige, mit Hüftschwung und Schultertwist angereicherte Party. Ein Gast in dunklen Jeans und T-Shirt kommt hinzu: Jason Reilly und Elisa Badenes zelebrieren ihren Pas de deux mit Leidenschaft.

 

 

 

 

 

Vom Herzen zu Herzen

Drei Beethoven-Ballette im grandiosen Livestream mit dem Stuttgarter Ballett

 

Eine Ballettpremiere aus dem Schauspielhaus, mit Jubel und Applaus nach jedem der drei getanzten Stücke, mit Blumen für die Tänzerinnen, Dutzenden Verbeugungen an der Rampe, einem Extravorhang für Mauro Bigonzetti, den Choreographen der Uraufführung von „Einssein“, und einem reich bebilderten, 60-seitigen Programmheft: es scheint alles wie immer bei festlichen „first nights“ des Stuttgarter Balletts, doch nicht ganz. Das Programmheft ist digital, und die ganze Aufführung kann nur im Livestream miterlebt werden – außer den Mitgliedern der Compagnie und den Kameraleuten und Technikern in den Zuschauerreihen, deren Beifall man zumindest hören kann. 

 

Zum Beethoven-Jubiläumsjahr war im Juli 2020 ein Hans van Manen gewidmeter Abend mit Beethoven-Balletten unter dem Titel „Hans & Ludwig“ geplant, der wurde wegen Corona auf diese Spielzeit verschoben, sollte in veränderter Form am 1. April nun endlich zur Premiere kommen. Doch im Kultur-Lockdown setzt Ballettintendant Tamas Detrich dennoch auf das Live-Erlebnis – wenigstens für die Tänzer. Immerhin ist man als Zuschauer des Livestreams – der bis 5. April auf dem YouTube-Kanal des Stuttgarter Balletts als Video-on-Demand weiterhin zur Verfügung steht – ganz nahe dabei an diesem grandiosen „Triple Beethoven“, der mit Hans van Manens „Adagio Hammerklavier“ beginnt“: drei Paare in Weiß, die Tänzerinnen in klassizistisch inspirierten wehenden Kleidchen, die Tänzer mit nackten, muskulösen Oberkörpern, vor dem flutenden blauen Wellendesign des Video-Bühnenbilds von Paul Vroom wie lebendige Skulpturen animiert vom holländischen Meisterchoreographen. „Aktion – Reaktion. Alles gehorcht diesem Prinzip“, schreibt van Manen zu seinem Stück mit einer fast sakralen Anmutung, bei der jedes Paar in seiner harmonisch abgezirkelten Figurensprache subtil verschiedene Gefühlszustände verkörpert: Anna Osadcenko und David Moore mit eleganter Attitüde, Miriam Kacerova und Roman Novitzky in fließender Bewegung, Elsa Badenes und Jason Reilly in atemberaubender Hochspannung zwischen Grazie und Virilität. 

 

Während die Kamera-Regie die einzelnen Pas de deux und die Interaktionen dazwischen geradlinig einfängt, herrscht in Mauro Bigonzettis „Einssein“ starke Bewegung, Wechsel, Veränderung. Auch hier liegt Klaviermusik Beethovens zugrunde: zwei Sätze aus den frühen Sonaten op.2, und der großartige Variationensatz der späten Es-Dur-Sonate op.109. Der Pianist Andrej Jussow sitzt auf der Bühne am Flügel, die acht Tänzer stehen dahinter lauschend aufgereiht. Der Titel des Stücks ist Programm: „Einssein mit anderen Menschen – das ist es, was wir in diesen Zeiten vermissen. Einssein mit der Musik – das ist wie eine Meditation, erhaben, vollkommen.“ Darauf steuert dieses Ballett hin, doch bis es, im letzten erhabenen Pas de deux von Friedemann Vogel und Elisa Badenes da ankommt, erfindet Bigonzetti eine Fülle hoch spannender Figurationen. Körperartistisch verschlingen sich die Leiber von Hya-Jung Kang und Adhonay Soares da Silva, erdig, sinnlich, erotisch begegnen sich die Tänzer in ihrer Sehnsucht des Zueinanders. Mit großer Sensibilität für die Ausdrucksmöglichkeiten von Beethovens Musik ist Bigonzetti ein beeindruckendes Stück gelungen.

 

Unbestritten gilt das natürlich für Hans van Manens Ballett „Große Fuge“ - wie „Adagio Hammerklavier“ anfangs der 1970er Jahre in den Niederlanden uraufgeführt und 1987 vom Stuttgarter Ballett übernommen. Beethovens Streichquartett op. 133 ist die Vorlage für den Hauptteil des Stücks, das mit einer ungeheuren Distanz beginnt: vier Frauen, unbeweglich zusammengedrängt im hinteren Bühneneck, dagegen diagonal im Vordergrund die vier Männer in ihren schwarzen, knöchellangen Röcken, die ersten Takte der Fuge markant auszirkelnd. Diese höchst expressive, sich zu Dissonanzen steigernde Musik des tauben Beethoven wird furios exerziert – bis zur Antwort der Frauen im sich beruhigenden Mittelteil: harmonische, grazile Körpersprache, die sich im Weiteren, im Hüpfduett mit den Männern, zu kurzen Pas deux und technisch brillanten Attacken steigert. Mit der Cavatina aus op. 130 erreicht dieses Tanzfest dann seinen einprägsamen Höhepunkt: vier Paare in vollkommener Bewegungsharmonie. Mit dieser Premiere zeigt sich die Stuttgarter Compagnie – trotz Corona – in Hochform!

 

 

Antanzen gegen Lockdown, Lähmung und Tristesse


„The Dying Swans Project“ entsteht mit 16 Solos verschiedener Choreographen  

 

Arbeitslicht auf der großen Bühne des Theaterhauses: der Tänzer Luca Pannacci und der Ballettmeister Louis Fayago erproben Posen, Figuren, Positionen für ein Solo, welches als Video aufgezeichnet Teil des „The Dying Swans Project“ sein wird, mit dem die Gauthier Dance Company ab Anfang April auf YouTube im Internet präsent sein will. Ein Kreis von Hüten liegt auf der Bühne, Pannacci bewegt sich in gespreizten Schritten auf Zehenspitzen wie taumelnd mit ausgebreiteten Armen von einem zum andern, das Video-Team kontrolliert zusammen mit dem Choreographen Kevin O’Day am Bildschirm, verschiedene Zoom-Einstellungen werden ausprobiert, mehrmals wird die Sequenz mit den taumelnden Schritten wiederholt.

 

Während Gauthier Dance eigentlich jetzt im Februar und März auf Tournee wäre, fiel die – wie so vieles andere – dem verlängerten Lockdown zum Opfer. So brauchte Eric Gauthier für seine 16 Tänzerinnen und Tänzern, den „sterbenden Schwänen“ sozusagen, eine neue künstlerische Herausforderung: die Idee des „The Dying Swans Project“ war geboren, und mit der finanziellen Unterstützung der Daimler-Initiative „Be a Mover“ und weiterer Sponsoren wurde daraus ein Riesenschritt. 16 Soli mit jeweils einem Künstler aus den Sparten Tanz, Choreographie, Musik und Film werden von Gauthier Dance produziert, mit im Boot sind einige internationale Tanzfestivals, auch die Ludwigsburger Schlossfestspiele beteiligen sich.

 

Neben Mauro Bigonzetti, Bridget Breiner, Edward Clug, Dominique Dumais, Nanine Linning – um nur einige im exclusiven Reigen der Choreographinnen und Choreographen zu nennen – ist auch Kevin O’Day mit einer Uraufführung dabei.  Als ehemaliger Tänzer beim American Ballet, William Forsythes Ballett Frankfurt und Mikhail Baryshnikovs White Oak Dance Project ist er mit dem klassischen und Modern Dance bestens vertraut, als internationaler Choreograph hat er in den letzten 25 Jahren an die hundert Stücke choreographiert. Für das Colours-Festival im Theaterhaus diesen Sommer entwickelt er für Gauthier Dance ein neues Stück, und dabei wählte er Luca Pannacci als Protagonist für seinen Beitrag zu „The Dying Swans“.  Für ihn als Choreograph, sagt O’Day, sei es immens wichtig, ein Stück kooperativ mit den Tänzern zu proben, ihre Kreativität zu entwickeln. „Er ist fantastisch“, sagt er über Pannacci, „wir haben die Idee, die Gefühle der Figur in der Auseinandersetzung mit unserer gegenwärtigen Situation gestaltet: eine Person, ein Jedermann, der im Kampf mit dem Leben seinen Weg zu Ende geht.“ 

 

Drei Tage hat Kevin O’Day nun mit Luca Pannacci im Theaterhaus geprobt, zwei Durchläufe des 3-Minuten-Solos, beide Male von der Video-Kamera aufgezeichnet, stehen am Schluss der Nachmittagsprobe. Der Tänzer im blassgrünen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und einer braunen Weste – Stil der 1940er Jahre, sagt O’Day, wie eine Figur aus Arthur Millers Theaterstücken – wartet in der Kulisse, bis die Musik von Roderik Vanderstraeten mit einer Klangexplosion einsetzt. Er flieht in den Hutkreis, scheint magnetisch angezogen von einigen dieser Requisiten, probiert welche auf, stürzt zu Boden, rappelt sich wieder auf, sammelt einen nach dem anderen ein und addiert sie zur Hutpyramide auf seinem Kopf. Den letzten packt er mit den Zähnen, dann bewegt er sich taumelnd in der Diagonale ins Off. Ein vieldeutiges Ende, von starker Ausstrahlung wie die ganzen drei Minuten dieses Solos. Bleibt nur zu hoffen, dass es außer im Internet auch bald live in einem „Dying Swans“ Programm von Gauthier Dance gezeigt werden kann.

 


Taumeln, Fallen, Tanzen aus der Isolation

Fünf junge Choreographen des Stuttgarter Balletts mit „Response II“ im Schauspielhaus


Ein etwas atemloser, innerlich bewegter Tamas Detrich begrüßt die Zuschauer bei der Premiere von „Response II“. Am „Light Lockdown“ im November kann der Ballettintendant nichts Leichtes finden: „There is nothing light for an artist not to perform – it’s hard!“ Seine Ansprache gilt auch dem Publikum im Internet, denn zum ersten Mal wird ein Premierenabend des Stuttgarter Balletts als Live Stream gesendet. Was die fünf jungen Choreographinnen und Choreographen aus der Compagnie dann mit „Response II“ auf die Bühne des Schauspielhauses bringen, ist vielfältig und eindrucksvoll. Ihre Antwort auf die Pandemie fasst Detrich zuvor in drei Worte: „Isolation, Furcht, Hoffnung“.

Alessandro Giaquinto macht den Anfang mit „Aedis“ zur Mobile-Musik von Nik Bärtsch: Haus, Tempel, Palast, Familie sind Bedeutungen des schillernden Titels, nacheinander lässt der junge Italiener seine vier Protagonisten auftreten. Anouk van der Weijde wälzt sich in unruhigen Träumen auf ihrer Matratze, bevor sie sich mit immer geschmeidigeren Bewegungen davon befreit. Doch sie bleibt genauso einsam in ihrem Lichtgeviert wie Timoor Afshar, im eigenen Körper gefangen. Dann öffnet sich eine zweite Ebene, am Tisch mit Miriam Kacerova und Roman Novitzky: sie sind auch im Leben ein Paar, ihr deshalb auf der Bühne erlaubter Pas de deux handelt von Begegnung – spannender Gegenpol zur Isolation. 

Hyo-Jung Kangs Solo „Aliunde Levi“ von Aurora de Mori – wie ihr Landsmann aus der John Cranko Schule in die Compagnie hineingewachsen – überträgt die Situation der Einsamkeit ins Rituelle. Wie eine Schamanin zelebriert sie ihr Einssein mit der Natur in atemberaubender tänzerischer Eloquenz. Zu traditioneller Trommel- und Flötenmusik pulsiert ihr Körper zwischen explosiver Dynamik und magischen Breaks: ihre Performance ist einer der beiden absoluten Höhepunkte des Abends.

Auch Vittoria Girellis vier Tänzer, phantasievoll in rostbraun-türkisfarbenen Flatterhosen kostümiert, scheinen in Tanzritualen befangen, schleudern ihre Glieder zu Craig Armstrongs „For Ever And Ever And Ever Alone“ synchron ins Weite. Erst bei Schuberts Arpeggione-Sonate wirken sie gefasster, aus wilder Ekstase entsteht fast so etwas wie Harmonie. Im Stück von Agnes Su zur „Clapping Music“ von Steve Reich dagegen ist die Kollektivbewegung des Tänzerquartetts geometrisch abgezirkelt. „Resonanz“ auf den beschleunigten Rhythmus der Minimal Music bedeutet erst einmal rechtwinklige Gänge im Eiltempo um eine in der Mitte hängende Glühbirne. Wenn die für einen Moment stärker leuchtet, ergibt sich so etwas wie arrangierte Gemeinschaft.

Shaked Hellers „Mehlberg“ packt seine drei Figuren in eine Zwangsisolation. Im sich perspektivisch verengenden Bühnenraum mit seinen sieben Türrahmen agieren Elisa Badenes, Angelina Zuccarini und Louis Stiens in Sträflingskleidung, furios in ihrer häufig exzentrischen Bewegungsvielfalt. Großartig und höchst spannend, wie der israelische Choreograph dennoch die Interaktionen bündelt und organisiert, wie die Musik von Vivaldi (Stabat Mater, Mandolinenkonzert), Rameau und Graham Leslie Coxon das Stück strukturiert und mit Emotionen auflädt. Immer wieder verschwinden die einzelnen Figuren in den Türen, tauchen wieder auf, ständig verändern sich Konstellation und Spannungsverhältnisse. Shaked Hellers Choreographie ist hochgradig einfallsreich und ausdrucksvoll, vor allem auch in den drei kurzen Soli, die er seinen Tänzern jeweils nach einem Beleuchtungswechsel gewährt. Mit „Mehlberg“ hat dieser neue Ballettabend, dessen weitere November-Vorstellungen nun leider abgesagt sind, einen bravourösen Schluss.

 

 

 

Something old, something new

Stuttgarter Ballett zeigt „Response I“ im Opernhaus


Halb Ballett-Gala, halb Junge Choreographen: Mit drei neuen Stücken von Tänzern der Compagnie hatte das Stuttgarter Ballett im Juli unter dem Titel „Response“ ein erstes Programm in Corona-Zeiten konzipiert – einmalig für 250 Besucher im Opernhaus zu sehen und für 1000 Autos plus Insassen auf den Cannstatter „Kulturwasen“ übertragen. Ergänzt wurde die Aufführung damals mit einer Solo-Version von Maurice Béjarts „Bolero“. Nun ist daraus ein achtteiliger Ballettabend geworden: zwei Stunden Tanzglück ohne Pause, nach der Premiere am Wochenende gibt es von „Response I“ noch drei Vorstellungen im Oktober, dann folgt „Response II“. 

Der Titel – „Antwort“ auf Deutsch – formuliert die Reaktion der Compagnie auf die Pandemie. Louis Stiens („Petals“), Fabio Adorisio („Empty Hands“) und Roman Novitzky („Everybody Needs Some/Body“) haben dazu Stücke choreographiert, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit der Situation auseinandersetzen. Doch der Abend beginnt mit einem Moment des Gedenkens: Elisa Badenes, eine der ausdrucksstärksten Solistinnen des Stuttgarter Balletts, tanzt aus Kenneth MacMillans „Requiem“. Selig schwebend, skulptural verharrend, bewegt sie sich als eine Art weißer Engel, wie sie als Grabfiguren auf Friedhöfen zu finden sind, über die Bühne: ein Augenblick der Erinnerung an die Verstorbenen. „Dona eis requiem“ singt Catriona Smith dazu auf der durch einen Gaze-Vorhang getrennten Hinterbühne, begleitet vom auf Abstand reduzierten Staatsorchester.

„Blütenblätter“ haben Louis Stiens für zwei der vier Kostüme seines Balletts inspiriert, bei dem der Pianist Alastair Bannermann im Orchestergraben Sonaten und Stücke von Scarlatti und Couperin musiziert. Eine Frau im grünen Kleid, ein Mann im Rosa-Anzug hantieren mit zwei sperrigen Stühlen auf Abstand, setzen sie hin und her. Zwei Figuren in braunen Blätter-Bodies kommen dazwischen, schlängeln sich geschmeidig umeinander, treten auch mit den realen Figuren in Beziehung. So entstehen Kontraste von Widerstand und Leichtigkeit, von Stiens spannend choreographiert. Michael Fokins „Sterbender Schwan“ danach ist ein bekannter Hit, Anna Osadchenko tanzt den Petersburger Klassiker mit ihren tremolierenden Battements makellos. Auch der Grand Pas de deux aus Marcia Haydées „Dornröschen“ (Elisa Badenes / David Moore) vermittelt den Glanz der Tradition, gegenüber den mäßigen Sprüngen ihres Partners sind die Arabesques der Tänzerin exzeptionell.

„Empty Hands“ von Fabio Adorisio vereint fünf Tänzerinnen und Tänzer mit weit ausholenden, auf Abwehr und unerfüllbare Nähe getrimmten Aktionen, aus Stürzen und Fallen entsteht Harmonie der wiedergefundenen Balance. Hans van Manens „Solo“ für drei Tänzer, seit mehr als zwanzig Jahren ein Knüller im Stuttgarter Repertoire, wird zu Bachs Violin-Partita technisch perfekt und sehr flüssig elegant über die Bühne gewirbelt, und doch vermisst man ein bisschen die spritzige Frechheit des Stücks. Der Spiegel-Pas de deux aus John Crankos „Onegin“ ist dann, in Jürgen Roses Original-Kulisse, ein heftig umjubelter Höhepunkt im Programm. Hyo-Jung Kang und Jason Reilly sind ein Traumpaar an leidenschaftlicher Energie, ihre Flugschwünge sind atemberaubend, Und Roman Novitzkys „Everybody Nees Some/Body“ bringt das Tanzen in Corona-Zeiten auf den Punkt. 

„Ohne Kontakt zu anderen kann man sich zwar Ersatz schaffen, der sich wie Nähe anfühlt, doch nichts ersetzt Menschen und Körper, die sich bewegen, interagieren, miteinander tanzen“, schreibt der Choreograph. Drei Tänzerinnen, drei Tänzer zwischen Garderobe-Torsi, zu Vivaldis „Winter“ und „Frühling“ aus den „Vier Jahreszeiten“ mit dem Staatsorchester unter Mikhail Agrest im Hintergrund: erst taumeln sie desorientiert zwischen den Ständern, allmählich gewinnen sie wieder an Lebendigkeit und Grazie, ein Paar (David Moore und Paula Rezende) wagt eine flüchtige Begegnung. „Something old, something new, something classic, something blue“ ist der Untertitel dieses schönen Abends. Das Publikum, mit Maske, ist glücklich.

Tanzlust auf 6 Meter Abstand

Marco Goeckes „Lieben Sie Gershwin?“ mit Gauthier Dance im Theaterhaus


Viel Herzblut, aufgestaute Energie, unbändige Lust zu tanzen: „Wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit“, sagt Company-Chef Eric Gauthier bei der Begrüßung des Publikums, sei dieser erste Ballettabend nach acht Monaten Corona-Pause, und was für ein Geschenk. Denn Marco Goecke hat „Lieben Sie Gershwin?“ choreographiert, und es ist ein 70-Minuten-Blockbuster geworden mit aller Faszination, die Goeckes Tanzkunst zu bieten hat. Dem früheren Hauschoreographen des Stuttgarter Balletts und jetzigem „Artist in Residence“ bei Gauthier Dance, der letztes Jahr als Ballettdirektor an die Staatsoper Hannover engagiert wurde, ist mit diesem Stück eine begeisternde Hommage an die elektrisierende Musik des amerikanischen Komponisten gelungen; der stürmische Beifall am Ende der Premiere im Theaterhaus zeigte, dass die Zuschauer den Titel dieser Gershwin-Revue restlos bejahten. 

Dabei ist Goeckes neunteilige Choreographie keineswegs leichte Kost, die Steptanz-Fröhlichkeit eines Fred Astaire, der Gershwins Songs als „für die Füße komponiert“ pries, die swingende Eleganz von Gene Kelly und Leslie Caron in „An American in Paris“ werden kaum zitiert. Die Frage „Lieben Sie Gershwin?“ könnte auch lauten „Lieben Sie das Leben?“ Denn dass dieses Ballett unter schwierigsten Bedingungen in Corona-Zeiten entstanden ist, merkt man auf Schritt und Tritt. 6 Meter Abstand verlangen die Bestimmungen von den Tänzern auf der Bühne, und so hat Goecke vor allem Soli choreographiert: doch die sind atemberaubend in ihrer oft vieldeutigen existentiellen Ausdruckskraft. Janis Joplins exzentrische Interpretation von „Summertime“ macht den Anfang: ein Tänzer, halb Slapstick und Hampelmann, halb Sinnsucher, stürzt sich in die kantig vibrierende, rhythmisch zerrissene Körpersprache Goeckes, doch in Erinnerung bleibt die weit ausgestreckte Armgeste – als ob sich Theophilus Veselý, der auch mit einem grandiosen Solo das Finale des Abends bestreitet, nach einer Partnerin sehnen würde.

Das Allegro aus Gershwins Klavierkonzert stürzt  mit voller Wucht auf das diagonal gestellte Trio in Schwarz: abrupte Bewegungswechsel, geschleuderte Arme, Handteller, die wie Masken von den Gesichtern gerissen werden, schwer schuftende Körper, fabelhaft synchron in irrem Tempo; dann aber wieder chaplinesk reduziert und mit Hände-Waschzwang. Sarah Vaughans „Someone To Watch Over Me“ dagegen ist ein schwebendes Harlekin-Solo, „My Man’s Gone Now“ aus Gershwins Oper „Porgy and Bess“, von derselben Sängerin interpretiert, danach ein doppelter Pas-de-un. Eine Tänzerin, ein Tänzer im Berührungsverbot, tieftraurig, furios dessen Schlussapotheose, einander zuwinkend gehen sie von der Bühne. Kalkweiß geschminkt, mit schwarzen Lippen und weit aufgerissenem Mund, setzt sich darauf die hoch gewachsene Anneleen Dedroog mit Gershwins „The Man I Love“ auseinander – eine verzweifelte Liebeserklärung. Und für das Finale des Klavierkonzerts („Agitato“) präsentiert Goecke seine Tänzer in knöchellangen schwarzen Röcken: statuarische und zuckende Körper zwischen Carabosse (mit einer Reverenz an Haydées „Dornröschen“) und Derwisch. 

Minutenlanges weißes Rauschen umgibt die drei weiß kostümierten Tänzerinnen, die wie Schemen vor beweglichen Spiegeln verharren und verschwinden: die von ihnen eingefangenen Treppenlichter im dunklen Theatersaal beginnen zu zittern, die ausgestreckten Arme verlangen nach Berührung, Kommunikation. Doch zu Gershwins „Love is Here to Stay“ (der letzten Komposition des 38jährigen vor seinem Tod 1937 in Hollywood) bleiben sie allein. Erst mit „I Love You, Porgy“ kommt es zum einzigen Pas de deux des Abends, es ist, nach halben Gesten und flüchtigen Berührungen, eine unendlich lange, stille Umarmung zwischen Dedroog und ihrer Partnerin Garazi Perez Oloriz – sie sind auch im Leben in Paar. George Gershwins „Rhapsody in Blue“ setzt den Schlusspunkt: statt der schwarzen T-Shirts zu Beginn sind die Pullis der Tänzer jetzt patchworkbunt, zu André Previns Pianokadenz kämpfen sich noch einmal zwei maskierte Tänzer gebeutelt, vorsichtig vorantastend, über die Bühne. Es folgt das Solo zum Finale: zu Boden gedrückt vom Gewicht der Welt, mit gellendem Gelächter vor seinem Ebenbild im Spiegel, seht welch ein Mensch! Und dann ein Augenblick der Schönheit: gleitend, sich wiegend bringt Veselý seinen Körper ins Gleichgewicht. Grandios!

Tragödie einer Verblendung

Egon Madsen spielt Shakespears King Lear in einem Monodram von Mauro Bigonzetti

 

Vor einem Dutzend Jahren kreierte Egon Madsen im Stuttgarter Theaterhaus mit „Don Q.“ den legendären Don Quichotte aus dem Roman von Cervantes. Nun, mit 77 Jahren, schlüpft er auf der Bühne des T3 in die Rolle einer anderen berühmten Figur der Weltliteratur: Shakespeares King Lear: wie der grandiose Tanzdarsteller diesen Charakter des alternden Königs auf seine Weise in dem von Mauro Bigonzetti klug inszenierten Monodram zum Leben erweckt, ist großes Schauspielertheater.

 

Seit Egon Madsen vor mehr als einem halben Jahrhundert in John Crankos „Romeo und Julia“ als Mercutio seinen dramatischen Todestanz zelebrierte, gehört er zu der seltenen Riege der faszinierenden Tanzschauspieler. In den letzten Jahren seiner Tänzerkarriere bekam das Pantomimische immer stärkeres Gewicht gegenüber dem choreographischen Vokabular, und nun in „Egon King Madsen Lear“ verschmelzen Bewegung, Sprache, Mimik und Gestik zu einer großartigen, berührenden Einheit. Umgeben von Kisten, leeren Koffern, Lautsprecherboxen und Tonbandgeräten steht Madsen im üppigen Morgenmantel über nacktem Oberkörper und schlotternden Unterhosen auf der Bühne. Das mächtige Haupt mit dem wilden weißen Haarkranz schwingt hin und her, der breite schwarze Thronsessel, dessen Lehnen mit Hellebardenkugeln bewehrt sind, ist für ihn Fluchtpunkt und fantastisch surreales Objekt, auf dessen Lehne er in einer Szene mit wehendem Mantel reitet.

 

Mauro Bigonzettis bildhafter Phantasie – die beiden haben schon mehrere Projekte zusammen verwirklicht, in den italienischen Marken leben sie in benachbarten Dörfern – gelingen immer wieder eindrucksvolle Momente, so wenn Madsen Lear wie ein Traumtänzer auf der Thronfläche in Bewegung ist oder wenn er sich die Krone vom Kopf reißt und die geballten Fäuste mit gekreuzten Armen wie gefesselt durchsteckt. Da ist der alte König längst von Verzweiflung gepackt, nachdem er, geblendet von den Schmeicheleien seiner beiden älteren Töchter, die jüngste, von ihm geliebte Tochter enterbt hat und von den Heuchlerinnen dem Elend preisgegeben wurde. Nicht nur die Stimmen seiner Töchter dringen, jedesmal wenn er eines der Tonbandgeräte einschaltet, auf ihn ein, auch sein schlechtes Gewissen und seine bösen Gedanken melden sich über Lautsprecher zu Wort. Dann zuckt Madsen zusammen, seine fahrigen Hände wischen kreuz und quer über das zur Fratze verzerrte Gesicht, sein ganzer Körper windet sich in psychischen Krämpfen: ein extremer Kontrast zu den Königsposen, in denen sich Madsen immer wieder seiner früheren Identität zu versichern sucht.

 

„Kann jemand sagen, wer ich bin?“ fragt Egon King Madsen Lear ins Publikum, „Schützt mich vor Wahn, ihr Götter!“ ruft er an anderer Stelle. „Ich bin ein König?“ wiederholt er in einem seiner stark akzentuierten Monologfetzen, sich selbst bespiegelnd, in unterschiedlichem Tonfall: auch eine gehörige Portion Narzissmus ist Teil seiner Selbstdarstellung. Choreographisch am eindrucksvollsten sind die Szenen, wo Madsen zur Musik von Ralph Vaughn Williams‘ „Fantasia on an theme by Thomas Tallis“ die alten Tanzschritte innerlich gebrochen ad absurdum führt. Hier ist der Antwort auf Lears Frage „Was habe ich falsch gemacht?“ ganz nah. Doch seine Einsicht kommt zu spät: zusammengekrümmt auf dem Thron wie ein Embryo stirbt er, mit Worten aus Shakespeares Drama auf den Lippen: „Seht ihr den Himmel? Seht doch!“

(Ludwigsburger Kreiszeitung 24. Januar 2020)

Tanzexerzitien im Klima-Smog


Richard Siegals Ballet of Difference zeigt sein Stück „New Ocean“


Am Anfang, als eine Art Ouvertüre, kommt Taj Mahals Blues-Song „You don’t miss your water“ über die Lautsprecher, doch wenn sich der Vorhang hebt, herrscht bald Stille, und kaltes Licht über einem Kreisrund, um das herum in Zeitlupentempo graue Wände niedergehen. Als der Song vor 50 Jahren herauskam, hatte der amerikanische Tänzer und Choreograph Merce Cunningham seine die Ballettwelt revolutionierende, auf der Theorie von Albert Einstein – „Es gibt keinen festen Punkt im Raum“ – aufbauende Tanzästhetik entwickelt, später arbeitete er mit John Cage am Zufallsprinzip von Musik und Bewegung, das in dem gemeinsamen Projekt „Ocean“ realisiert werden sollte. Richard Segals Stück „New Ocean“ bezieht sich  nicht nur im Titel auf diese  Arbeit und die skulpturale Bewegungssprache des vor hundert Jahren geborenen und vor zehn Jahren gestorbenen Merce Cunningham, die er mit fünf Tänzerinnen und drei Tänzern auf gewisse Weise museal in und außerhalb der weißen Kreisfläche abbildet. Doch sein „New Ocean“-Konzept hat inhaltlich eine ganz andere, thematisch aktuelle Tendenz: es handelt von der Bedrohung der Menschheit durch Umweltzerstörung und Klimakatastrophe. Und damit bekommt der Eröffnungssong eine weitere Bedeutung: „You don’t miss your water – till your well runs dry – Du kümmerst dich nicht um das Wasser, bis der Brunnen versiegt ist“. 


Zusammen mit seinem Lichtkünstler Matthias Singer hat Richard Segal aus den Daten der Polareisschmelze mit Hilfe von Algorhythmen 94 Bewegungssequenzen entwickelt, in denen sich die Tänzer im Raum positionieren. Da die Daten von einem Dutzend verschiedener Polarregionen  analysiert wurden, gibt es bei jeder Aufführung einen anderen „New Ocean“: in Ludwigsburg war es - nach zwei Vorstellungen im Standort Köln der Compagnie mit „Greenland“ und „Hudson“ - „Laptev“ am Rand des Nordpolarmeers. Das klingt sehr technisch, hat aber auf der Bühne eine starke, suggestive Kraft. Die Tänzer kommen und gehen, stellen sich am Rande des LED-Lichtkreises in skulpturenhafte Positionen, anstelle des klassischen Standbein/Spielbein-Musters wechseln sie ständig von ex-zentrischen zu in-zentrischen Körperhaltungen, von Spannung zu Lösung, konvex und konkav im Hüftknick, mit weit gestreckten horizontalen und vertikalen Armhaltungen.

 

Vom sizilianischen Dichter und Literaturnobelpreisträger Salvatore Quasimodo gibt es das berühmte Epigramm „Ognuno sta solo sul cuor de la terra / traffito da un raggio di sole / ed è subito sera“: Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde, durchbohrt von einem Strahl der Sonne / und plötzlich ist es Abend. So stehen die Tänzerinnen und Tänzer, jede und jeder allein für sich auf der Bühne ohne Blickkontakt oder Berührung mit anderen, meistens sind nur drei der acht Ensemblemitglieder gemeinsam auf der Bühne.  In ihren abstrakten, faszinierend variablen Bewegungen und Körperhaltungen könnte man Daseinsmomente, Existenzsituationen erkennen, doch sie bleiben vieldeutig.

 

Während der ersten Hälfte von „New Ocean“ spielt sich alles in einer von weißem Rauschen begleiteten Stille ab auf der Bühne, nur selten platzt ein metallischer Akkord hinein. Aus von der Decke hängenden Röhren quillt langsam Trockennebel herab, anfangs wirken die vom Licht beschienenen Wölkchen dekorativ, doch der weiße Nebel verdichtet sich, wird zum gelblichen Smog, in den die Tänzer schließlich vollständig eingehüllt sind. Nach der Pause schwillt eine anfangs federleicht rhythmische Musik immer mehr bedrohlich an, nun quillt der Smog aus allen Ritzen auf die Bühne, rahmt bei jedem neuen Nebelstoß die einzelnen Figuren als Hintergrund malerisch ein, bevor er sie verschlingt. Immer mehr Tänzer liegen flach im zerstörten Lichtkreis, ganz am Ende reißt es die grauen Wände zu Boden und der Smog erobert alles. Ein spektakulärer Schluss – und keine Greta in Sicht.

Furiose Attacken


Stuttgarter Ballett mit „Creations I-III“ im Schauspielhaus


„Creations“ nennt Tamas Detrich, der Intendant des Stuttgarter Balletts, zwei Abende mit Uraufführungen in dieser Saison, an denen jungen und etablierten Choreographen die Chance zur Realisierung ihrer schöpferischen Ideen mit den Tänzerinnen und Tänzern seiner Compagnie gegeben wird. Bei der jüngsten Ballettpremiere am Wochenende im Schauspielhaus waren dies neue Stücke von Roman Novitzky, Andreas Heise und Fabio Adorisio. Die Dramaturgie stimmte, der Beifall des immer enthusiastischen Stuttgarter Publikums steigerte sich von Kreation zu Kreation. Sieben war die magische Zahl in den beiden ersten Stücken, beim letzten vergrößerte sich die Frauenquote auf 5:3.

Roman Novitzky, der im Stuttgarter Ballett seit einem Jahrzehnt als Tänzer, Choreograph und Fotograf erfolgreich ist, machte den Auftakt mit „Impuls“ – einem Stück, welches seine originären Impulse aus der Live-Aktion bezieht, mit der Marc Strobel auf einer großen Rahmentrommel die tänzerischen Tableaus bewegt. In einem Neonkreis steht er am rechten Bühnenrand, mit Fingern und Händen, Bürsten, Nägeln und Trommelstöcken kreiert er den von elektronischen Klängen ergänzten Rhythmus, der die unter einem Lichtbalken (Bühne: Yaron Abulafia) einlaufenden Tänzer animiert. Ausgesprochen schick wirken die schwarzen ärmellosen Hosenanzüge Aliki Tsakalous, athletisch und elegant formieren sich die drei Tänzerinnen und vier Tänzer zu immer neuen Synchrongruppen, aus denen sich einzelne Soli, Duos und Trios entwickeln. Wie Zwillingsschwestern tanzen Aurora De Mori und Minji Nam unter dem Lichtvorhang, in unablässigen Variationen zelebriert das dynamische Septett seine Körperrituale.

Andreas Heises „Lamento“ ist gegenüber Novitzkys abstrakter Leichtigkeit inhaltlich ambitioniert. Der an der Dresdner Palucca-Schule ausgebildete Tänzer war in Uwe Scholz‘ Leipziger Compagnie und Solist am Norwegischen Nationalballett, bevor er sich seit 2006 international als Choreograph etablierte. Ausgangspunkt seiner „Lamento“-Choreographie ist der Mythos von Odysseus und Penelope, die Grundlage für die Musik des norwegischen Barockviolinisten Bjarte Eike bildet Monteverdis „Ritorno d’Ulisse in patria“ und dessen „Lamento della Ninfa“. Aus einem weiß wabernden Spalt windet sich Agnes Su als Athena in die Schwärze der Bühne, drei Paare in bläulichen Body-Suits folgen: es sind nach der Idee des Choreographen die jungen , getrennt lebenden und schließlich wiedervereinten Figuren Homers, allerdings will Heise keine Geschichte erzählen, sondern „die Gefühle und den inneren Zustand“ seiner Figuren in einem abstrakten Setting. Das klingt kompliziert, ist es auch auf der Bühne, wo am Ende nach allerlei Turbulenzen und waghalsigen Körperverstrickungen Martí Fernández Paixà und Hyo-Jung Kang einen melancholischen Pas de deux des Einverständnisses tanzen.

Was Heises Stück an Struktur fehlt, ist bei Fabio Adorisio - Halbsolist des Stuttgarter Balletts und nach seiner Ausbildung an der John-Cranko-Schule als Choreograph schon mit einem Dutzend eigener Stücke kreativ – und seinem Werk „Calma apparente“ (auf Deutsch „scheinbar ruhig“) deutlicher ausgeprägt. Unter einem riesigen Bühnenvorhang kriecht eine Tänzerin hervor, weitere folgen. Düstere, sich von der Lautstärke her ins Unerträgliche steigernde Musik (Kevin Kellers „Battleground“) illustriert die sich von lähmender Tatenlosigkeit zu furioser Attacke entwickelnden Interaktionen der acht Tänzerinnen und Tänzer, von denen Elisa Badenes als eine Art Anführerin die Impulse zur Rebellion gegen eine undefinierte Bedrohung setzt. Bryce Dessners „Little Blue Something“ verstärkt mit seinen kratzigen Streicherattacken noch die Spannung, bis sich diese in einem barocken Klaviermenuett auflöst. Auch hier steht ein Pas de deux am Schluss, Badenes und David Moore zelebrieren ihn mit klassischen Anklängen, dann stürzt der Vorhang zweimal herab. Zerstörung? Befreiung? Die Tänzer betreten ihn „calma apparente“.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 2. Dezember 2019)

Rebellisch und heroisch getanzter Genius


John Neumeiers „Beethoven-Projekt“ wurde im Festspielhaus begeistert applaudiert


Auf der Bühne ein schwarzer Konzertflügel, um eines seiner Beine geschlungen ein junger Mensch. Gleich wird der Pianist Michal Bialk das Thema der  fünfzehn „Eroica“-Variationen anstimmen, der kleine katalanische Tänzer Aleix Martínez die ersten Schritte in die Welt wagen, voller Widerspruch in den Bewegungen, kopfüber hängt er im Steinway, die Hände üben sich im Luftklavier. Auf einem Rollbrett wird der große Edvin Revazov als „Beethovens Ideal“ hereingefahren – eine übermächtige Zielprojektion in silbernem Gehrock überm nackten Oberkörper. So beginnt John Neumeiers faszinierendes „Beethoven-Projekt“ mit dem Hamburger Ballett – ein grandioser Abschluss dieser Ballettwoche bei den Herbstfestspielen in Baden-Baden, bei dem das Publikum den 80jährigen Choreographen am Ende mit einer kollektiven Standing Ovation ehrt.

Neumeiers offenbar unerschöpfliche Phantasie und Kreativität hat mit seinem jüngsten Ballett eine vielgestaltige Hommage an Beethoven als Künstler und an seine Musik geschaffen. Wie ein junger Rebell gegen die Konvention und zugleich ringend mit seinen künstlerischen Vorstellungen präsentiert der Choreograph seine Figur im Umgang mit seinen Geschwistern und Freunden, lässt Aleix Martínez Purzelbäume schlagen und skurrile Körperartistik probieren. Der Pas de deux mit der Mutter bringt zum Largo aus Beethovens „Geister-Trio“  emotionale Nähe ins Spiel, Phantasien und Ängste werden real, als Muse und „ferne Geliebte“ nähert sich Anna Laudere zu den Klängen des Adagio aus op. 132: das Streichquartett wird aus dem Orchestergraben musiziert, wo nun die Deutsche Radio Philharmonie unter Simon Hewett auch „Die Geschöpfe des Prometheus“ spielen wird.

Beethoven als Musiker-Choreograph: der quirlige Aleix Martínez kreiert als Prometheus ein Menschenpaar, zunächst so tapsig und körper-dissonant wie er selbst, doch Revazov und Laudere als harmonisch ideales Götterpaar Apollo und Terpsichore lehren sie den klassischen Tanz. Mythische Figuren in strahlendem Weiß gesellen sich dazu, das Ensemble zelebriert den Contre-Danse, in den sich auch der Künstler einreiht. Mit einem Schiller-Zitat über den Tanz als Ideal einer demokratischen Gesellschaft - „Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des anderen“ - schließt dieser erste Teil.

Erstaunlich, wie John Neumeier im zweiten Teil, seinem sinfonischen „Eroica“-Ballett, die Figur des Künstlers Beethoven in den abstrakten Tanzkosmos einbezieht. Das stürmische Allegro wird von der tänzerischen Vitalität Aleix Martínez` befeuert, choreographische Figuren aus den biografischen „Beethoven-Fragmenten“ des ersten Teils werden in die Tableaus des Ensembles integriert, doch der große Pas de deux zum „Marcia funebre“ des Adagio-Satzes spricht eine ganz eigene Tanzsprache. Anna Laudere und Edvin Revazov, die beiden wunderbar ausdrucksvollen Startänzer des Hamburger Balletts, erzählen den Weg eines Paars durch Krieg und Zerstörung. Auf einer schrägen Spiegelwand hinter ihnen lodert immer heftiger das Feuer, und Beethovens Trauermarsch reflektiert auch seine Abkehr vom erst heroisierten Napoleon, dem die „Eroica“ ursprünglich gewidmet sein sollte. Nach diesem höchst intensiven Pas de deux sprüht das Scherzo vor Spagat-Fröhlichkeit und Lebensenergie, und im Finale feiern die 43 Tänzerinnen und Tänzer in Neumeiers brillanter Choreographie die Utopie einer harmonischen Gemeinschaft.

 

3 x Modern Dance: Atemberaubend!


Stücke von Itzik Galili, Johan Inger und Akram Khan beim Stuttgarter Ballett

 

Das Auftaktstück ist ein Titelrätsel: „Hikarizatto“ hat Itzik Galili sein 20-Minuten-Ballett für vier Solisten und acht Corps-Paare genannt, im Indischen bedeutet das Wort eine Konjunktion: „Wenn…“ Was sich jedoch im Titel so rätselhaft gibt, ist auf der Bühne des Stuttgarter Opernhauses, wo das Stück 2004 uraufgeführt wurde, reiner abstrakter Tanz: athletisch, formvollendet, ihre skulpturalen Figuren blitzartig verändernd, erobern sich Alicia Amatriain, Hyo-Jung Kang, Jason Reilly und Adhonay Soares da Silva sukzessive die Lichtquadrate, von denen der Boden übersät ist. Mit der nonchalanten Eleganz und dem Drive, zu dem sich der israelische Choreograph damals offenbar von der Tanzsprache William Forsythes inspirieren ließ, zelebrieren die Tänzer im variablen Formationen, mal diagonal, mal über die bis zu 25 schachbrettartigen Felder verstreut, ihre attraktive Kunst, angetrieben von einem Schlagzeugsextett des Staatsorchesters. Die holländische Gruppe Percossa hat die vitale, rockige Musik für „Hikarizatto“ komponiert.

 

Ein vom Premierenpublikum bejubelter, furioser Einstieg in ein Programm, mit dessen Mittelstück der Abend sein Wortspiel treibt: Aus Johan Ingers „Out of Breath“ wird das Motto „Atem-Beraubend“. Das Ballett des schwedischen Choreographen atmet die Tanzsprache des Cullberg-Balletts, das er bis 2008 leitete: sein 2002 für das Nederlands Dans Theater choreographiertes Stück ist von erzählerischer Vielschichtigkeit. Ein Frau im schwarzen Ballerina-Kleidchen mit weißem Rüschensaum tanzt vor einer halb versunkenen, geschwungenen weißen Mauer, ein Mann steht bewegungslos am Bühnenrand, ein Dritter kämpft sich gnomartig hinzu: bald sind es drei Tänzerinnen und drei Tänzer, die mit dieser symbolhaften Mauer in Beziehung treten, daran abprallen oder sich hochhangeln, auf ihrer Kante balancieren oder sich voll Vertrauen in die Arme des Partners fallen lassen. Ingers „atemloses“ Stück ist voller überraschender Bewegungswechsel, einmal joggt eine Frau im Kreis, oft sind die Körper der Tänzer bizarr verformt oder zitieren Volkstanz-Vokabular, immer begleitet von der klangreichen Streichquartettmusik Jacob Ter Veldhuis‘ und Félix Lajkós. „There must be some way out of here“ ist der Titel eines der Musikstücke und steht wohl thematisch für Johan Ingers Stück. Am Schluss stemmt ein Tänzer seine Partnerin hoch hinauf auf die Kante der Mauer: ein Augenblick der Freiheit, des Glücks?

 

Agnes Su, eine der drei Frauen in Johan Ingers „Out of Breath“, ist auch in „Kaash“ von Akram Khan eine fulminante Interpretin dieses Stücks, in welchem der in London geborene, von Vorfahren aus Bangladesh abstammende Choreograph Elemente des indischen Kathak verwendet. Es ist das erste Mal, das Khan mit dem Stuttgarter Ballett arbeitet, und sein von der japanischen Kostümbildnerin Kimie Nakano ausgestattetes Werk ist mit seinen langen schwarzen, schwingenden Röcken für die oberkörpernackten Männer ein spektakulärer Hingucker. Auch hier wird die explosive Musik von Nitin Sawhney von einem Schlagzeug-Quintett des Staatsorchesters exekutiert, in Kung-Fu-Motion wirbeln die fünf Tänzerinnen und acht Tänzer über die Bühne (wobei sich die Halbsolistin Agnes Su mit ihrer Interpretation auf jeden Fall die Beförderung zur Solistin verdient!). Doch die eigentliche Sensation von „Kaash“ ist Stuttgarts Erster Solist Friedemann Vogel. Wie bei seinem Solo am Ende jede Muskelfaser seines Tänzerkörpers geradezu ritualistisch ausgeleuchtet wird, ist eine Feier des Tanzes an sich.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 1. Juli 2019)

Leidenschaftliche Obsessionen


Kenneth MacMillans Handlungsballett „Mayerling“ mit Friedemann Vogel im Opernhaus


Als am Schluss Jürgen Rose auf die Bühne kommt, gibt es Standing Ovations im Opernhaus, und das auf der Bühne versammelte „Mayerling“-Ensemble klatscht begeistert Beifall. Für dieses Ballett  ist der Bühnen- und Kostümbildner, der durch seine Ausstattung von John Crankos Handlungsballetten Weltruhm erlangte, wieder nach Stuttgart gekommen. Mit wieviel Geschmack, Sorgfalt und Detailtreue der 81jährige Kenneth MacMillans Dreiakter über den österreichischen Kronprinzen Rudolf und dessen tragisches Ende im Jagdschloss Mayerling bebildert hat, ist grandios. Vor dem Hintergrund der meist in Schwarz-Weiß gehaltenen, skizzenartigen Bühnenprospekte entfalten die Kostüme einen Glanz, der nie aufdringlich wirkt und durch die wenigen Möbel und Requisiten die Atmosphäre der Handlung wirklich stimmig macht. Selbst für die schwarze Kutsche, die im Prolog und Epilog eine Rolle spielt, hat Rose in Österreich ein Original von 1885 aufgetrieben – drei Jahre vor Rudolfs Ende in Mayerling.

Kenneth MacMillans Handlungsballett, 1978 vom Londoner Royal Ballet uraufgeführt, kreist ganz um den österreichischen Thronfolger, von seiner erzwungenen Heirat mit der belgischen Prinzessin Stephanie bis zum Doppelselbstmord mit seiner letzten Geliebten Mary Vetsera.


Für Friedemann Vogel, den Ersten Solisten des Stuttgarter Balletts, ist das eine Traumrolle und vielleicht die Herausforderndste seiner Karriere. Schon in der ersten Szene – nach einem choreografisch wenig ergiebigen Defilée der Hochzeitsgesellschaft vorbei am blutroten Doppeladler – ist er in seiner Einsamkeit, Zerrissenheit und seinem romantischen Lebensüberdruss definiert: seine Pirouetten zielen ins Nichts, seine Braut provoziert er durch einen Flirt mit ihrer Schwester, mit seiner früheren Geliebten Gräfin Larisch kommt es zum gelangweilten Rendezvous – es ist der erste von sieben in immer heftigere Gefühls- und erotische Rangeleien ausufernden Pas de deux.


Alicia Amatriain ist diese den Kronprinzen umgarnende Gräfin, die ihm als Kupplerin die junge Mary zuführt, mit deren Mutter (Sonja Santiago) er früher schon mal eine Affäre gehabt haben soll. Hinter der aristokratischen Fassade ist das eine ziemlich verkommene Gesellschaft, die freilich in MacMillans Choreografie nur steif und zeremoniell dargestellt wird. In der Premierenserie feiert das Stuttgarter Ballett Wiedersehen mit einigen ehemaligen Stars: Egon Madsen wandelt als Operettenkaiser Franz Joseph über die Bühne, Marcia Haydee ist dessen prachtvoll gekleidete Erzherzogin-Mutter Sophie, mit der 91jährigen Georgette Tsinguirides als Hofdame mit ausladender Tournüre im Schlepptau. Dass Rudolf in dieser gefühlsarmen Umgebung psychisch beschädigt aufgewachsen ist, kommt in seinem Pas de deux mit der Kaiserin Sissi (Miriam Kacerova)  deutlich zum Ausdruck. Gefühlskalt und brutal macht er sich dann in der Hochzeitsnacht-Szene seine Frau (Diania Ionescu) gefüge.


Die Musik von Franz Liszt, zusammengestellt und arrangiert von John Lanchbery und effektvoll gespielt vom Staatsorchester unter der Leitung des russischen Dirigenten Mikhail Agrest, schafft zusätzliche Dramatik und Atmosphäre: Für die Szenen, in denen Rudolf mit dem Revolver hantiert, wird der Mephisto-Walzer eingesetzt, die Pas de deux mit Mary Vetsera steigern Liszts Études d’execution transcendante zum Höhepunkt. Während der Besuch des Kronprinzen im Kokotten-Wirtshaus bei seiner Mizzi (Anna Osadcenko) choreografisch unterbelichtet bleibt, sind diese Pas de deux mit Friedemann Vogel und Elisa Badenes atemberaubend. MacMillans Tanzsprache erreicht hier, mit abenteuerlichen Hebungen und Schleuderschwüngen, akrobatischen Verschlingungen und verzückten Körperskulpturen eine höchst expressive Ausdruckskraft. Die Schlussszene, in der Rudolf zuerst seine Geliebte, dann sich selbst erschießt, ist im Bühnenbild von Jürgen Rose hinter einem Paravent dezent gestaltet. Danach wird, wie im Prolog, der Sarg mit der Leiche Vetseras im strömenden Regen in die Grube gesenkt, vor der düsteren Kulisse einer im Nebel versunkenen Landschaft.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 21. Mai 2019)


 

Mit eigener künstlerischer Handschrift

Kunstmuseum präsentiert zwölf „Konkrete Künstlerinnen“ des 20. Jahrhunderts

 

„Art concret“ oder „konkrete Kunst“ ist ein Begriff, der in den 1920er Jahren in Paris geprägt wurde als künstlerische Ausdrucksform auf rein mathematisch-geometrischer Grundlage. Der Schweizer Max Bill, der nach dem Zweiten Weltkrieg 1953 die Ulmer Hochschule für Gestaltung mitbegründete, definierte die sich von der Abstrakten Kunst unterscheidende Kunstrichtung als den „reinen Ausdruck von harmonischem Maß und Gesetz“. Welche Rolle dabei auch Frauen in der als Männerdomäne geltenden Szene spielten, untersucht ab heute (bis zum 17. Oktober) eine Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart.

 

Auf vier Etagen im Kubus präsentiert die Kuratorin Eva-Marina Froitzheim zwölf Künstlerinnen unter dem plakativen Titel „Konkrete Künstlerinnen“, wobei auch kunstsoziologische Fragestellungen, zum Beispiel nach den Ausbildungs- und Präsentationsbedingungen vor und nach 1945 oder nach der Utopiefähigkeit Konkreter Kunst, im Katalog abgehandelt werden. Alle zwölf ausgestellten Künstlerinnen, deren Werke zum großen Teil aus der seit 2009 im Besitz des Kunstmuseums befindlichen Sammlung konkreter Kunst des Stuttgarter Galeristen Heinz Teufel stammen, hatten Verbindungen untereinander und auch zur Landeshauptstadt. Sophie Taeuber-Arp und Sonia Delaunay kamen durch ihre Heirat zunächst mit dem Dadaismus und Kubismus in Berührung, entwickelten jedoch ihren eigenen Stil: Taeuber als Designerin und Kunstgewerblerin, Delaunay auch mit Kleider- und Möbeldesigns. Prinzip war jedoch die geistige Auseinandersetzung im Verhältnis von Fläche, Form, Linie, Raum und Farbe. „Quatre Espaces à croix bleu brisée“ (1932) betitelt Taeuber ihre Gouache aus Kreis, Quadrat, Rechteck in Primärfarben, „Rhythme coloré“ nennt Delaunay ihr 1958 entstandenes, farbintensives Ölgemälde. 

 

Wie Blätter und Wellen wirken Clara Friedrich-Jezlers abstrahierte organische Formen in ihren Bildplastiken; Katarzyna Kobros „Spacial Sculpture“ zeigt noch den Einfluss des russischen Konstruktivismus. Marcella Kahn („Spatial Mobile“) geht den Weg vom Figurativen zum Abstrakt-Konkreten in ihren Collagen und Skulpturen, und Verena Loewensberg greift Max Bills daneben exponierte „Strahlung aus Lila“ in kräftigerer Farbgebung auf im variierten Rand mit Ocker, Rot und Dunkelblau eines leeren weißen Kreises. Geneviève Claiss schafft in ihrem „Relief cercle vert“ (1970) eine starke spirituelle Konzentration, auf der obersten Kubus-Ebene beeindrucken die Stahlblech-Konstruktionen von Charlotte Posenenske.

 

 

Im Dunkel ein Leuchten

Fred Uhlmans Zyklus „Captivity“ zum ersten Mal im Graphik-Kabinett der Staatsgalerie

 

„Als Geschenk des verlorenen Sohns“ schreibt der in Stuttgart geborene Maler Fred Uhlman 1950 aus London zu seiner Sendung von 38 Zeichnungen an den damaligen Direktor der Stuttgarter Staatsgalerie. Theodor Musper bedankt sich und schreibt zurück: „Das Motto soll mir willkommen sein, wenn ich auch finde, dass es in diesem Fall nicht ganz passt, ja beinahe die Wahrheit auf den Kopf stellt. Verirrt haben sich andere.“ Anlässlich des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ stellt die Staatsgalerie bis zum September Uhlmans Bilderzyklus „Captivity“, der 1940 während seiner Internierung auf der Isle of Man entstand, im Graphik-Kabinett zum ersten Mal aus.

 

Fred Uhlman wird 1901 in Stuttgart als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren, wächst hier auf, studiert Jura und arbeitet als Anwalt. Im März 1933 flieht er ins Exil nach Frankreich, begegnet in Paris im Café du Dôme Künstlern wie Chirico, Leger und Picasso und entwickelt als Autodidakt, auf Vorschlag von Paul Elsas, dort seine Malerei. 1936 besucht er den Stuttgarter Maler Oscar Zügel in Katalonien und lernt die Engländerin Diana Croft kennen, im selben Jahr heiraten die beiden in London. Mit Gruppen- und ersten Einzelausstellungen in Paris und London wird Uhlman allmählich bekannt, Künstler-Kollegen wie John Heartfield und Kokoschka gehören zu seinem Freundeskreis. In einem Buch über Emigranten und ihre Schicksale („Strangers Everywhere“) handelt ein Kapitel von dem „Maler der Träume“.

 

Nach Ausbruch des 2. Weltkriegs wird Fred Uhlman - wie viele „feindliche Ausländer“ - in ein Internierungslager auf der Isle of Man gebracht, zunächst ins Winterquartier eines Zirkus („Wir schliefen in den Elefanten- und Löwenkäfigen auf Stroh“), dann ins Hutchinson Camp, wo sich ein reges intellektuelles Leben unter den dort festgehaltenen Künstlern, Professoren, Schriftstellern und Musikern entwickelt. Während der sechs Monate dort in Gefangenschaft entstehen mehr als 150 Zeichnungen mit Feder und schwarzer Kreide, zu ihnen gehört der „Captivity“-Zyklus der Staatsgalerie. Die Kuratorin Corinna Höper hat ihn thematisch geordnet, mit zwei „Totentanz“-Darstellungen als surrealem Rahmen. Ein Strich-Skelett hält ein Baby mit Luftballon wie ein Kokon in der Armbeuge, am Ende tanzen zwei Skelette mit einem kleinen Mädchen mit lichtem Luftballon wie befreit. Manchmal wird das Grauen durch Blumen, die aus Grabhügeln und Schäden wachsen, konterkariert.

 

Acht Tage nach Uhlmans Inhaftierung wurde seine Tochter in London geboren, einmal liest man die Widmung „À mon enfant nouveau-né“.. Die Grafikblätter des „Captivity“-Zyklus auf unterschiedlichem Papier im DinA5-Format, zu dieser Ausstellung in großzügigen Passepartouts neu gerahmt, leben von ihrer starken Dramatik der Hell-Dunkel-Kontraste: meist ist die oft nur angedeutete Kindfigur mit Luftballon in mystisches Licht getaucht, der umgebende Raum droht in düsterem Dunkel. Totenschädel, Skelette, Fallschirmjäger, Grabkreuze bevölkern das Thema „Schlachtfeld“, eine andere Bildgruppe nimmt die Institution der katholischen Kirche aufs Korn, deren Riten Uhlman in Spanien kennengelernt hatte. „Lasset die Kindlein zu mir kommen“, ist der Titel eines der tödlich satirischen Zeichnungen, „Fledermäuse“ fliegen im Ornat durch die Luft, als „Vogelscheuchen“ stehen die Priester am Pranger. „Wenn er wiederkäme?“ fragt ein Bild mit dem gefesselten Christus: hatte Uhlman im Gefangenen-Camp, wo er auch Kurt Schwitters begegnete, Dostojewski gelesen? Eines der erschütterndsten Bilder des Zyklus ist die „Landschaft mit Erhängten“, in einer anderen surreal gesteigerten Vision sind nur noch die Aasgeier übrig, die auf Stacheldrähten sitzen. 

 

Zum ersten Mal hat die Staatsgalerie speziell zu dieser Ausstellung eine „Digitale Erzählung“ produziert, die auf der Homepage im Internet unter dem Titel „Im Dunkel ein Leuchten“ abrufbar ist und in der man sich interaktiv durch den Zyklus und die Biografie Uhlmans bewegen kann. Wann die Ausstellung für Besucher geöffnet wird, hängt momentan noch von der Stuttgarter Corona-Inzidenz ab, doch man hofft auf nach Pfingsten. In einer Vitrine des Graphik-Kabinetts liegt ein Exemplar von Uhlmans autobiografischem Buch „The Making of an Englishman“ - mit der Widmung „Der Stadt Stuttgart – trotz allem“. Und ein Foto der Stolpersteine vor seinem elterlichen Haus in der Hölderlinstraße: Fred Uhlmans Vater, Mutter, Schwester wurden in Auschwitz ermordet.

 

 

 

Kaleidoskopisches Leben und Schreiben

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach zeigt die Ausstellung „Laß leuchten! Peter Rühmkorf“

 

            Ein Leben langsam zu Ende führen,

            das keinem Menschen wehtut

            und niemanden etwas angeht,

            Seinen Rechen still durch den Staub ziehn

            Furche um Furche

            Zeile für Zeile Vers um Vers …

 

In diesen Zeilen von Peter Rühmkorf aus seinem 1989 erschienenen Gedichtband „Einmalig wie wir alle“ schwingt Resignation, doch auch das Selbstbewusstsein eines Autors, dessen Leben keineswegs geprägt war von Zurückgezogenheit oder Abgeschiedenheit von den Auseinandersetzungen seiner Zeit. 1929 als unehelicher Sohn einer Pastorentochter und eines Puppenspielers, den er nie kennenlernte, geboren, Flakhelfergeneration, nach dem Krieg erste Gedichte und Gründer des Studentenkabaretts „Die Pestbeule“, erster Lyrikband „Irdisches Vergnügen in g“ 1959, Mitglied der Gruppe 47 und starkes politisches Engagement in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, „Lyrik und Jazz“ in Hamburg und Versuche als Dramatiker, seit den 1980ern und bis zu seinem Tod 2008 mit Gedichtbänden, Essays, Poetikvorlesungen und unzähligen Literaturpreisen etabliert: Peter Rühmkorfs Leben und Werk wird ab 25. Oktober (es wäre sein 91. Geburtstag) im Schiller-Nationalmuseum in Marbach in einer hervorragend präsentierten Ausstellung (bis zum 1. August 2021) gezeigt. 

Die von der Arno-Schmidt-Stiftung konzipierte Schau, die zuerst in Hamburg zu sehen war, ist doch in Marbach am richtigen Ort: der über 600 Kästen umfassende Nachlass dieses Dichters liegt im Deutschen Literaturarchiv, dem Rühmkorf schon zu Lebzeiten den größten Teil als Vorlass vermachte. Beim Betreten des „Raums der Gedichte“, einem im Stil der Sechzigerjahre ausgestatteten Lyrik-Kabinett, begegnet man Rühmkorf mit zehn Beispielen seiner Poesie: auf Glasvitrinen projiziert, aus Worten und Zeilen wachsend. Über Kopfhörer kann man sie gesprochen erleben wie auch interpretiert von Autoren wie Nora Gomringer, Jan Philipp Reemtsma oder Franziska Augstein. Hier wird die Fülle der Themen und Stilmittel, mit denen Rühmkorf umging, deutlich: hoher Ton und Parodie (wie in seinen Umtextungen barocker Lyrik), Alltagssprache und Slang, originelle Wortschöpfungen und Kalauer, Montage von Aktualität und vielschichtiger Aussage. 

„Laß leuchten! Peter Rühmkorf – selbstredend und selbstreimend“ lautet der Titel der Marbacher Ausstellung. In dem Gedicht von 1979, aus dem der Imperativ entlehnt ist, geht der Erinnerungsblick des lyrischen Ich von den Anfängen über die Erregungen zur Mühsal der Jahre: „Alles ist schon son bißchen Schieschie, / nichts geht mehr lustig vonstatten; / wie sich auf einer Beerdigung die / Lebensbäume begatten. / Langsam bis in die Krone verfilzt; Ausfälle nicht mehr zu leugnen…“ Und doch bliebt ein Ziel: „… Dabei weißt du genau, was du willst: / einmal dich richtig ereignen.“ Dies wird im Kuppelsaal des Museums anhand des Entstehungsprozesses seines Gedichts „Selbst III/888“ mit den 695 Blättern von Notizen und Vorstufen demonstriert, die auf einer Wand in der von Rühmkorf vorgesehenen Ordnung aufgereiht sind und mittels eines Touchscreens zu den einzelnen Versen aufgerufen werden können. Man steht quasi mitten in der poetischen Werkstatt des Autors, interaktiv ist auch die „Poetik-Maschine“, an der seine Art zu reimen, seine Ironie und die politischen Prioritäten seiner Lyrik erfahrbar werden. 

In den weiteren Räumen geht es um das prägende Erlebnis des Krieges, seine Ehe mit Eva Rühmkorf und deren Einsatz für eine Humanisierung des Strafvollzugs in Hamburg, sein Verhältnis zu den Frauen, seine Schriftsteller-Freundschaften mit Enzensberger, Grass, Robert Gernhardt und Horst Jannsen, seine Zeit als Lektor beim Rowohlt-Verlag, seine in Filmausschnitten gezeigten Auftritte mit Michael Naura und seinem Jazztrio. Im Umzugsjahr nach Oevelgönne 1967 veröffentlicht Rühmkorf seine Sammlung von Kinder- und Leuteversen mit Essays unter dem Titel „Über das Volksvermögen“: die wird ebenso anschaulich präsentiert wie seine Tagebuchaufzeichnungen der beiden Bände „Tabu“ und wie die von ihm selbst noch eingelesenen Gedichte seines letzten, im Todesjahr 2008 veröffentlichten Lyrikbandes „Paradiesvogelschiß“.  Im Gedicht „All dein Glück wie nie gewesen“, welches auch als eine der poetischen Projektionsfahnen im Lyrik-Kabinett schwebt, lautet die Schlussstrophe:


            Oder du auf deiner Einmannliege,

            nachts, auf dem verrutschten Tuch, 

            wirst du deiner Einzigkeit gewahr – 

            und es wär schon gut, wenn jetzt ein Buch

            über dir zusammenschlüge

            wie ein lichtgesäumtes Flügelpaar.

 

            

            

Wem sonst als Dir

Literaturmuseum der Moderne zeigt „Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“

 

Das Widmungsexemplar des „Hyperion“ an seine Geliebte Susette Gontard mit der ikonografischen Zueignung „Wem sonst als Dir“ ist eines der zahlreichen Exponate aus der Hölderlin-Sammlung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, welche als Teil der Jubiläumsausstellung gezeigt werden. Zu Hölderlins 250. Geburtstag am 20. März sollte die Ausstellung eröffnet werden, doch die Coronavirus-Pandemie kam dazwischen. Nun ist die intellektuell und kreativ anregende Schau mit zweimonatiger Verspätung öffentlich zugänglich, die Ansprache des Bundespräsidenten wird am 23. Mai digital zugespielt.

 

Spielerisch ist - wie bei den Wechselausstellungen des Marbacher LiMo unter der Ägide der Literaturarchiv-Direktorin Sandra Richter und der Museumsleiterin Heike Gfrereis üblich – auch der Zugang für die Besucher. Auf einer Pinwand im Eingangsbereich gegenüber von Hans Magnus Enzensbergers Poesieautomat können sie Erinnerungsworte („Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“) oder Verse aus Hölderlin-Gedichten („heilignüchtern“) anbringen, in einer Tüte können sie während des Rundgangs auf Karten die 36 Wörter aus Hölderlins viel zitiertem Gedicht „Hälfte des Lebens“ einsammeln. Akribisch sind darauf verwandte Wortfelder gezählt, gesammelt und aufgelistet. An zwei Spielautomaten lassen sich die Vokale, Konsonanten, Satzzeichen, Wörter, Zeilen dieses Textes in der Art einer Registerorgel zu Tönen und Klängen kombinieren. In Coronazeiten mit dem obligatorischen Mund-Nasen-Schutz und Gummihandschuhen bewehrt, ist hier wegen der Abstandsregeln allerdings nur ein einziger Besucher zugelassen. 

 

Anders im Hauptraum mit den drei Kapitelreihen zum Thema „Hölderlin lesen“. Hier sind einmal Originalhandschriften chronologisch geordnet, zum zweiten spiegelt sich Hölderlins Werk in seiner lyrischen Rezeption zitathaft vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, und bei „Hölderlin im Labor lesen“ wird mit Augen, Stimme, Pulsschlag, Gestik der Besucher experimentiert, auf Glasflächen projiziert und für ein Forschungsprojekt des Tübinger Leibniz-Instituts aufgezeichnet. 

 

1785 übt sich der 15jährige Hölderlin nach dem Vorbild von Schillers „Räubern“ als nächtlicher Wanderer zwischen „schnaubend Tod“ und „des Mordes Hauf“. Als Maulbronner Klosterschüler orientiert er sich in Freundschaft- und Liebesgedichten an Klopstock und Goethe, als Theologie-Student und Gefährte von Schelling und Hegel im Tübinger Stift besingt er in Hymnen unter dem Eindruck der Französischen Revolution Freiheit, Unsterblichkeit, Kühnheit, Schönheit – und den Genius Griechenlands. Als Hauslehrer kommt er 1796 nach Frankfurt: Susette, die 27jährige Frau des Bankiers Gontard, wird seine Muse und Geliebte. „An Diotima“ ist ein Gedichtentwurf aus der Zeit ihrer erzwungenen Trennung: „ Singen möcht ich von dir / Aber nur Tränen / Und in der Nacht in der ich wandle erlöscht mir dein / Klares Auge! …. Himmlischer Geist.“ Auf der Seite davor hatte Hölderlin notiert: „An. / Elysium. / Dort find ich ja / Zu euch ihr Todesgötter / Dort Diotima … Heroen.“ 

 

Während dieser letzten Jahre des 18. Jahrhunderts schreibt er auch das erste Buch seines „Hyperion“-Romans und erneuert den Mythos Griechenland. Nun entstehen - inspiriert von Metrum, Syntax und Strophenform der antiken Lyriker Sappho und Pindar – die großen Oden wie „Brod und Wein“, „Der Archipelagus“, „Friedensfeier“. Einen großen Raum in dieser chronologischen Auswahl nimmt das Spätwerk jenes anscheinend „umnachteten“ Hölderlin ein, der viele seiner zwischen 1809 und 1843 in der Pflege beim Tübinger Tischlermeister Zimmer am Neckar entstandenen Gedichte „Mit Unterthänigkeit Scardanelli“ signierte.

 

Interessant sind die aus dem Bestand des Marbacher Literaturarchivs ausgestellten Zeugnisse der literarischen Nachwirkung Hölderlins. Sozusagen mit anderen Dichteraugen liest man Hölderlin in Texten Mörikes und Fontanes, Georges und Döblins, Hesses und Trakls, Heideggers, Benns und Ingeborg Bachmanns. Dass und wie Hölderlin im Hitlerreich völkisch und heroisch mißverstanden und instrumentalisiert wurde („Gesang des Deutschen: O heilig Herz der Völker, o Vaterland!“), wird in der Ausstellung nur am Rande behandelt. Für Paul Celan, dessen Eltern 1942 in einem SS-Arbeitslager ermordet wurden und der mit seiner „Todesfuge“ der Auffassung Adornos, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben wäre barbarisch, ein Leuchtzeichen entgegensetzte, ist Hölderlin der „schlechthin Fragmentarische“ und Vorläufer der Moderne. In Celans Werk wetterleuchtet Hölderlins tiefsinniger, bildergesättigter Ton - dekonstruiert und hinterfragt, wie zum Beispiel in seiner „Ars Poetica 62“; die mit den Zeilen beginnt: „Das große Geheimnis – beim Bärlapp, da stands, / auf der Wiesen, / Ich hätte es pflücken können, leicht, mit zwei Zehen / Aber ich hatte zu tun, ich brachte / Hyperion die Sprache bei, / auf die es uns Hymnikern ankam.“ Am Ende des Gedichts nennt Celan das Schatzwort, in dem Hölderlins Poesie aufgehoben scheint: „sinnig“.

 

(Ab 23. Mai im Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs in Marbach a.N.)

Verwirrendes Spiel mit Täuschung und Illusion


Kunstmuseum Stuttgart zeigt OP Art und ihre Geschichte


Der Titel hat etwas Reißerisches und Mehrdeutiges: „Vertigo“ nennt sich die vom Kunstmuseum Stuttgart in Kooperation mit dem Mumok in Wien konzipierte Ausstellung über „Op Art und eine Geschichte des Schwindels“: wer dächte dabei nicht an Alfred Hitchcocks Thriller aus dem Jahr 1958 mit Kim Novak und James Stewart, dessen Tiefenangst schon im „Vertigo“-Trailer durch ein spiralförmig sich drehendes Auge symbolisiert wurde. Schwindelerregend sind auch manche der kinetischen Objekte und Installationen, die auf den drei Ebenen des Kubus im Kunstmuseum zu sehen sind; doch in einer anderen Bedeutung des Vertigo-Komplexes geht es auch um Schwindel, Täuschung, Manipulation beim Genre der Op Art, die ein New Yorker Kritiker bei ihrer Entstehung in den 1960er Jahren definierte als „Bilder, die das Auge attackieren“.

Nicht Inhalte wollen die Künstlerinnen und Künstler der OP Art primär vermitteln, sondern Bildwirkungen auf das Auge des Betrachters, dessen Realitätssinn erweitert oder in Frage gestellt wird. Der Betrachter wird aktiv in die Realisierung des Bildes mit einbezogen: Umberto Eco plädiert in seinem Buch „Opera Aperta – Das offene Kunstwerk“ 1962 für das Unabgeschlossene, Prozesshafte einer Kunst, die erst im Auge des Betrachters fertig wird. Im selben Jahr lässt die Londoner Op-Art-Künstlerin Bridget Riley in „Blaze“ ihre schwarz-weiße Spirale kreisen, in „Cataract“ Wellenlinien strömen – zeichnerische Formen mit dem Potential optischer Illusion wie bei Victor Vasarelys „Zebras“ als Vorläufer aus den 1930er Jahren. Die Ausstellung im Kunstmuseum wirft auch einen Blick zurück bis in die Zeit der Renaissance und des Barock: Piranesis „Gothic Arc“ (1761) entwirft ein kafkaeskes Albtraumgewölbe der „Carceri d’invezione“, der italienische Manierist Parmigiano fertigt 1523 ein Selbstporträt im Konvexspiegel, das nun zwischen Riley und François Morellets „Grillages“ als 3D-Faksimile des Originals aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum (auch eine Täuschung!) mit stechenden Augen und Nase hängt.

Manierismus als Darstellung heftiger Effekte und paradoxer Illusionen in der konkreten Kunst des 20. Jahrhunderts äußert sich in der Op Art in vibrierenden geometrischen Mustern, optischen Kippeffekten oder verzerrten Rastern. Hinzu kommt bei vielen installativen Objekten und Rauminstallationen die Wirkung des Lichts. Auratisch sind Julio Le Parcs Spiegelungen eines hängenden Objekts auf der halbrunden Wand („Lumière en Mouvement“), ihr Spiel mit der räumlichen Illusion treiben Gabriele Devecchis „Ambiente“ – ein weißer Kubus mit beweglichen Lichtschienen - oder Aleksandar Smecs „Luminoplastika“-Relief . In dem „Laserraum“ von Adolf Luther, einer die Blackbox mit roten Linien kreuz und quer  durchdringenden Installation, muss man sich erst einmal zurechtfinden, und aus dem begehbaren Mini-Labyrinth von Giovanni Anceschis „Raum mit Lichtschocks“ kommt man nicht ohne Vertigo=Schwindel  wieder heraus.

Einer der Hauptvertreter der Op Art war der Mailänder Künstler Gianni Colombo. Bei der 1967er Biennale in Venedig erhielt er für seinen „Spazio elastico“ den Großen Preis, im Hauptraum des Kubus wird nun eine exakte Rekonstruktion der vierteiligen kinetischen Installation gezeigt. Man betritt das totale Schwarz des ersten der vier Environments und begegnet einem momentan aufflackernden Lichtkreis und Quadrat, kommt in sich drehende Gitterstrukturen, findet sich in einem filigranen  Netz von ultraviolettem Licht angestrahlten Nylonfäden und kommt zum Schluss in einen Ruhe ausstrahlenden Kubus mit rot/blau wechselndem Licht, auf dessen Wänden die Fäden in geometrischen Mustern angeordnet sind. Die Ausstellung umfasst etwa 100 Bilder, Reliefs, kinetische Objekte und Installationen sowie computergenerierte Kunst. In einem „Mitmach-Labor“ können Besucher unter Anleitung von Mitarbeitern des Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart optische Experimente durchführen, im Begleitprogramm der Ausstellung gibt es Vorträge. Workshops und ein „Vertigo-Theater“ auf der Basis des Drehbuchs des Hitchcock-Films.

Info: Die Ausstellung „Vertigo – Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520-1970“ wird bis zum 19. April 2020 im Kunstmuseum gezeigt.

 

Faszination einer indigenen Kultur


„Azteken“ als Große Landesausstellung im Lindenmuseum


500 Jahre nach der Eroberung des Reiches der Mexica durch die Spanier zeigt das Lindenmuseum für Völkerkunde die großartige Ausstellung „Azteken“ in Kooperation mit dem Nationalmuseum für Weltkulturen in den Niederlanden und dem Institut für Anthropologie und Geschichte in Mexico. Die 150 hochkarätigen Leihgaben aus mexikanischen und europäischen Museen sind auf höchst anschauliche und spannende Weise präsentiert, aus der Sammlung des Lindenmuseums stammen die Grünsteinskulptur des Schöpfergottes Quetzalcoatl und zwei ornamentale Federschilde aus dem 15. und  16. Jahrhundert.  Der Rundgang durch die audiovisuell belebten Ausstellungsräume vermittelt einen vielfältigen Eindruck der Kultur und Gesellschaft dieses Volkes, dessen Hauptstadt Tenochtitlan im Jahr 1519 am Ende der Regierungszeit Moctezumas II. circa 150.000 Bewohner hatte.

„Um von der Größe, den seltsamen und wunderbaren Dingen dieser großen Stadt und von den Riten und Bräuchen Rechenschaft abzulegen“, schrieb der Eroberer Hernán Cortéz an Kaiser Karl V., könne man dies kaum mit dem Verstand erfassen. Die Metropole auf der Insel im Texcoco-See, geometrisch angelegt und mit dem heiligen Tempelbezirk in der Mitte, muss den Spaniern wie ein sagenhaftes Atlantis erschienen sein. Deren Eroberung gelang nur mit Hilfe umliegender Stadtstaaten, die den „Azteken“ tributpflichtig waren. Der Name wurde erst Jahrhunderte später von den Europäern hergeleitet vom mythischen Ursprungsort Aztlan, die indigenen Bewohner selbst nannten sich „Mexica“. Zur Einstimmung steht der Besucher vor einem wandhohen Videoscreen, auf dem Bilder vom heutigen Mexico-City wechseln mit zeitgenössischen Darstellungen. In einem Codex aus der frühen Kolonialzeit ist in Bilderhandschrift die Eroberung des aztekischen Imperiums dokumentiert.

Der Schöpfungsmythos mit dem männlich-weiblichen Ursprungsgötterpaar, von dem die vielen anderen Götter, alle Lebewesen und das Universum erschaffen wurden, wird anhand einer 3-D-Replik des dreieinhalb Meter Durchmesser umfassenden Sonnensteins als virtuelle Geschichte erzählt. Aus dem Geburtsort von Sonne und Mond Teotihuacan stammt die zwischen 250 und 750 n.Chr. entstandene Grünsteinfigur mit Kalenderzeichen, welche den Tag der Geburt des Schutzgottes Huitzilopochtli symbolisieren. Aus vulkanischem Tuffgestein ist der Sonnengott Tonatiuh gebildet, ein steinernes Rohrbündel markiert die Zeremonie der Schilfrohre, die alle  52 Jahre, wenn der Ritualkalender (260 Tage) und der Sonnenkalender (360 Tage) zusammentrafen, verbrannt wurden. Reliefplatten zeigen den Wassergott Tlaloc und die Quellgöttin Chalchiuhtlicue – beide lebenswichtig für die Bevölkerung, die für die Fruchtbarkeit und Erhaltung der Lebensgrundlagen verehrt und denen zum Schutz gegen Überschwemmungen und Dürren geopfert wurde.

Etwa 50 Stadtstaaten konkurrierten politisch und ökonomisch im dicht besiedelten Hochtal von Mexico. Von der hoch entwickelten Gesellschaft und Alltagskultur der Azteken im 15. Jahrhundert erzählen viele der Keramikfiguren, Gebrauchs- und Schmuckgegenstände der Ausstellung. In den Hauptstädten scharte sich die Elite um einen Tempel, Palast und Markplatz, die Bewohner waren in Familiengruppen (calpulli) organisiert, unter den Handwerkern hatten die Steinmetzen einen besonderen Rang vor den Goldschmieden, Mosaikkünstlern, Bildhauern und Federkünstlern. Goldschmuck wie Lippen- und Ohrenpflöcke, Halsketten und Armbänder zu tragen war ein Privileg der Adligen. Schmuckstücke in Form eines Herzens wurden aus Gold und Jade als Opfergaben hergestellt. Obsidianklingen zeugen von der kriegerischen Tradition der Azteken. Ein aus dem Berg gehauener, steinerner Adlerkopf symbolisiert die aufgehende Sonne, eine Vogelkopfmaske mit Türkismosaiken könnte zum Kostüm eines Priesters des Windgotts Ehecatl gehört haben. Erstmals gezeigt werden auch Funde von jüngsten Ausgrabungen aus dem Templo Mayor des archäologischen Felds im Zentrum von Mexico City.

 

 Über die vielgestaltigen Facetten des Humors


„Lachen. Kabarett“ als Sonderausstellung im Literaturmuseum der Moderne


„Wer lacht hier, hat gelacht? / Hier hat sich’s ausgelacht. / Wer hier lacht, macht Verdacht, / dass er aus Gründen lacht.“ Das „Kinderlied“ von Günter Grass thematisiert das Lachen unter einem Aspekt, der auch in der neuen Ausstellung im Marbacher Literaturmuseum der Moderne eine wichtige Rolle spielt. Lachen ist nicht per se Amüsement und schon gar nicht vorwiegend schenkelklopfende Belustigung. In Krisenzeiten wird viel gelacht, auch im politischen Kabarett, und der Witz hat besonders in totalitären System Konjunktur. All das ist Teil der von Heike Gfrereis, Anna Kinder und Sandra Richter kuratierten Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs, die morgen eröffnet wird und bis zum 15. September dauert. Und noch viel mehr: Mit „Lachen. Kabarett“ unternimmt das erste Projekt eines Fünfjahreszyklus unter dem Titel „#LiteraturBewegt“ den Versuch, alle möglichen Spielarten des Komischen auf spielerisch-originelle Art zu präsentieren. Mitarbeiter des DLA und befreundeter Archive haben eine Fülle von Material gesammelt, welches in sechs Räumen des LiMo in 15 „Stationen‘“ interaktiv präsentiert wird. Das Mitmachen der Besucher ist ein ganz wesentlicher Impuls dieser Ausstellung.

Das beginnt mit der „Lachbox“, wo sich jeder Besucher sein eigenes Foto mit zugehörigem Witz aus dem Archiv zum Mitnehmen ausdrucken kann und führt, eine Treppe tiefer, in den ersten Spielraum, wo auf runden weißen Tischplatten ein Memory der zahllosen Lach-Arten ausgelegt ist, vom Lächeln, Grinsen, Frotzeln, Greinen und Kichern bis zum Quietschen, Kugeln, Brüllen und so weiter. Auf der Rückseite der Karten illustriert jeweils ein Foto den Lachtyp, es darf gedreht und gewendet werden. „loch so loch doch“ fordert eine kreisrunde Projektion im größten Ausstellungsraum den Betrachter auf – es ist einer von neun Overhead-Projektoren, die auf langen weißen Tischen installiert sind, der den Jandl-Vers an die Wand wirft, daneben liegt jeweils ein Schuber mit weiteren, mit Erläuterungen versehenen Folien, die vom Publikum aufgelegt und ausgetauscht werden können, so dass dieser Raum zum lebendigen Wechselarchiv wird. Verstreut auf den Tischen weisen kleine Handzettel auf die Fülle des Materials hin, das hier vom Besucher via Projektion entdeckt werden kann.


Von Schillers Handzeichnung mit Kopfstand auf schräger Ebene über Klecksbilder von Justinus Kerner und Smilies von Mörike geht es zu Morgensterns Hufeisengedichtsammlung mit grinsendem Totenkopf und Henkersbeil, „Überbrettl“-Karikaturen aus dem Simplizissimus, einem Programmheft der „Elf Scharfrichter“ als erstem politischen Kabarett um 1900 in Deutschland, Tucholskys „Zippi“, Hesses  Notizen zum „Steppenwolf“, dessen Harry Haller im magischen Theater das Lachen lernt, zur „Großen Hure Baylon“ in Döblins „Berlin Alexanderplatz“, zu Marlene Dietrich und dem „Blauen Engel“, Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“, Flüsterwitzen während der Nazizeit , Brechts Selbstverteidigung 1947 vor dem McCarthy-Untersuchungsausschuss wegen unamerikanischer Umtriebe, einer Seite aus Robert Gernhardts Brunnenheften, und und und. 250 Folien sind vom Literaturarchiv-Team vorbereitet, das Ausstellungskonzept ist auch noch für Ergänzungen offen.


Erich Kästner hat einmal geurteilt: „Die deutsche Literatur ist einäugig. Das lachende Auge fehlt.“ Sein eigenes Werk gilt dafür das Gegenbeispiel, er selbst ist gleich am Eingang neben der Fotostation mit einem Witz zitiert: „Ein Lehrer gibt das Thema zu einem Klassenaufsatz: Hätte sich Werther auch im Dritten Reich erschossen? Der kleine Fritz gibt schon nach fünf Minuten sein Heft ab. Was hat er geschrieben: Nein, aber Goethe!“ Wann lacht das Publikum? Wann lacht der Autor selber? Anhand von Kabarett-Aufnahmen haben sich die Ausstellungsmacher diese Fragen gestellt, in Kassettenrekordern kann man dazu Beispiele aus Live-Kabaretts anhören. In Filmszenen von Billy Wilder bis Heinz Erhardt, die wiederum auf weiße Tischflächen projiziert werden und denen man mit Hilfe von Pappbechern am Ohr akustisch folgen kann, wird Lachen provoziert. Und im Ausschnitt einer Podiumsdiskussion mit Kunsttheoretikern fragt Joseph Beuys: „Warum sollen wir denn nicht mehr lachen? Wollen Sie das Lachen ausmerzen? Wollen Sie die Belustigung ausmerzen? Wollen Sie denn eine Revolution ohne Lachen machen?“

 

In dieser „Improvisationsausstellung“ findet der Besucher Material zuhauf, ein Marbacher Magazin dazu ist im Entstehen, soll sich aber erst fortschreiben bis zum Ende im September. Es gibt eine Reihe von Begleitveranstaltungen, so zum Beispiel zweimal „Musikalisches Lachkabinett“ mit Kabarettszenen und Brettl-Liedern, oder ein „Kinder-Lachlabor“ als Sommerferien-Workshop Ende Juli. „Wild denken“ im Sinne von Hegel, kreuz und quer denken hatten sich die Ausstellungsmacherinnen vorgenommen. Eine lebendige, zum Mitmachen und Entdeckungen machen anregende Schau ohne sperrigen Überbau ist dabei herausgekommen.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 17. Mai 2019)

Eine Kulturgeschichte mit Klinge und Knauf

 

Das Württembergische Landesmuseum zeigt „Faszination Schwert“ im Alten Schloss

 

Tödliche Waffe, Zeichen der Gewalt, Symbol der Macht und der Gerechtigkeit, Kult- und Prestigeobjekt: Das Schwert spielt seit jeher im Leben der Völker eine vielseitige Rolle. Mit seiner Sonderausstellung „Faszination Schwert“ zeigt das Württembergische Landesmuseum dessen Geschichte von den Anfängen im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung bis zu seiner heutigen Verwendung in Filmserien und Computerspielen. In einer multimedialen, sehr anregenden und abwechslungsreichen Schau präsentiert das Museum im Alten Schloss über 300 Objekte in neun thematisch gegliederten Räumen.

 

In Mitteleuropa verbreitet sich das Schwert während der Bronzezeit mit der Technik des Flüssiggusses, in der Eisenzeit als Schmiedeschwert. In einer Vitrine im Eingangsbereich wird als seltener Fund eine Gussform aus Neckargartach bei Heilbronn präsentiert, ein Ausschnitt aus dem „Nibelungen“-Stummfilm von Fritz Lang zeigt Siegfried beim Schmieden seines Schwerts Nothung. Aus seinem Eigenbestand von über 1500 Exemplaren und mit Leihgaben zeigt das Landesmuseum, wie sich aus Vollgriffdolchen Hieb- und Stoßwaffen entwickeln, zum Beispiel das römische „Gladius“-Kurzschwert oder der „Gassenhauer“, ein Hiebschwert aus dem späten Mittelalter. In einem auf Wandhöhe vergrößerten, bebilderten Traktat von 1520 heißt es: „Mit den Schlachtschwertern halten wir drauff / Do wurde geschlagen unser hauff / Und die feinde wollten uns beschemen / Einprechen und das fenlein nehmen / Erst hauwen wir mit freuden drein / Das fenlein wird beschutzen sein.“

 

Als Statussymbol wird Graf Eberhard im Bart 1495 von König Maximilian I. auf dem Reichstag zu Worms ein kostbares Schwert zum Zeichen seiner Herzogwürde überreicht – auch dieses Objekt ist im Landesmuseum ausgestellt, und wenn man im Hof des Alten Schlosses das Reiterdenkmal des württembergischen Herrschers betrachtet, weist auch das in der erhobenen Hand geschwungene Schwert auf dessen symbolische Bedeutung. In dem mit der Fototapete einer englischen Königskapelle geschmückten Nebenraum kann sich der Besucher interaktiv zum Ritter schlagen lassen.

 

Religion, Magie und Mythologie sind Themen, die im nächsten Ausstellungskapitel abgehandelt werden, unter anderem der Mithras-Kult oder Funde von Schwertern, die als Opfergabe in Gewässern als Übergang zu einer Anderwelt niedergelegt wurden. Ganze Heeresausrüstungen besiegter Gegner wurden im heutigen Dänemark in Seen deponiert. An die Artus-Sage, Merlin den Zauberer und das Schwert Excalibur erinnern Abbildungen, bei den gezeigten Schwertern deuten Spiralknaufe und andere astrale Symbole auf den Bezug zu Kult und Religion. Auch christliche Heiligenfiguren werden mit dem Schwert in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel eine Statue des Erzengels Michael  oder das Flammenschwert als himmlische Waffe. Im Gegensatz zu solchen jenseitigen Sphären steht die Dokumentation von Kampfverletzungen: ein gespaltener Schädel, oder eine illuminierte Handschrift aus dem Codex Manesse, in der ein Ritter dem andern den Kopf im Helm abschlägt.

 

Als Teil nationaler und völkischer Propaganda erscheint das Schwert, nachdem es als Waffe der Krieger ausgedient hat, im 19. Jahrhundert in monumentalen Denkmälern Bismarcks oder des Cheruskerfürsten Arminius im Teutoburger Wald. Hitler ist als „Schmied des deutschen Volkes“ verewigt, eine andere Abbildung zeigt die Bronzeskulptur „Schwerter zu Pflugscharen“ des sowjetischen Künstlers Jewgeni Wutschetisch vor dem UNO-Gebäude in New York. Dass Schwerter nicht nur Männersache sind, wird in einem Raum mit „Helden und Heldinnen“ demonstriert, in dem gegenüber einer antiken Trinkschale mit Theseus und dem Minotaurus und Siegfried dem Drachentöter auch Figuren wie Judith mit dem Haupt des Holofernes, die Rächerin Brünhild oder Jeanne d’Arc als Retterin zugegen sind. Von Robin Hood bis zu Harry Potter, von den Yedi-Rittern bis zum „Game of Thrones“ reicht schließlich die in Plakaten, Repliken und Video-Szenen dokumentierte Welt der Popkultur, in der Schwerter, ob aus Stahl oder mit Laserkraft, eine Rolle spielen.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 16. Oktober 2018)

 

 

 

Vom Außer-sich-Sein

Kunstmuseum Stuttgart zeigt „Ekstase“ im Kubus am Schlossplatz

 

André Massons surreal-abstrakte Bronzeskulptur mit dem auch für die Stuttgarter Ausstellung titelgebenden Begriff „Ekstase“ ist eines der hochkarätigen Objekte, die im Kubus des Kunstmuseums eine reichhaltige und beziehungsvolle Entwicklungsgeschichte dieses Ausnahmezustands künstlerisch abbilden. Vom antiken Dionysoskult, der noch bis in die Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts thematisiert wird, bis zur drogeninduzierten Bewusstseinserweiterung kreativer Prozesse in der Gegenwartskunst geht die Schau, die das Thema mit rund 230 Werken von über 70 Künstlern von der Renaissance bis zur Moderne aufblättert.

 

Ob Bacchanal in der Hochrenaissance, „Schlafende Bacchantin“ als lustvoll hingestreckter weiblicher  Akt oder Franz von Stucks „Bacchantenzug“: die Riten der von Raserei ergriffenen Mänaden beflügeln die Phantasie der Maler und Betrachter. Eine ganz andere Art von Außer-sich-Sein spiegelt sich in Berninis Kopfstudie zur Skulptur der Hl. Theresa von 1646, die im Kunstmuseum im Raum der „Religiösen Ekstasen“ hinter einem Vorhang gezeigt wird. Die verzückt nach oben gerichteten Augen einer jungen Frau in Jean Benners „L’Extase“ (1896) oder in Charles LeBruns Kreidezeichnung „Le Ravissement“ sind eindeutige Zeichen. Ein eigener Raum der Ausstellung ist dem afrobrasilianischen  Candomblé gewidmet, mit Installationen des Brasilianers Ayrson Heráclito, selbst auch Priester dieses Kults. In die Welt der Schamanen als weiterer spiritueller Praxis führen die 50 Prints des litauischen Fotografen Algirdas Seskus, während Marina Abramovics Video „Freeing the Body“ die tänzerische Wildheit eines nackten Frauenkörpers dokumentiert. Pablo Amaringos Aquarelle versetzen dagegen rituelle Zeremonien mit den Mitteln naiv dekorativer Malerei in die surreale Szenerie des brasilianischen Regenwalds.

 

Dan Grahams Videoinstallation „Rock My Religion“ und Mark Leckeys „Fiorucci Made Me Hardcore“ reflektieren die Jugendkultur der Hippies und ihrer Nachfolgegenerationen, eine raumhohe Fotografie der 25000 Fans der „Gelben Wand“ im Dortmunder Fußballstadion verweist auf die ekstatischen Massenphänomene des Sports. Bilder von Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde und Ferdinand Hodler zeigen die entgrenzende Wirkung des Tanzes, inspiriert von  Ausdruckstänzerinnen wie Isadora Duncan, Mary Wigman oder Gret Palucca. Das Ganzkörperporträt Anita Berbers von Otto Dix, eines der Schmuckstücke aus dem eigenen Museumsbestand, darf hier natürlich nicht fehlen. Madam d’Ora hat die Tänzerin 1922 in dem Stück „Cocain“ fotografisch festgehalten. Drogen, Rausch und Liebesekstasen sind weitere Aspekte, die in teils provokativen, teils poetisch verschlüsselten Fotoserien, Grafiken und Videostills präsentiert werden. Mit der frei im Raum schwebenden Goldbronze-Skulptur „Arch of Hysteria“ von Louise Bourgeois hat die Ausstellung einen exzentrisch vieldeutigen Höhepunkt, bevor der Betrachter auf der dritten Ebene des Kubus ins „Dream House“ von La Monte Young und Marian Zazeela eintaucht: eine Klang- und Lichtinstallation von magischer Wirkung.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 29. September 2018)

 

Teufelstraum und Bilderspektakel


Arrigo Boitos „Mefistofele“ musikalisch überzeugend und szenisch zweifelhaft in der Staatsoper


Grandiose Riesenchöre, ein mit brachialen Fortissimi und glühenden Farben aufspielendes Staatsorchester unter der Leitung des Mailänder Dirigenten Daniele Callegari, , drei sängerisch überragende Solisten in den Hauptrollen, in einer Inszenierung, deren Konzept jedoch nicht aufgeht: der Premierenapplaus am Ende des dreistündigen „Mefistofele“ von Arrigo Boito konzentrierte sich auf die Mitwirkenden auf der Bühne und im Orchestergraben – das Regieteam um Àlex Ollé von der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus war schon weitergezogen zu seiner nächsten Arbeit mit Puccins „Turandot“ in Tokio.

Àlex Ollé hat sich schon mehrfach mit dem Faust-Stoff auf der Bühne auseinandergesetzt: als multimediales Theaterspektakel von Fura dels Baus in F@ust3.0, bei den Salzburger Festspielen mit „Fausts Verdammnis“ von Hector Berlioz 1997, zuletzt mit Gounods „Faust“-Oper. Nun also – zuerst 2018 an der Opéra National de Lyon, nun im Stuttgarter Opernhaus – mit Fausts Gegenspieler Mephistopheles als Hauptfigur. Arrigo Boito, der für Verdi später die tollen Shakespeare-Libretti für „Otello“ und „Falstaff“ verfasste, war  zunächst in seiner Doppelbegabung als Komponist und Textdichter an Goethes Schauspiel-Tragödie von „Faust I“ und „Faust II“ vor allem interessiert unter dem Aspekt des Bösen in der Welt ( Boito plante auch eine „Nero“-Oper!) und brachte als 25jähriger in Mailand seine Urfassung des „Mefistofele“ auf die Bühne – ein Flop, dem er 1875 eine Zweitfassung folgen ließ.  Diese konzentriert sich, mit dem „Prolog im Himmel“ und dem Epilog von Fausts Tod, auf acht zentrale Szenen, in denen nicht der nach Erkenntnis und Übermenschentum strebende Faust, sondern der mit Gott eine Wette eingehende Teufel die Hauptrolle spielt.


Musikalisch ist Boitos „Mefistofele“  ein hochinteressantes Werk mit Einflüssen von Verdi und Wagner. Schon am Ende des Prologs verkündet der Gegenspieler Gottes sein nihilistisches Credo vom Menschen als unnützem Ungeziefer und „anmaßendem Atom“, doch hat das natürlich nicht die grauenerregende psychologische Tiefe der vergleichbaren Szene mit Jago im ersten „Otello“-Akt. Von monumentaler Durchschlagskraft sind dagegen die Chöre, welche die Inszenierung im Prolog als himmlische Heerscharen aufmarschieren lässt; dazu intoniert das Staatsorchester mit wagnerischer Wucht, und die Bühne von Alfons Flores bewegt sich wie von teuflischer Magie gesteuert. Wo zu Beginn in gleißendem Licht ein Heer von Laboranten an drei Dutzend Seziertischen in Reih und Glied sich an Herzklumpen zu schaffen machen, fährt die Realebene an Stahlseilen nach oben und gibt einen Höllenschlund frei, in dem Mefistofele ein paar Kinder-Cherubin die Kehle durchschneidet, wonach ihm von einem Engelspulk das Herz aus der Brust geschnitten wird. Das steht zwar nicht im Libretto, aber Ollé braucht es, um sein Regiekonzept vom Psychopathen Mephisto in Gang zu setzen, in dessen Wahnvorstellungen die Geschichte von Faust, Margarete und Helena wie eine filmische Rückblende abgespult wird.


Mika Kares, der als bassschwarz stimmmächtige und nuanciert eloquente Titelfigur brilliert, ist darstellerisch in dieser Festlegung sichtlich gehemmt. Wenn er sich in der Büroparty („Osterspaziergang“) aus seiner gelben Putzmontur geschält hat, ist er für Faust (der helltenorale Antonello Palombi) kein dämonischer Verführer, noch weniger in der Walpurgisnacht unter der Disco-Kugel ein Höllenfürst. Unbeteiligt sitzt er auf seinem Thron – auch hier leistet das Bühnenbild mit seinen herabschwebenden Treppengerüsten wieder Außerordentliches – während sich der Hexensabbat im schummrigen Rotlicht als ödes Disco-Gewusel darbietet. Interessanter wird er dann als Margaretes Kompagnon in der Kerkerszene und während der Klassischen Walpurgisnacht, die Ollé wieder auf den Revuetreppen inszeniert. Hier ist die Sopranistin Olga Busuic, wie schon zuvor in ihrer mit starkem Volumen überzeugenden Margherita, als Elena das sängerische Zentrum der Aufführung.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 18. Juni 2019)

 

 

Abglanz mit Beethoven


Maurizio Pollini im Meisterpianisten-Zyklus der SKS Russ


Die Erwartungen waren groß, denn Konzerte mit dem italienischen Meisterpianisten Maurizio Pollini sind ein Ereignis. Man wusste in den letzten Jahren vorher nie genau, ob er auch am vorgesehenen Termin wirklich auftreten würde, doch nun ist er da im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle. Und offensichtlich munter und guter Dinge, wie der 77jährige zum Fabbrini-Steinway strebt. Kaum sitzt er auf dem Klavierhocker, schon ist er mitten drin im Vivace-Kopfsatz von Beethovens op. 109. Wie improvisatorisch wirkt sein Einstieg, sein unwillkürliches Mitsummen nimmt man eher amüsiert wahr, dass er das „attacca“ folgende Prestissimo mehr in einem Höllentempo abspult als gestaltet, ist schon gravierender. Auch die von Beethoven als „Gesangvoll, mit innigster Empfindung“ bezeichneten Andante-Variationen sind von drängender Unruhe erfüllt: man hat fast den Eindruck, Pollini wolle sich selbst voraus oder davon eilen.


Maurizio Pollini, eminenter Chopin- und Debussy-Interpret und zugleich pianistischer Fackelträger der Moderne, hat auch Beethoven seit dem Ende der 1960er Jahre immer wieder interpretiert,  dokumentiert in Gesamt- und Einzelaufnahmen der Sonaten auf Schallplatte und CD. Die letzten drei Sonaten Beethovens zusammen in einem Konzert, das könnte ein glanzvoller Abend sein. Doch es ist nur ein Abglanz von Pollinis pianistischer Meisterschaft. In der As-Dur-Sonate op. 110 staunt man über die Leichtigkeit seiner Läufe, die klangliche Wärme, den wild strömenden Fluss der Doppelfuge. Am extremsten sind die Unterschiede in Pollinis Wiedergabe von Beethovens letzter Sonate op. 111. Hastig, verhudelt, ein gewaltiger Trümmerhaufen das Maestoso-Allegro („mit Feuer und Leidenschaft“), doch ein spätes Wunder danach die Arietta mit ihren Variationen: ungestüm rockt er sich durch die dritte, impressionistisch lässt er die glitzernden Triolenketten verschweben, entfaltet orchestrale Wirkungen von ungeheurer klanglicher Dichte vor dem Abgesang im Verlöschen der letzten Akkorde. Berührend.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 23. Mai 2019)

Orientalischer Spirit


Das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra in der Liederhalle

 

Auf dem Weg ins Amsterdamer Concertgebouw und das Pariser Théâtre des Champs Élysées hat das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra auf seiner Europatournee in der Stuttgarter Liederhalle Station gemacht. Das „BIPO“, seit 2009 vom Wiener Dirigenten Sascha Goetzel geleitet, steht aufgrund seiner finanziellen Trägerschaft durch den türkischen Industriekonzern, den es in seinem Namen trägt, auf sicheren Füßen – anders als manche Sinfonieorchester in der Türkei, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Mit einem Programm, das den orientalischen Spirit des Orchesters auf eindrucksvolle Weise ins Spiel brachte, begeisterte das Istanbuler Orchester die Zuhörer im gut besuchten Beethovensaal in der SKS-Reihe „Faszination Musik“.

 

Als „Fantasie orientale“ für Klavier hat der russische Komponist Milij Balakirew 1869 sein Stück mit dem Titel „Islamey“ komponiert, welches später für Orchester bearbeitet wurde. Sascha Goetzel entfaltet die von den Volkstänzen des Kaukasus inspirierte rhythmische Spannung und das lyrische Thema des Liebeslieds der Krimtataren im Mittelteil kontrastreich, das „Presto furioso“ als Schluss ist äußerst effektvoll musiziert. Grandios und in allen Details temperamentvoll dargeboten ist Rimskij-Korsakows sinfonische Suite „Scheherazade“: mit einer einfühlsamen Konzertmeisterin als Erzählerin auf der Violine und brillanten Orchester-Tableaus mit rauschendem „Meer und Sindbads Schiff“, gefühlvollen Geschichten vom Prinzen Kalender und Prinz und Prinzessin, sprühendem Fest und hochdramatischem Schiffbruch am Magnetberg. Die kurzen Intermezzi von Oud und Kanun zwischen den Sätzen verstärken noch das orientalische Flair, und nach der türkischen Rhapsodie „Köcekce“ von Ulvi Cemal Erkin als Zugabe jubelt das Publikum ausgiebig.

 

Der Geiger Daniel Hope war der Solist im selten gehörten „Symposion“ für Violine, Streichorchester, Harfe und Schlagzeug von Leonard Bernstein. Inspiriert von Platons Dialogen charakterisiert Bernstein die verschiedenen Auffassungen der Liebe, personifiziert in den betörenden Kantilenen des Phaidros und kapriziösen Einwürfen des Pausanias, den theatralischen Posen von Aristophanes, dem melodiösen Adagio des Agathon, und schließlich bei Sokrates dem mit Glockenschlägen eingeleiteten Dialog von Solovioline und Solocello, der beim Auftritt des betrunkenen Alkibiades und seiner Freunde in einem jazzigen Bluesrhythmus ausschwingt. Auch hier gab es für Hopes Virtuosität und die Spielfreude des Orchesters großen Applaus.

 


Die Donaueschinger Musiktage zwischen Konvention und Experiment

 

Es sind nur noch drei Jahre, dann können die Donaueschinger Musiktage ihr 100jähriges Jubiläum feiern. Sie sind nicht nur das älteste Festival für Neue Musik weltweit, sondern gelten auch als eines der bedeutendsten. 22 Uraufführungen in zehn ausverkauften Konzertsälen und Sporthallen vom Freitagabend bis zum Sonntag – das ergab auch in diesem Jahr ein vielfältiges Spektrum an musikalischen Formen und Experimenten: besonders der Samstag ist mit allein fünf verschiedenen Programmen, die zum Teil parallel zu einander laufen, eine Herausforderung auch für die Zuhörer, die zumeist alle Veranstaltungen zusammen gebucht haben. Man – das sind eine große Anzahl der Avantgarde-Komponisten, viele Insider und Neue-Musik-Enthusiasten – begegnet und trifft sich immer wieder. Und wenn der sprichwörtlich goldene Oktober wie in diesem Jahr das Baar-Hochland um die Donauquelle wärmt, sind auch die Spaziergänge zu den Klanginstallationen im Park an der Brigach ein Vergnügen.

 

Festivalleiter Björn Gottstein hat das diesjährige Programm unter verschiedenen Aspekten zusammengestellt. Da ist zunächst der keineswegs nostalgische Blick auf historisch bedeutsame Instrumente: am Eröffnungsabend spielte der Klarinettist Michele Marelli das Konzert für verstärktes Bassetthorn und Orchester von Ivan Fedele. Das von Mozart für sein Solokonzert verwendete, damals neuartige Instrument wird von dem 65jährigen Italiener in seinem „Air on Air“ betitelten Stück recht konventionell eingesetzt, das SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Pascal Rophé gab dazu den ohrenfreundlichen Begleitsound. Ganz anders Oscar Strasnoys Konzert für Viola d’amore mit dem Ensemble Modern: Für den argentinischen Komponisten bedeutet Polyphonie die Summe aller Geräusche und Klänge, die ihm ins Bewusstsein kommen, und so beginnt sein Stück mit dem elektronischen Plip-Plop von Tennisbällen und dem Gestöhn der Spieler, was sich sogleich in instrumentale Aktionen überträgt. Im Mittelteil scheint Strasnoy Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“ im Bläserchoral zu zitieren, dann begibt sich der Solist Garth Knox in einer langen Kadenz in das Herz der Klänge, und mit der Wiederkehr des Plip-Plop ist man zurück in der Realität.

 

Manipulation und Gewalt, Polarisierung der Gesellschaft und Möglichkeiten der Verständigung zwischen Individuum und Gesellschaft waren ein thematischer Schwerpunkt im Programm der diesjährigen Musiktage. Zwei Komponistinnen lieferten hierzu kontrovers aufgenommene Uraufführungen: Isabel Mundry mit ihren sprechakt-chorisch angelegten Stücken „Mouhanad“ und „Hey!“, die Schwedin Malin Bång mit ihrem Orchesterwerk „Splinters of ebullient rebellion“. Hier stehen sich zunächst zwei Orchesterblöcke unversöhnlich gegenüber, allmählich kommt es zu Berührungen und Verschränkungen, Reminiszenzen alter Freiheitslieder und das Geklapper von zwei Schreibmaschinen als Symbol individueller Argumentation brechen die Konfrontation auf. Das ist auch handwerklich eine spannende Komposition, während bei Mundry die Verarbeitung eines Flüchtlingsinterviews und der Mitschnitt eines Dialogs mit dem flüchtigen Attentäter von München 2016 doch zu textlastig bleiben. Das SWR Vokalensemble und die Neuen Vocalsolisten Stuttgart waren sängerisch wenig gefordert. Ganz unpolitisch nimmt dagegen Brigitta Muntendorf in ihrem „Ballett für Eleven“ den Kulturbetrieb auf die Schippe: ein Paar spaziert in Videoprojektion durch einen Nebelwald, elektronisch hämmert der Specht und zwitschern die Vögel, dann treten die elf Musiker und ihr Dirigent Bas Wiegers als Pilzköpfe mit Silberperücken virtuell grinsend auf der Leinwand und als Weiße-Rosen-Kavaliere mit Partnerinnen aus dem Publikum in Erscheinung und produzieren am Ende auch noch etwas rockige Musik. Auch das wurde freundlich beklatscht vom Publikum.

 

Roboter und Entenmarsch

 

Performance ist ein Schlüsselwort für die Aufführung Neuer Musik vor Publikum. Das wurde auch bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen wieder deutlich, wobei die Bandbreite zwischen musiktheatralischer Aktion und multimedialer Show bis zu Klanginstallationen und mehr oder weniger gelungenem Happening riesig ist. Zum Thema Mensch und Maschine bot „Thinking Things“ von Georges Aperghis eine äußerst witzige, geistreiche Lehrstunde „für vier Performer, robotische Erweiterungen, Video, Licht und Elektronik“. In einer Bühnenfassade mit vielen Fenstern und Screens mischen sich Absurdes Theater à la Beckett, Dialogfetzen und Computermusik, bewegliche Köpfe und Gliedmaßen, gefilmte Gesichter und vier lebendige Darsteller zu einem kaleidoskopartigen Panorama unserer digitalisierten Gesellschaft. Ebenfalls eindrucksvoll war der statt eines Dirigenten vor das SWR-Symphonieorchester platzierte „akustische Totem“ in Marco Stroppas Werk für Solo-Elektronik, das schon im Eröffnungskonzert den am Pariser IRCAM-Institut für elektronische Musik entwickelen Modalys-Synthesizer als Hauptakteur mit ins Spiel brachte. „Come Play With Me“ forderte der Titel des Stücks die Musiker auf, und diese reagierten lustvoll und einfallsreich.

 

Solches konnte man leider von Benedict Masons „Ricochet“ im Abschlusskonzert leider nicht sagen: eine Dreiviertelstunde bewegten sich die SWR-Symphoniker im Gänsemarsch oder mit Spielanweisungen von Notenpult zu Notenpult zwischen den Zuhörerreihen und an den Wänden der Baar-Sporthalle entlang: musikalisch dürftig auf „Alle-Meine-Entchen-Niveau“, meinte einer der Schlagzeuger des Orchesters. Da war das vielschichtige Klangflächen und spannende Impulse kombinierende Werk des 2002 verstorbenen Schweizer Einzelgängers Hermann Meier, 1965 komponiert und erst jetzt uraufgeführt, schon ein ganz anderes Kaliber.  Dieses herausfordernde Stück hätte den traditionsreichen, in der Nachfolge des früheren SWR Symphonieorchesters Baden-Baden und Freiburg verliehenen Orchesterpreis ebenso verdient gehabt, doch auch Malin Bâng war mit ihren „Splinters of ebullient rebellion“ eine würdige Preisträgerin.

 

Wenn bei den Donaueschinger Musiktagen irgendetwas Ungewöhnliches passiert, bekommen manche Zuschauer gleich glänzende Augen. So auch bei der Performance der Taiwanesin Liping Ting im Rahme ihrer Rauminstallation aus Papier, Steinen, Klang in der Alten Molkerei. Indigene Klänge wurden im Fischhaus im Park von bolivianischen Künstlern aus Pfeifenkeramik kreiert. Im Unterschied zu solch punktueller Klangkunst, die in Donaueschingen seit einem Vierteljahrhundert ihren Platz hat, geben natürlich die Ensemblekonzerte am meisten Aufschluss über das Spannungsfeld der musikalischen Avantgarde. Beim Auftritt des Klangforum Wien unter der Leitung von Ivan Volkov am Sonntagmorgen waren es die extremen Gegensätze von Eduardo Moguillanskys „Resilienztraining“ mit Schallplatten auf Turntables, denen per Sinuswellen der Garaus gemacht wird, Mirela Ivicevics von der Erinnerung an den jugoslawischen Partisanenkampf inspiriertem, dynamisch aggressiven „Case White“ und Koka Nikoladze als Tonstärke-Manipulator mit seinem auf den Uraufführungstag datierten, improvisatorische Freiheit freejazz-artig einfordernden „21.10.2018“. Einige jüngere Komponisten hätten doch ganz schön wild drauf los komponiert, freute sich der Festivalleiter Björn Gottstein.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 22./24. Oktober 2018)

Der letzte Schuss


Elmar Goerdens Inszenierung der „Wildente“ von Henrik Ibsen im Schauspiel Stuttgart


Wiederaufnahmen im Sprechtheater haben in der Regel eine auf wenige Jahre beschränkte Laufzeit: die Identifikation der Schauspieler mit ihren Rollen ist eine gegenwärtige, nach einer oder zwei Spielzeiten ist eine Produktion meist abgespielt. Bekommt sie als „blockbuster“ Kultstatus wie Agatha Christies „Mausefalle“ im Londoner Westend, wechselt die Besetzung im Jahrdutzend-Rhythmus. Auch bei „Was heißt hier Liebe?“ im Theaterhaus auf dem Stuttgarter Pragsattel waren schon einige Schauspielergenerationen zugange. Bei Stückübernahmen nach Intendantenwechsel sieht es etwas anders aus, und doch ist es ungewöhnlich, wenn eine Inszenierung, die vor fünf Jahren in Mannheim Premiere hatte, nun in Stuttgart in gleicher Besetzung neu auf die Bühne kommt. Burkhard C. Kosminski hat Henrik Ibsens „Wildente“ in der Regie von Elmar Goerden nun ins Stuttgarter Schauspielhaus übernommen, auch die zentralen Figuren des Stücks gehören jetzt zum Ensemble.


Als Anne-Marie Lux 2013 frisch von der Schauspielschule ans Mannheimer Nationaltheater kam, war die Hedvig in Ibsens „Wildente“ eine ihrer ersten Rollen, So wunderlich virtuos und womöglich noch radikaler in seiner Andersartigkeit, wie sie das junge Mädchen spielt, das sich an seinem 15. Geburtstag umbringt, ist sie der emotionale Mittelpunkt des dramatischen Geschehens, das Goerden gegenüber Ibsens Vorlage auf die Hälfte des Personals und um  manchen Aspekt seiner Gesellschaftsanalyse gekürzt hat. Das nimmt dem Stück etwas von seiner dramaturgischen Stringenz, doch geht die Inszenierung in ihrer Konfrontation verschiedener Lebensweisen, deren Opfer die in ihrer Existenz beschädigte Hedvig wird, unterhaltsam unter die Haut.


Auf Rollschuhen stöckelt Hedvig in die weiße, fast klinische Leere der Bühne, deren symbolbeladener Spielraum in der Phantasie des Zuschauers allein aus der Sprache Ibsens erschaffen wird. Auf dem Dachboden lebt Hedvigs flügellahme Wildente und gehen der alte Ekdal und sein Sohn Hjalmar (Klaus Rodewald), der an einer imaginären Erfindung arbeitet, die das Leben seiner Familie auf einen Schlag verändern könnte, auf die Jagd. In die illusionäre, doch anspruchslos gemütliche Welt der Ekdals bricht der Wahrheitssucher Gregers Werle ein, der es sich zur „Lebensaufgabe“ macht, seinen Jugendfreund Hjalmar von seiner „Lebenslüge“ zu befreien: Gina, dessen Frau, war die Geliebte des alten Werle, bevor der sie – schon schwanger - mit dem lebensuntüchtigen Hjalmar verheiratete.


Reinhard Mahlberg spielt diesen Moralterroristen mit dem ganzen Fanatismus einer gestörten Psyche. Auch Gregers ist beschädigt durch einen tyrannischen Vater (Edgar M. Böhlke), so wie Hjalmar durch das traumatische Erlebnis seiner Kindheit, dass sein Vater wegen dunkler Geschäfte ins Gefängnis musste. Gegenpol von Gregers‘ verschwitztem Fanatismus ist die vom Leben gebeutelte, doch in sich gefasste Gina Ekdal von Anke Schubert. Als ihr Hjalmar unter der von Goerden als Pantomime inszenierten Wahrheit schreiend zusammenbricht und seine „fremde“ Familie verlassen will, weiß sie schon, dass er dazu nicht der Held ist. Doch während sie gemütliche Versöhnung feiern, setzt Hedvig das von Gregers aufgenötigte „Opfer“ in die Tat um: der letzte Schuss auf dem Dachboden ist das sinnlose Ende der Geschichte.


17. Februar 2019

Annas Weg ins Freie

 

„Die Sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ als Gemeinschaftsproduktion von Stuttgarter Oper, Schauspiel und Ballett

 

Faulheit. Stolz. Zorn. Gier. Wollust. Geiz. Neid: den Katechismus-Katalog der „Sieben Todsünden“ verwendeten Bertolt Brecht, Kurt Weill und George Balanchine 1933 zu einem „Ballett mit Gesang“, das damals im Pariser Théâtre des Champs Élysées mit Lotte Lenya in der Hauptrolle uraufgeführt wurde. Im Song-Libretto von Brecht ist eine Anna aus Louisiana die zwiespältige, in zwei Figuren gespaltene Protagonistin, die sich im kapitalistischen Amerika auf den Weg macht, um ihr Glück zu machen und für ihre Familie daheim genügend Geld zu verdienen für ein Häuschen am Mississippi. In seiner typischen Dialektik stellt Brecht das moralisch Wünschbare gegen die ausbeuterische Realität: ohne die verteufelten „Todsünden“ kämen die Annas hoffnungslos unter die Räder.

In einer Gemeinschaftsproduktion von Oper, Schauspiel und Ballett der Stuttgarter Staatstheater wird Brecht/Weills Song-Parabel zum Ausgangspunkt eines faszinierenden Performance-Theaters mit der kanadischen Electro-Clash-Sängerin Peaches als Hauptattraktion. Die erste Hälfte des Abends zeigt einen Boxring (Bühne: Katrin Connan), an drei Seiten umrandet von den Musikern des Staatsorchesters mit dem befrackten Dirigenten Stefan Schreiber. Musiziert wird in einem konzertant in den Ohren klingenden Luxus-Sound, während Peaches am Rand der Bühne mit ihren stilistisch erstaunlich authentischen Weill-Songs das Geschehen im Boxring kommentiert. Dort gibt es keine erzählerischen Brecht-Szenen vom Kabarett in Memphis, Filmstudios in Hollywood oder Liebhabern in Boston und Baltimore, sondern Kampf pur, Niederschlag auf Niederschlag, krachend effektvoll choreografiert von Louis Stiens, der auch eine der beiden Kontrahent*innen im Ring verkörpert. Sein dialektisches Pendant ist Josephine Köhler, die nach ihrer großartigen, schweißtreibenden Boxer-Show - stimmstark und sehr handgreiflich vom Männerquartett (Elliott Carter Hines, Gergely Némety, Christopher Sokolowski, Florian Spiess) assistiert – den Übergang zu Peaches‘ „Seven Heavenly Sins“ mit einem Monolog aus Virginie Despentes‘ „King Kong Theorie“ artikuliert. Als „Proletin der Weiblichkeit“ rebelliert die multi-talentierte Schauspielerin im rotzigen Kabarettton gegen alle Normierung und Schönheitswahn.

Als feministische, gender-affine Inkarnation schwebt nun – die Musiker sind verschwunden, der Boxring durch einen mit Lasern bestückten Pop-Altar ersetzt – vom Bühnenhimmel Peaches herab, stellt sich wie die archaische, vielbrüstige Artemis im Varieté-Licht in Position und zelebriert ein Best-Of ihrer sexgeladenen Hits von „Fuck the Pain Away“ bis „Put Your Dick in the Air“ im Kontext der nun „himmlischen Sünden“. Dazu treten Köhler und Stiens tänzerisch suggestiv in Aktion, und ein ums andere Mal feuert die Sängerin, die sich bei „Rub“ ihres künstlichen Outfits entledigt und frei die Brüste baumeln lässt, ihre Fans im Schauspielhaus zum Johlen und Pfeifen an. Erstaunlicherweise geht das Konzept der Regisseurin Anna-Sophie Mahler, „Die 7 Todsünden“ neu und umzuinterpretieren als Show-Act der Selbstbefreiung, mit der spektakulären, metaphorisch aufgeladenen Performance von Peaches auf. Und wäre doch nicht viel mehr als der punkige Blockbuster eines gegenpoligen Abends, gäbe es nicht diesen klug zugefügten Epilog mit Charles Ives‘ „The Unanswered Question“. In dem die Musiker wie aus dem Off der Hinterbühne einen Streicher-Klanghorizont erzeugen, vor dem eine Trompete ertönt, von einem Bläserquartett jedes Mal aufgeregter kommentiert. Sieben Mal erklingt die „unbeantwortete Frage“, und dazu bewegt sich die reife Ausdruckstänzerin Melinda Witham - quasi als vierte Anna im Stück der sieben tödlichen und himmlischen Sünden – mit fragend, suchend, deutend erhobenen Armen auf der leeren Bühne. Quo vadis, Anna? Ein vieldeutiger Schluss eines assoziationsreichen Tanz-Musik-Performance-Theaters. Sehens- und hörenswert!

 

3.2.2019

Schatten der Erinnerung

Franz Grillparzers „Medea“ in der Regie von Mateja Koleznik im Schauspiel Stuttgart

 

Nach der „Orestie“ hat Burkhart C. Kosminski zu Beginn seiner Intendanz am Stuttgarter Schauspiel einen weiteren antiken Tragödienstoff auf die Bühne gebracht. Anders als Robert Ickes Inszenierung der Aischylos-Trilogie ist Franz Grillparzers „Medea“ freilich eine Deutung der Dramen des Euripides und Seneca aus der Perspektive des beginnenden 19. Jahrhunderts nach der Aufklärung - als Teil einer Trilogie mit dem Titel „Das Goldene Vließ“, welches Grillparzer als Symbol für den Fluch der bösen Tat verwendet, wodurch Jason das Objekt der Macht und Medea in seinen Besitz gebracht hat. Diese gibt ihm am Ende zu verstehen: „Was ist der Erde Glück? – Ein Schatten! Was ist der Erde Ruhm? – Ein Traum! Du Armer! Der von Schatten du geträumt! Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.“

 

Nacht ist es auch auf der Bühne in Mateja Kolezniks Inszenierung von Grillparzers „Medea“ im Stuttgarter Schauspielhaus. Die slowenische Regisseurin lässt die Spieler im düsteren, grün geplättelten Treppenhaus von Raimund Orfen Voigt orientierungslos treppauf treppab irren - akustisch ein Problem, wenn sie redend noch nicht von unten aufgetaucht oder schon nach oben verschwunden sind und man von Grillparzers Versen nicht mehr viel versteht. Ohnehin ist das Stück mit einer Spieldauer von knapp eineinhalb Stunden radikal skelettiert, so dass von der psychologischen Situation und Entwicklung der Figuren wenig übrig bleibt: die Aufführung erschöpft sich in schnittartigen Momenten, die den Schauspielern kaum Möglichkeit zur Entfaltung oder zur Charakterisierung geben. Eine klare Idee, was der heute selten gespielte Grillparzer den Zuschauern zu sagen hätte, ist nicht erkennbar.

 

Klaus Rodewald als Kreon, König von Korinth, wo Jason und seine Frau Medea mit den beiden Kindern Aufnahme gefunden haben, bewegt sich wie ein griesgrämiger Blockwart durchs Treppenhaus. Seine Tochter Kreusa, die er mit Jason verheiratet, mimt das naive Dummchen, was einige Lacher im Publikum erntet. Warum Marietta Meguid als Medeas Amme mit unheilschwangerer Miene auf und ab hastet, lässt sich ahnen: zwischen Jason und Medea steht es nicht zum Besten, denn der Fremden, der das Gerücht einer bösen Zauberin anhängt, schlagen in Person von Kreon Hass und Misstrauen entgegen. Und als dieser dem weichen, opportunistischen Jason das Angebot macht, ihn mit den Kindern zum Schwiegersohn und Enkeln zu machen und dafür Medea zu verstoßen, ist der gleich einverstanden.

 

Benjamin Pauquet als Jason bleibt darstellerisch flach,  seiner von Kolchis mitgebrachten Gattin Medea versucht Sylvana Krappatsch psychologisches Profil zu geben. Die Schauspielerin - in der Stuttgarter „Orestie“ eine starke, glaubwürdige Klytämnestra – wechselt in ihrer neuen Rolle zwischen Mutterdistanz und Eifersucht, Verstörung und Heulsuse und scheint mit ihrer Interpretation von der Regie allein gelassen. Das Fremde, von ihrer Heimatlosigkeit in Korinth nicht Normierbare kommt höchstens im schwarzen Chic ihrer Kleidung (im Gegensatz zu Kreusas Stickereikleid) zum Ausdruck. Im Lichtschacht, um den sich das Treppenhaus windet, erscheinen die sonnigen Schatten der von Medea Getöteten in der Erinnerung: der Vater, der Bruder, die Kinder: „Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.“

 

16.12.2018

Familien im Kriegszustand

„Vögel“ und „Orestie“ zum Saisonauftakt im Schauspiel Stuttgart

 

Der Intendant selbst macht den Anfang: Burkhard C. Kosminski, vom Mannheimer Nationaltheater nach Stuttgart engagiert, setzt gegenüber den oft halbgaren, auf Revue und Videospektakel zielenden Stücken im Spielplan seines Vorgängers Armin Petras konsequent auf Schauspieler- und Autorentheater. Mit „Vögel“ von Wajdi Mouawad präsentiert Kosminski eine deutsche Erstaufführung zu Beginn seiner ersten Spielzeit, in der Identität und Mehrsprachigkeit eine wichtige Rolle spielen. Auf der Bühne wird Hebräisch, Arabisch, Englisch und Deutsch geredet, entsprechend ist die Auswahl der Schauspieler, die den teilweise redundanten und monologischen Text sich überzeugend zu eigen machen. Die Bühne ist dagegen spartanisch auf wenige Möbel und bewegliche weiße Papiervorhänge reduziert, auf denen die deutschen Übersetzungen projiziert werden. Und die Drehbühne  - wegen eines Steuerungsdefekts konnte die Saison im Schauspielhaus erst jetzt beginnen – funktioniert perfekt: auf ihr kreist die Geschichte von Eitan und Wahida, mit vielen Zeitsprüngen und Rückblenden, als Familienkonflikt mit tragischem Potential.

 

Der junge Genforscher Eitan (Martin Bruchmann) verliebt sich in New York in die arabische Studentin Wahida (Amina Merai). Als er sie in Berlin seinen jüdischen Eltern vorstellt, kommt es zum Streit mit seinem Vater, der aufgrund des Holocaust und der Feindschaft der Araber gegenüber Israel eine solche Heirat nicht akzeptieren kann, da er sich voll und ganz mit dem Leiden seines Volkes identifiziert. Der israelische Schauspieler Itay Tiran macht den radikalen Fundamentalismus dieser Figur großartig deutlich, Silke Bodenbender als seine Frau bleibt dagegen etwas blass. Gegenentwürfe sind Davids Eltern: der Auschwitz-Überlebende Etgar, den Dov Glickman mit gelassener Humanität darstellt, und die sarkastisch unkonforme Leah, die Eitan in Jerusalem aufstöbert, wo er im Bus an einem Grenzübergang bei einem Attentat schwer verletzt wird. Solche Kolportage-Elemente wirken im Stück des im Libanon geborenen franko-kanadischen Autors reichlich konstruiert, vermitteln jedoch in ihrer szenischen Ausführung eine gewisse Authentizität. Das Verhör von Wahida durch die israelische Soldatin Eden (Maya Gorkin) zum Beispiel ist beklemmend. An Eitans Hospitalbett kommt es schließlich zur Katharsis: von Leah erfährt David, dass er kein Jude ist, sondern ein Findelkind, das ihr Mann als israelischer Soldat im Sechstagekrieg aus einem zerbombten palästinensischen Dorf gerettet hat. Dadurch bricht seine ganze Ideologie zusammen, doch die euphorische Befreiung bezahlt David mit seinem Infarkttod. Womit das Stück als Parabel endet, an dessen Schluss freilich nicht Lessings Nathan-Weisheit triumphiert, sondern Wahida in ihre arabische Identität flüchtet und Eitan kein Ende von Hass und Krieg erkennen kann. Nur im Märchen des Amphibienvogels, dem beim Hinabtauchen zu den wunderbaren, fremdartigen Fischen Kiemen wachsen und das Atmen ermöglichen, kommt diese Geschichte zu einem glücklichen Ende.

 

Schärfer und prägnanter als Mouawads „Vögel“ kam am darauf folgenden Abend Robert Ickes Bearbeitung der Orestie des Aischylos im Schauspielhaus auf die Bühne. Die ewigen Fragen von Schuld und Sühne, Wahrheit und Gerechtigkeit werden hier in einem gegenwärtigen Kontext verhandelt. Zu Beginn sitzen sie alle als alltägliche, glückliche Familie am Tisch: Agamemnon, Klytämnestra und ihre drei Kinder, doch hinter den gläsernen, oft blindgrauen Schiebewänden, die in das hochgemauerte Zitat eines griechischen Theaters eingepasst sind (Bühne: Hildegard Bechtler), lauert Unheil, Schicksal, Politik. Den inneren Kämpfen des Kriegers Agamemnon, dem das Ungeheuerliche abverlangt wird, aus einer von Menelaos (Michael Stiller) vertretenen Staatsraison seine Tochter Iphigenie zu opfern, hat Icke den ersten Teil der dreieinhalbstündigen Aufführung gewidmet. Was vom antiken Chor bei Aischylos nur als Vorgeschichte reportiert wird, erhält hier in Matthias Lejas faszinierender Darstellung das Gewicht eines Psychodramas, welches alle folgenden Handlungen dominiert: die bis zur starren Gefühllosigkeit deformierte Empathie von Sylvana Krappatschs Klytämnestra, die Träume und Alpträume Elektras (Anne-Marie Lux) und den Wahnsinn  Orests.

 

 In Form einer Psychoanalyse wird die Geschichte von Tochter-, Vater- und Muttermord zwischen dem in seiner Darstellung um Differenzierung bemühten Peer Oscar Musinowski und Marietta Meguid als nüchterner Ärztin aufgearbeitet. Dazwischen sind Szenen mit Kalchas (Paula Skorupa als ironische Reporterin und Zeremonienmeisterin) geschichtet, und zum Schluss kippt die Tragödie in eine Gerichtsverhandlung im Fernsehformat. Robert Icke spielt in seiner Inszenierung mit solchen medialen Bezügen, eine Digitaluhr zeigt die Realzeit der im Stück passierenden Morde, auf Video-Bildschirme an den Seiten des Zuschauerraums werden Verhöre und Staatsakte projiziert, selbst die Pausen sind auf die Sekunde genau terminiert. Die Aufführung, welche die Themen der Tragödie und die Beweggründe aller Figuren hinterfragt, lebt vom Dialog und vor allem den beiden starken Schauspielern Matthias Leja und Sylvana Krappatsch. Die Frage nach der Schuld oder Unschuld Orests, der vom Theatergericht schon zum Tode verurteilt wird, muss jeder Zuschauer für sich selbst beantworten.

 

 

Anziehung, Abstoßung, Tanzekstasen


Deuces“: Gauthier Dance mit acht Uraufführungen von Duos im Theaterhaus


„Think big! Dream big!“ waren die ersten Worte der wie gewohnt launigen Begrüßungsrede Eric Gauthiers bei der Premiere des neuen Ballettabends. Am liebsten hätte er eine Million für seine Tänzer und seine choreographischen Ideen – aber nachdem einer der Großsponsoren seiner Truppe für dieses Jahr abgesprungen ist, fehlen ein paar Hunderttausend für seine im Stuttgarter Theaterhaus beheimatete Compagnie. Wenn es jedoch noch eines Beweises bedurft hätte, dass Gauthier Dance im dreizehnten Jahr ihres Bestehens aus der deutschen und internationalen Tanzszene nicht mehr wegzudenken ist: „Deuces“ war eine bravouröse Antwort. Der Titel – „Zweier“ – steht für Duos, die acht Starchoreographen aus sechs Ländern vor Ort in Spanien, Portugal, Italien, Israel, den Niederlanden und Deutschland mit Gauthier Dance erarbeitet haben.


Sechzehn Tänzerinnen und Tänzer, acht Stücke, jedes ganz stark von der individuellen Handschrift der beteiligten Choreographen geprägt: das ergibt einen tollen, abwechslungsreichen Tanzabend, in dem es einige spektakuläre Höhepunkte, Virtuosität und Akrobatik, spannend erzählte Paarbeziehungen und eigentlich keinen Flop gibt. Dass Nacho Duatos „Julia“ mit zwei barbusigen Tänzerinnen, die sich auf einem hochbeinigen Tisch schmachtend umarmen und trotz ungewöhnlicher Körperartistik (zum Beispiel eine vierbeinige Krabbe in der Horizontale) wenig zum Tanzen kommen, etwas abfällt, überrascht bei diesem exzellenten Choreographen. Eine Männerphantasie?


Der Abend beginnt mit „Scratch“ von Rui Horta: der Portugiese verkabelt Garazi Perez Oloriz und Rosario Guerra mit Mikro-Kontakten in der Hose, woraus sich ein geräuschintensiver, explosiver Body-Talk ergibt mit aggressiven Körperwürfen auf der Tanzmatte. Ed Wubbe, künstlerischer Leiter des Scapino Balletts Rotterdam, steckt Joana Martins und Elizabeth Turtschi in Matrosen-Mützen und T-Shirts und exerziert mit ihnen um ein schwingendes Lichtpendel herum fröhliche Synchronbewegungen. Eine witzige Paargeschichte erzählt Barak Marshall aus Israel mit Kibbuz-Flair: „Honigsaft“ scheint zwischen Loiza Avraam im grünen Kleidchen und Reginald Léfebvre auf der Sitzbank zunächst keiner zu fließen. Sie beschimpfen sich gegenseitig in ihren Muttersprachen, doch sobald die Töne einer Bach-Kantate in die Ohren dringen, tanzen die Beiden in spannender Harmonie, die allerdings immer nur kurze Zeit vorhält. „For D“ von Guy Weizman und Roni Haver, die im holländischen Groningen ihren Club betreiben, ist vor der Pause ein berührender Männer-Pas de deux, von Trockennebel umwabert und von einer Lichtquelle im Hintergrund befeuert, in die die beiden großartigen Tänzer Alessio Marchini und Robert Stephen in ihre homoerotischen Ekstasen eintauchen.


Sechs hohe Stelen strukturieren den abstrakten Bühnenraum und werden von den Tänzern, die ihren Auftritt schon oder noch nicht absolviert haben, von Stück zu Stück zu einer Videowand zusammengeschoben und wieder verteilt. Jedes Stück hat einen kurzen Prolog, in dem die Choreographen über ihre Auffassung von Tanz und Realität im Filmporträt sprechen, doch die Wirklichkeit ihrer Kunst geschieht live auf der Bühne. Mauro Bigonzettis „Deep Down“, mit Anneleen Dedroog und Maurus Gauthier als wunderbar intensivem, alle Stadien ihrer Beziehung erfindungsreich auslotendem Paar, ist das Hetero-Pendant zu „For D“. Richard Segals „Prima“ setzt einen hippen Jitterbug zu Benny Goddmans Jazz-Evergreen „Sing, Sing, Sing“ dagegen mit der quirligen Bruna Andrade und dem coolen Nicholas Losada. Und Goeckes „The Heart“ mit Jonathan dos Santos und Theophilus Vesely ist der krönende Abschluss, wie immer mit einer extrem nervösen, flatternden, hypersensiblen Bewegungssprache, in der die beiden Tänzer nur für Augenblicke – eine Hand auf einer Brust, Arme gekreuzt, vom Drive ihrer Beine magnetisch angezogen – zu einander finden. Für die sechzehn Tänzer und alle Choreographen, die zu ihren acht Uraufführungen am Schluss auf der Bühne waren: Standing Ovations!


(Ludwigsburger Kreiszeitung 18. März 2019)

Lebendige Individualität und Gemeinschaft


Jirí Kyliáns faszinierendes Tanzstück „One of a Kind“ neu beim Stuttgarter Ballett


Als Tänzer kam Jirí Kylián 1968 auf Einladung John Crankos ins Stuttgarter Ballett, schon wenige Jahre später schuf er seine ersten Choreographien für die Noverre Gesellschaft, und 1974 - nach dem Tod Crankos diesem gewidmet - „Rückkehr ins fremde Land“. Tamas Detrich, der neue Stuttgarter Ballettintendant, tanzte später bei den Kylián-Uraufführungen von „Vergessenes Land“ und „Stepping Stones“. Nun hat er den berühmten Modern-Dance-Choreographen und langjährigen künstlerischen Leiter des Nederlands Dans Theater nach Stuttgart zurückgebracht zur Einstudierung seines abendfüllenden „One of a Kind“, das 1998 zum 150jährigen Jubiläum der holländischen Verfassung für das NDT entstand. Auch dies ein Meisterwerk Kyliáns, zurecht bejubelt bei der Premiere im Opernhaus. Für Jirí Kylián, der am Schluss von Detrich auf die Bühne geführt wurde, gab es stehende Ovationen.


„One of a Kind“ - man könnte den Titel mit „Eine(r) aus der menschlichen Spezies“ übersetzen – ist ein groß besetztes, dreiaktiges Ballett ohne Handlung, doch mit inhaltsreichen Aktionen. Eine Tänzerin steigt zu Beginn aus dem Parkett über einen Steg auf die Bühne, die vom japanischen Architekten Atsushi Kitagawara mit bizarren Linien und trümmerartigen Mauerteilen bebildert ist. Miriam Kacerova ist die kreatürliche, Kyliáns großartig einfallsreiche Körpersprache zwischen skulpturalen Stops, ins Archaische ausgreifender Exotik und klassischem Vokabular darstellende Protagonistin, die sich zur faszinierenden Musikcollage des australischen Komponisten Brett Dean den Raum erobert. Vittoria Girelli, Elisa Badenes, Angelina Zuccarini, Rocio Aleman folgen mit weiteren Solos in den äasthetischen Körpertrikots Joke Vissers: es ist ungeheuer spannend, wie sie sich gegenseitig in ihrer Bewegungssprache inspirieren. Kyliáns Stück handelt von den Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft – damals zum Verfassungsjubiläum der Niederlande das passende Thema, doch in seiner Vielfalt viel universaler.


So wie sich in Deans Musik-Mix Gesualdos Renaissance-Madrigale und John Cages Stücke für präpariertes Klavier, chinesische Tempelgongs und Benjamin Brittens Cello-Lamento die Hand reichen, so begegnen sich auf der Bühne die Tänzerinnen und Tänzer in Duetten, in einem Pas de quatre, von tastender Berührung bis zu immer dynamischeren, atemberaubend explosiven Paarungen, mit einem finalen Pas de deux von Kacerova und Jason Reilly im 1. Akt. Während das Publikum in die erste Pause strömt, geht das Geschehen auf der Bühne weiter, die Protagonistin bleibt immer präsent, während sich das Corps der Solisten in Exercices für den zweiten Akt aufwärmt. Der entwickelt eine weit aggressivere, alptraumartig sich zuspitzende Dynamik: ein quadratisches Segel und ein riesiger, sich immer tiefer senkender Spitzkegel sind nun die Bühnenelemente, neue Individuen wie Agnes Su und Adhonay Soares da Silva treten auf, der Cellist Francis Gouton wird Teil der dramatischen Aktion, schrammt elektronisch vervielfältigt auf seinem Instrument mit ohrenbetäubender Wucht. Am Schluss liegt Miriam Kacerova wie erledigt am Bühnenrand, das Corps steht in Reih und Glied als formierte Gesellschaft.


Unter einem Lichtwasserfall und zwischen tempelartigen Treppenstufen zelebriert Kyliáns Choreografie den Schlussakt. Nun sind es vier ineinander fließende Pas de deux, die eine leidenschaftliche Kommunikation entfalten, feierlich akzentuiert durch Goldfäden-Vorhänge. Dieser letzte Teil hat nicht mehr den hinreißenden Schwung der beiden ersten Akte, doch auch hier kommen neue Tänzerpersönlichkeiten hinzu wie Anna Osadcenko oder Friedemann Vogel, die in ihren Duetten mit Roman Novitzky und Agnes Su noch einmal spannungsreiche Facetten zum Ausdruck bringen. Das letzte Solo, vom Cello begleitet, hat Miriam Kacerova: eine grandiose Verkörperung der Idee einer harmonisch und ekstatisch lebendigen Individualität.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 25. Februar 2019)



Im Rausch der Tutus


Stuttgarter Ballett eröffnet seine Saison mit „Shades of White“


Weiß ist die Grundfarbe aller Giselles, Sylphiden, verzauberten Schwanenprinzessinnen, welche die klassische Tanzbühne bevölkern und die Ballettfans entzücken. Tamas Detrich, der neue Stuttgarter Ballettintendant, hat an den Beginn seiner ersten Spielzeit als Huldigung an die Tradition diesen weißen Traum eines Ballettabends gesetzt: „Shades of White“ zeigt die Facetten dieser klassischen Kunst in drei Varianten. Doch Tutus – jene kurzen tellerförmigen Röckchen der Ballerinen über ihren schier endlosen, weiß bestrumpften Beinen – gibt es überall.


Bei John Crankos „Konzert für Flöte und Harfe“ von 1966 sind es nur zwei, doch wie Alicia Amatriain und Ami Morita ihren wechselnden Partnern aus der Zwölferriege der Männer – selbstverständlich auch ganz in Weiß – den Kopf verdrehen, ist sehr hübsch anzusehen. Die beiden Solistinnen repräsentieren die beiden Soloinstrumente aus Mozarts glechnamigem Konzert, die Männer tanzen zumeist in zwei Sechser- und Fünferformationen (denn einer von ihnen ist ja mit der Dame im Tutu beschäftigt). Das ist alles sehr musikalisch choreographiert und ab und zu sogar witzig, zum Beispiel wenn sich die Füße im Quickstep bewegen, doch gehört das Stück gewiss nicht zu Crankos besten abstrakten Balletten, trotz seiner kurzen, anmutigen Pas de deux. Und was die Synchronizität des Männer-Corps angeht, ist in dieser Wiederaufnahme noch Luft nach oben.


Der Schattenreich-Akt aus Minkus/Petipas exotischem Opus „La Bayadère“, 1877 in St. Petersburg uraufgeführt, ist fürs Stuttgarter Ballett eine echte Premiere. Rudolf Nurejew hat das Ballettdrama 1963 am Londoner Royal Ballet für den Westen entdeckt, Natalia Makarova hat den Schattenakt elf Jahre später für das American Ballet Theatre in New York choreographiert und nun auch in Stuttgart einstudiert. Die Geschichte der Bayadère, in der eine indische Tempeltänzerin den Kriegshelden Solor liebt, von dessen Braut aber mit Hilfe eines Schlangenbisses getötet wird, worauf jener im Opiumrausch seine Geliebte im Königreich der Schatten wiederfindet, gipfelt in dieser Begegnung in zauberhafter Kulisse. Ein bleicher Mond scheint über einer Gebirgsszene, die Bühne ist von Baumriesen gerahmt, auf einer schrägen Rampe schreiten die verwunschenen Bajaderen eine nach der anderen herab, mit grazil nach vorne gestrecktem Arm und einer Beinarabeske zur folgenden. Es sind 24 Tänzerinnen in ihren Tutus, die sich zu reinsten klassischen Ballettposen auf der Bühne arrangieren. Sensationell sind dann im variierten Grand Pax de deux die Sprünge von Adhonay Soares da Silva, des neuen Ersten Solisten der Compagnie, die lupenreinen Schritte und Pirouetten seiner Partnerin Elisa Badenes, und das Solo der Corps-Tänzerin Diana Ionescu, die dafür mit Extra-Applaus gefeiert wird.


Sind es außer Soares da Silva am Schluss des „Bayadère“-Aktes 28 Ballerinen und Tutus, so bezirzt George Balanchines „Sinfonie in C“ in seiner wie auf dem Reißbrett entworfenen neoklassischen Symmetrie auf noch spektakuläre Weise. Dieses Meisterwerk von 1948, seit 2002 (und viel zu selten) im Repertoire des Stuttgarter Balletts, bringt in den vier Sätzen von Georges Bizets gut gelaunter Sinfonie jeweils ein Solo- und zwei Begleitpaare samt weiblichem Tutu-Corps de ballet auf die Bühne, wunderbar einfallsreich im Figurenreichtum der Bewegungen, der Interaktion zwischen Gruppen und Individuen. Miriam Kacerova und Friedemann Vogel machen beim „Allegro vivo“ den Anfang, Alicia Amatriain und Jason Reilly zelebrieren das Adagio, Hyo-Jung Kang mit Soares da Silva und Badenes mit Moacir de Oliviera tanzen die folgenden „Allegro vivace“ – alles im kunstvoll abgezirkelten Wirbel tänzerischer Vollkommenheit. Als der Vorhang fiel, brach im ausverkauften Opernhaus ein Sturm der Begeisterung los.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 15. Oktober 2018)




"Sehr düster, sehr tief, ein Requiem"


René Pape singt die Solopartie in Schostakowitschs 13. Sinfonie „Babi Jar“ im Eröffnungskonzert der Festspiele


René Pape ist zum ersten Mal bei den Schlossfestspielen in Ludwigsburg, im Eröffnungskonzert 2019 singt er im Forum die Solpartie in Dmitri Schostakowitschs Sinfonie „Babi Jar“.


D.Z. Der Klavierauszug der 13. Sinfonie liegt vor Ihnen: Sie singen die Solopartie von „Babi Jar“ zum ersten Mal, haben sie gewiss schon gründlich studiert. Ist das eine besondere Herausforderung?


R.P. Ja, sicher, wie jedes Werk, das ich zum ersten Mal interpretiere. Es ist kein Rollendebüt im üblichen Sinn. Aber dadurch, dass die Sinfonie von Schostakowitsch für Bass, Chor und Orchester geschrieben ist, in der ich fast eine Stunde lang singe, ist das vergleichbar mit einer normalen Opernpartie. Und diese Solopartie umfasst den ganzen Tonraum, obwohl es insgesamt, dem Inhalt entsprechend, sehr düster, sehr tief komponiert ist.


D.Z. Wie kommen Sie mit dem Russisch der fünf Gedichte von Jewtuschenko zurecht, die Schostakowitsch in seiner Sinfonie vertont hat?


R.P. Ich bin ja in Dresden aufgewachsen und habe Russisch in der Schule gelernt. Ich kann das lesen, und da ich schon andere Partien in Russisch gesungen habe, ist mir das nicht wirklich fremd. Ich singe gerne in russischer Sprache. Ich ziehe das Original auch vor, obwohl Schostakowitsch der Meinung war, man könne das Werk auch in der Übersetzung singen, um es für die jeweiligen Zuhörer verständlich zu machen.


D.Z. Wie wichtig ist es für Sie, den Inhalt der Jewtuschenko-Gedichte beim Singen parat zu haben?


R.P. Ich weiß schon, worum es geht. Der Inhalt ist genauso wichtig wie die Musik, der Text und die Dramaturgie sind gleich bedeutend wie die Komposition. Natürlich habe ich nicht alles wortwörtlich parat, aber die fünf Sätze sind in ihrem Ausdrucksgehalt sehr verschieden. Es fängt mit dem ungeheuer tragischen „Babi Jar“ an, in dem des Massakers von 1941 an den Juden und des Antisemitismus in der Sowjetunion gedacht wird. Aber es gibt es auch ganz andere Facetten in den folgenden Sätzen. Manche Passagen, die der Männerchor singt, klingen wie russische Kampflieder. Als Kinder mussten wir so etwas ja viel singen in der DDR.  


D.Z. Auf Ihrem Terminplan stehen in nächster Zeit einige Verdi-Opern, zum Beispiel „Simon Boccanegra“ bei den Salzburger Festspielen, „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper und der Pariser Oper. Wenn Sie solche Partien wie Jacopo Fiesco oder Philipp II. auf Italienisch einstudieren, arbeiten Sie da mit einem Sprachcoach?


R.P. Mittlerweile nicht mehr, als ich Anfänger war vor 30 Jahren, schon. Egal in welcher Fremdsprache, auch in französischen Partien, oder im Tschechischen. Ich möchte schon die Sprache, die ich singe, halbwegs perfekt ausführen, zumal wenn ich auf Italienisch in Italien, Französisch in Frankreich, Russisch in Russland singe.


D.Z. In der Oper stellen Sie Charaktere auf die Bühne. Wie ist das in einem Stück wie „Babi Jar“ – gibt es da auch Möglichkeiten zur Identifikation?


R.P. Ich bin der Erzähler! Ein Erzähler ist gehalten, keine Wertungen zu übermitteln. Als Solist in „Babi Jar“ kann ich das Schreckliche nur mitteilen. Der Chor interpretiert an einigen Stellen auch emotional. Doch eine Identifikation, das geht nicht, ich möchte die Opfer damit auch nicht beleidigen. Aber Anteil nehmen, ja. Dass wir dieses Stück aufführen, ist schon ein Statement.


D.Z. Wie verstehen Sie diese Schostakowitsch-Sinfonie? Ist es eine Art Oratorium? Oder ähnlich wie bei Mahler-Sinfonien, wo die Singstimme eine besondere Expressivität aus dem Text heraus entwickelt?


R.P. Für mich ist es ein Requiem. Eine Art Totenmesse mit verschiedenen Sätzen, von denen mich jeder sehr stark berührt, jeder in sich abgeschlossen ist. Mit dem 1. Satz „Babi Jar“ steigt man erst mal 18 Minuten lang in das Thema ein, dann muss man umschalten, dass man auch die komplexen Inhalte der anderen Jewtuschenko-Gedichte – „Humor“, „Im Kaufhaus“, „Ängste“, „Karriere“ – zum Ausdruck bringt. Aber „Babi Jari“ ist schon am Aussagekräftigsten.


D.Z. Wird diese Solopartie in Schostakowitschs „Babi Jar“ mit dem Orchester der Ludwigsburger Festspiele für Sie eine einmalige Sache bleiben?


R.P. Ich singe sie zum ersten Mal, aber das bleibt hoffentlich nicht das einzige Mal. Bisher habe ich mich noch nicht sehr ausführlich mit Schostakowitsch beschäftigt, außer seiner Bearbeitung von Mussorgskys „Lieder und Tänze des Todes“. Nun habe ich sozusagen „Blut geleckt“, vielleicht studiere ich auch mal die 14. Sinfonie, da habe ich mir schon Einiges angeschaut.


(Ludwigsburger Kreiszeitung, 9. Mai 2019)

 

Interview mit Cornelius Meister


Wie sind Sie zu Wagner gekommen?


Richard Wagner ist mir seit sehr vielen Jahren ein ständiger Begleiter. In Kopenhagen habe ich „Tristan“ dirigiert, „Parsifal“ und den „Fliegenden Holländer“ in Antwerpen, den „Ring“ in Riga, „Tannhäuser“ an der Semperoper, um nur einige Aufführungen zu nennen. An Wagners Musikdramen reizt mich die Verschmelzung von Dichtung und Musik. So sehr mir die Musik am Herzen liegt: Auch für Literatur, Philosophie, Geschichte, Politik interessiere ich mich sehr.


Wie gerne würden Sie in Stuttgart einen neuen „Ring des Nibelungen“ dirigieren?


Die Stuttgarter Aufführungstradition von Wagners „Ring“ ist legendär. Sicherlich wird eine Neuproduktion eines Tages Thema sein, aber noch nicht übermorgen.


Wieviel Wagner steckt in Gustav Mahler?

Die einen betrachten Mahler vorrangig aus dem Blickwinkel seiner Vorgänger, während er für die anderen der Wegbereiter der Moderne ist. Ich aber sehe darin keinen Gegensatz. Mahlers Persönlichkeit und Werke sind so vielschichtig, dass man ihnen nur schwer gerecht würde, wenn man sich ihnen nur von einer Richtung näherte. Inzwischen habe ich alle Mahler-Sinfonien, „Das Lied von der Erde“ und „Das klagende Lied“ aufgeführt und auch aufgenommen. Dabei habe ich immer gespürt, wie persönlich, man könnte sagen: intim Mahlers Kompositionen gedacht sind. Die letzten acht Jahre, in denen ich in Wien das Privileg hatte, in den gleichen Sälen, in der gleichen Akustik, zu musizieren wie Gustav Mahler, haben mir sehr geholfen, seiner Kunst der Instrumentierung, der Phrasierung und vielen eigentlich nicht notierbaren Rhythmen nahe zu kommen. Ohne den direkten Kontakt mit der Wiener Kultur und Klangtradition hätte ich als Mahler-Dirigent eine viel dürftigere Basis. Der Wiener Walzer ist genauso ein Teil von Mahler wie das Grelle, das Fratzenhafte, das Zerrissene.


Was macht Mahler so populär im heutigen Konzertsaal?


Immer wieder gab es Phasen in der Weltgeschichte, in denen viele Menschen das Gefühl hatten, in einer Übergangszeit zu leben, in einer Zeit des Wandels. So mag manch einer sich heute fühlen, so mag es auch zur Zeit Gustav Mahlers gewesen sein. Gerade deshalb finden wir in Mahlers Musik so viel Mehrdeutiges. Gleichzeitig fröhlich und betrübt klingen: bei Mahler hören wir's. Auf der anderen Seite gibt es Momente wie das berühmte C-Dur im letzten Satz der 7. Sinfonie, dessen Reinheit manche Zuhörer vergangener Zeiten leider nicht in ihr Herz lassen wollten. Genau diese 7. Sinfonie führen das Staatsorchester und ich zur Saisoneröffnung auf.


Dieses Konzert hat drei Säulen: Haydn, Mahler und John Cage. Ist das eine Art programmatischer Visitenkarte Ihres Repertoires?


Glücklicherweise wäre ich nicht in der Lage, das reiche Repertoire auf ein Konzertprogramm zu verengen. Nicht einmal eine Spielzeit würde dafür ausreichen. Aber es stimmt: Auch in den nächsten Jahren werden wir in den Sinfoniekonzerten regelmäßig Gustav Mahler aufführen. Die Beschäftigung mit Haydns Stilistik hingegen ist für mich selbstverständlich. Wenn ich die Werke Haydns aufführe, baue ich auf den Erfahrungen auf, die ich mit Originalklangorchestern, zuletzt mit „La scintilla“ in Zürich, gesammelt habe. An der Verbindung von Haydn und Mahler reizt mich die Gegenüberstellung einer fast kammermusikalischen Orchesterbesetzung, aus der immer wieder einzelne Solistinnen und Solisten hervortreten, mit einem Riesenwerk des symphonischen Repertoires. In der stilistischen Vielfalt zeigt sich auch die einzigartige Qualität des Staatsorchesters.


Was dirigieren Sie lieber: Konzert oder Oper?


Das ist eine einfache Frage: beides genau gleich gern. Aber darüber hinaus spiele ich im ersten Kammerkonzert dieser Spielzeit am 7. November als Pianist Schuberts „Forellen-Quintett“. Im März nächsten Jahres dirigiere ich die Originalmusik zu Charlie Chaplins Stummfilm „Modern Times“, und in unserem Familienkonzert im Mai gestalte ich gemeinsam mit dem Moderator Ralph Caspars den „Zauberlehrling“ von Paul Dukas. Bei dieser Aufführung wird das ehrwürdige Opernhaus voller Familien und Schulklassen sein.


Worauf sind Sie in ihrer ersten Stuttgarter Saison besonders gespannt?


Als Zuhörer habe ich in den vergangenen Tagen die Wiederaufnahmen von „Freischütz“, „Ariodante“ und den „Barbier von Sevilla“ genossen. Es ist einfach schön, jeden Tag in die Oper gehen zu können! Ich selbst werde in den nächsten Monaten neben „Lohengrin“ die in Stuttgart uraufgeführte „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss, zweimal Puccini mit „Tosca“ und „La Bohème“, Mozarts „Così fan tutte“ und den „Prinz von Homburg“ von Hans Werner Henze dirigieren. Werke des 20. und 21. Jahrhunderts gehören, seit ich als Zehnjähriger meine erste Uraufführung gespielt habe, ganz selbstverständlich zu meinem Repertoire. Daher haben wir uns entschieden, ab dieser Spielzeit jedes Jahr einen lebenden Komponisten in den Fokus zu rücken – in diesem Jahr den Ungarn Márton Illés.


Gibt es ein Werk, das Sie unbedingt in den nächsten Jahren in Stuttgart dirigieren wollen?


Ja, viele! Gemeinsam mit unserem Opernintendanten Viktor Schoner, mit dem mich eine ausgesprochen enge Partnerschaft verbindet, gestalten wir Programme, die weit in die Zukunft reichen. In der Staatsoper spüre ich in diesen Tagen eine unglaubliche Aufbruchsstimmung, das Potential scheint grenzenlos. Die Musikerinnen und Musiker des Staatsorchesters sind wunderbar. Für meine Familie und mich ist Baden-Württemberg seit langem der Lebensmittelpunkt. In bester Erinnerung habe ich übrigens mein erstes Konzert in Ludwigsburg vor zwanzig Jahren: einen Duoabend zusammen mit der Geigerin Julia Fischer.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 6.10.2018)


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Interview mit Viktor Schoner


Inwiefern ist dieser „Lohengrin“ ein künstlerisch programmatischer Auftakt für Ihre Arbeit als Intendant der Staatsoper Stuttgart ?


In vielerlei Hinsicht. Es sind einige Aspekte, die uns dazu gebracht haben, mit Richard Wagners „Lohengrin“ zu beginnen. Einmal ist es der Chor, der in dieser Oper eine Hauptrolle spielt. Dann haben wir Simone Schneider im Ensemble, die auf ihr Rollendebüt als Elsa schon lange gewartet hat. Dann gibt es aber auch dramaturgische Fragen wie die, was man aus dem Kernrepertoire auswählt, für sich selbst und auch für das Publikum. Was die Handlung von „Lohengrin“ angeht, sind für mich vor allem drei Punkte wichtig: Lohengrin wird in unserer Interpretation aus einer Gesellschaft heraus geboren, die ihm einen Auftrag überträgt. Doch, und das ist der zweite Aspekt, um ihn ist ein Geheimnis, ein Trauma, mit dem er lebt. Drittens: Zum Aspekt der Gesellschaft, in der wir existieren, gehört auch, dass viele die persönliche Geschichte des jeweils anderen nicht kennen. Das ist eine zentrale Frage der nächsten Jahre: wie wir damit umgehen, dass wir nicht mehr auf Basis des gleichen biografischen Hintergrunds handeln.


Der Ungar Árpád Schilling ist ihr Regisseur für „Lohengrin“. Wie politisch sieht er das Stück?


Schilling hat 1995 in Budapest sein „Kreidekreis“-Ensemble gegründet, mit dem er auch auf soziale und politische Konflikte in Ungarn theatralisch reagierte. Mit der Orbán-Regierung und der Entwicklung in seinem Heimatland geriet er immer stärker in einen Gegensatz, nun ist er mit seiner Familie von Ungarn nach Frankreich gezogen. Doch auf der Bühne wird es bei seinem Stuttgarter „Lohengrin“ keine offensichtlich politischen Zeichen geben. Es wird ein Abend, bei dem in erster Linie das Menschliche und das Zwischenmenschliche durchleuchtet werden.


Wenn sie mit Richard Wagner beginnen – haben Sie schon Pläne für einen neuen „Ring des Nibelungen“?


Wagner ist natürlich für Stuttgart immer ein Schwerpunkt. Andererseits spielen gegenwärtig bereits viele Häuser den „Ring“. Für uns ist er momentan nicht aktuell, aber der Ring beschäftigt mich persönlich schon.


Sie haben aus Lohengrins „Nie sollst du mich befragen“ für Ihre erste Spielzeit ein Gegenmotto entwickelt, mit Fragen wie „Woher kommst du? Wohin gehst du?“ Auf Sie selbst bezogen: Was waren für Sie prägende Erfahrungen für Ihre neue Aufgabe als Opernintendant, und wohin gehen Sie mit der Oper Stuttgart?


Ich bin von Haus aus Musiker, genauer: Bratschist. Und ich erzähle gerne Geschichten. Oper ist mit ihrer erst 400jährigen Tradition eine der modernsten Kunstformen, um Geschichten auf die Bühne zu bringen. Meine Zusammenarbeit mit Gerard Mortier, zuerst in Salzburg, dann bei der Ruhrtriennale, war in dieser Hinsicht ein Glücksfall. Hier war zum Beispiel Alain Platels „Wolf“ in unserer Reihe Creationen ein prägendes Ereignis, oder während meiner vier Jahre als künstlerischer Direktor an der Opéra National in Paris die Inszenierung von „Tristan und Isolde“ mit Peter Sellars und Bill Viola. Und natürlich die vergangenen zehn Jahren an der Bayerischen Staatsoper in München als engster Mitarbeiter Nikolaus Bachlers. Wohin wir gehen? Ich glaube, man kann nur jeden Tag weiter arbeiten und weiter gehen. Immer auf der Suche, die ganze Palette der Spielformen und Musikformen auszuprobieren. Aber wir wissen im Voraus nie genau, wo wir landen.


Sie setzen auf eine Pluralität künstlerischer Handschriften. Was sind dabei Auswahlkriterien für Regisseure zum Beispiel?


Der ernsthafte Umgang mit dem Stoff und Material steht bei uns an oberster Stelle. Das ist eine conditio sine qua non. Darüber hinaus kämpfen wir an der Oper für eine vielfältige, weltoffene Gesellschaft. Die Oper mit ihren Mitarbeitern aus so vielen Ländern ist geradezu ein Modell gegen nationalistische Tendenzen. Es macht mir große Freude, unterschiedlichste Künstlerpersönlichkeiten zusammenzubringen, die kreativ zusammenarbeiten.


Wie wichtig ist Ihnen der Teamgedanke und das Ensemble? Stars der internationalen Opernszene hat man in den letzten Jahren in Stuttgart selten auf der Bühne gesehen.


Da möchte ich Ihnen widersprechen. Catherine Naglestad, Simone Schneider und Matthias Klink beispielsweise sind fester Bestandteil der internationalen Opernszene. Aber mit dem Begriff „Star“ kann ich ehrlich gesagt wenig anfangen. „Starsein“ an sich ist noch keine Qualität. Ich habe überhaupt nichts gegen gute Sänger, aber Musiktheater ist viel mehr.


Warum ist Oper für Sie eine zeitgemäße Kunstform?


Oper ist keine Avantgarde-Veranstaltung, sondern ein historisches Genre. Doch gibt es wohl keine andere künstlerische Gattung, mit der man heute so intensiv gemeinsam eine Geschichte erleben kann. Gesang, Musik und Bühne schaffen das gemeinsame emotionale Erleben, die Leute lassen sich durch Oper berühren, ja, rühren. Und mehr noch: Oper kann die in unserer Gesellschaft vorhandenen Aggressionen künstlerisch bearbeiten und überwinden.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 28. September 2018)


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Interview mit Nanine Linning


Sie waren letztes Jahr mit Ihrer Compagnie zu einer begeisternden Aufführung von „Hieronymus B.“ im Ludwigsburger Forum. Ist das ein poetischeres Stück als „Bacon?


Hieronymus B. zeigt das Schmerzhafte jener mittelalterlichen Welt, wie eine dunkle Wolke, in der der Glaube die Menschheit erpresst. Vom britischen Maler Francis Bacon war ich schon sehr lange Zeit fasziniert, von seiner Arbeit und seiner Art und Weise zu leben. In beidem habe ich eine Analogie gefunden zu der Welt, in der ich lebe: die Rohheit der Menschen, das Animalische, die Aggressivität und Sexualität, die wir in uns haben. Es war sehr spannend, das tänzerisch zu verarbeiten. Die Themen um Kampf, Dominanz und Macht sind hochaktuell in unserer Gesellschaft und meinem heutigen Leben.

Spiegelt das malerische Werk von Francis Bacon Ihre Sicht der heutigen Zivilisation und Gesellschaft, wie in einigen Ihrer anderen Werke wie zum Beispiel „voice over“, „zero“, „endless“ oder „silver“?

Ich finde, dass Stücke eine Relevanz haben müssen, dass sie zwingend sind. Es ist ohnehin sehr politisch, einen Körper auf der Bühne zu präsentieren. Mir ist wichtig, das mit meinem Publikum zu thematisieren: Menschlichkeit, Utopien von (Zusammen-)Leben in der Zukunft, künstliche Intelligenz … Ich möchte, dass das für das Publikum emotional erlebbar wird.


Sie haben „Bacon“ vor 13 Jahren in den Niederlanden kreiert. Haben sich der Stil und die Elemente Ihrer Choreografien seitdem verändert?


Durchaus. Ich habe für „Bacon“ die Choreografie erweitert, Teile neu entwickelt und ein neues Licht- und Videodesign entworfen. Die Arbeit ist nun vielschichtiger, emotionaler, psychologischer. Damals war ich noch selbst Tänzerin in meinen eigenen Stücken. Nun hat die Arbeit durch mich einen Blick von außen bekommen.  Dadurch, dass zudem ein sechster Tänzer hinzugekommen ist, ist eine andere Dramatik im Stück entstanden, hat eine neue Balance gewonnen. Was ich so interessant finde ist, dass das Stück nichts von seiner Relevanz verloren hat: dieses Das Reptilgehirn des Menschen funktioniert immer noch im gleichen Modus; es geht beständig um Macht und Unterwerfung im Überlebenskampf. 


Was bedeutet für Sie Körperlichkeit?


Das Bewusstsein von meinem Körper ist für mich sowohl psychisch wie emotional. Es geht um die Fragen: Wer bin ich? Was bin ich? Wo bin ich? Es geht nicht nur darum, dass man tief hinein geht in seinen Körper, sondern oft auch darum, dass man aussteigt, wie in einem Helikopter darüber steht. Wie sehe ich von oben aus, von außen nach innen betrachtet. Resistance, Widerstand ist eine andere Wahrnehmung, um meinen Körper zu spüren: der Druck von außen, das macht mir noch viel deutlicher, was ich zu sagen habe.


Sind Sie ein pessimistischer Mensch?


Nein, ich bin heute realistisch, und optimistisch, dass es morgen besser werden kann. Dass wir mehr Menschlichkeit und Empathie entwickeln.


Wie wichtig ist die Musik in Ihren Stücken?


Sehr wichtig. Aber nicht deshalb, weil ich darauf choreografiere: Musik ist für mich eine autonome Kunst. Wenn ich Tanz und Musik zusammen bringe, dann entsteht Spannung. In „Bacon“ habe ich mit Jacob ter Veldhuis zusammengearbeitet. Alle paar Tage hat er mir etwas neue Musik geschickt und ich ihm Videos meiner Choreographien. Dann haben wir uns zusammengesetzt und weiter am Sounddesign gebaut. Das war ein wirklich organischer Prozess.


Für April nächsten Jahres werden Sie für das Stuttgarter Ballett ein Stück über 100 Jahre Weimarer Verfassung (100 Jahre Bauhaus Weimar) choreografieren. Ist das für Sie ein Aufbruch – so heißt der Stuttgarter Ballettabend – zu neuen Themen und Compagnien?


Neue Themen, neue Strukturen, neue Compagnien, Aufbruch auch in meinem Leben. Ich habe Lust, nach 9 Jahren Heidelberg in Stuttgart zu arbeiten, neue Wege in mir und mit neuen fantastischen Tänzern zu entdecken. Ich war sehr inspiriert von dieser Idee einer neuen Demokratie der Weimarer Verfassung von 1919. Aber wir sind leider noch nicht viel weitergekommen, diese Themen Gender und Akzeptanz von Verschiedenartigkeit sind noch nicht gelöst. Immer noch nicht haben alle Leute in der Praxis die gleichen Rechte und Pflichten, obwohl das ja in der Verfassung steht. Deshalb nenne ich mein Stück „Revolt“.


(Ludwigsburger Kreiszeitung 6.10.2018)



Eine Kulturgeschichte mit Klinge und Knauf

 

Das Württembergische Landesmuseum zeigt „Faszination Schwert“ im Alten Schloss

 

Tödliche Waffe, Zeichen der Gewalt, Symbol der Macht und der Gerechtigkeit, Kult- und Prestigeobjekt: Das Schwert spielt seit jeher im Leben der Völker eine vielseitige Rolle. Mit seiner Sonderausstellung „Faszination Schwert“ zeigt das Württembergische Landesmuseum dessen Geschichte von den Anfängen im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung bis zu seiner heutigen Verwendung in Filmserien und Computerspielen. In einer multimedialen, sehr anregenden und abwechslungsreichen Schau präsentiert das Museum im Alten Schloss über 300 Objekte in neun thematisch gegliederten Räumen.

 

In Mitteleuropa verbreitet sich das Schwert während der Bronzezeit mit der Technik des Flüssiggusses, in der Eisenzeit als Schmiedeschwert. In einer Vitrine im Eingangsbereich wird als seltener Fund eine Gussform aus Neckargartach bei Heilbronn präsentiert, ein Ausschnitt aus dem „Nibelungen“-Stummfilm von Fritz Lang zeigt Siegfried beim Schmieden seines Schwerts Nothung. Aus seinem Eigenbestand von über 1500 Exemplaren und mit Leihgaben zeigt das Landesmuseum, wie sich aus Vollgriffdolchen Hieb- und Stoßwaffen entwickeln, zum Beispiel das römische „Gladius“-Kurzschwert oder der „Gassenhauer“, ein Hiebschwert aus dem späten Mittelalter. In einem auf Wandhöhe vergrößerten, bebilderten Traktat von 1520 heißt es: „Mit den Schlachtschwertern halten wir drauff / Do wurde geschlagen unser hauff / Und die feinde wollten uns beschemen / Einprechen und das fenlein nehmen / Erst hauwen wir mit freuden drein / Das fenlein wird beschutzen sein.“

 

Als Statussymbol wird Graf Eberhard im Bart 1495 von König Maximilian I. auf dem Reichstag zu Worms ein kostbares Schwert zum Zeichen seiner Herzogwürde überreicht – auch dieses Objekt ist im Landesmuseum ausgestellt, und wenn man im Hof des Alten Schlosses das Reiterdenkmal des württembergischen Herrschers betrachtet, weist auch das in der erhobenen Hand geschwungene Schwert auf dessen symbolische Bedeutung. In dem mit der Fototapete einer englischen Königskapelle geschmückten Nebenraum kann sich der Besucher interaktiv zum Ritter schlagen lassen.

 

Religion, Magie und Mythologie sind Themen, die im nächsten Ausstellungskapitel abgehandelt werden, unter anderem der Mithras-Kult oder Funde von Schwertern, die als Opfergabe in Gewässern als Übergang zu einer Anderwelt niedergelegt wurden. Ganze Heeresausrüstungen besiegter Gegner wurden im heutigen Dänemark in Seen deponiert. An die Artus-Sage, Merlin den Zauberer und das Schwert Excalibur erinnern Abbildungen, bei den gezeigten Schwertern deuten Spiralknaufe und andere astrale Symbole auf den Bezug zu Kult und Religion. Auch christliche Heiligenfiguren werden mit dem Schwert in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel eine Statue des Erzengels Michael  oder das Flammenschwert als himmlische Waffe. Im Gegensatz zu solchen jenseitigen Sphären steht die Dokumentation von Kampfverletzungen: ein gespaltener Schädel, oder eine illuminierte Handschrift aus dem Codex Manesse, in der ein Ritter dem andern den Kopf im Helm abschlägt.

 

Als Teil nationaler und völkischer Propaganda erscheint das Schwert, nachdem es als Waffe der Krieger ausgedient hat, im 19. Jahrhundert in monumentalen Denkmälern Bismarcks oder des Cheruskerfürsten Arminius im Teutoburger Wald. Hitler ist als „Schmied des deutschen Volkes“ verewigt, eine andere Abbildung zeigt die Bronzeskulptur „Schwerter zu Pflugscharen“ des sowjetischen Künstlers Jewgeni Wutschetisch vor dem UNO-Gebäude in New York. Dass Schwerter nicht nur Männersache sind, wird in einem Raum mit „Helden und Heldinnen“ demonstriert, in dem gegenüber einer antiken Trinkschale mit Theseus und dem Minotaurus und Siegfried dem Drachentöter auch Figuren wie Judith mit dem Haupt des Holofernes, die Rächerin Brünhild oder Jeanne d’Arc als Retterin zugegen sind. Von Robin Hood bis zu Harry Potter, von den Yedi-Rittern bis zum „Game of Thrones“ reicht schließlich die in Plakaten, Repliken und Video-Szenen dokumentierte Welt der Popkultur, in der Schwerter, ob aus Stahl oder mit Laserkraft, eine Rolle spielen.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 16. Oktober 2018)

 

 

 

Vom Außer-sich-Sein

Kunstmuseum Stuttgart zeigt „Ekstase“ im Kubus am Schlossplatz

 

André Massons surreal-abstrakte Bronzeskulptur mit dem auch für die Stuttgarter Ausstellung titelgebenden Begriff „Ekstase“ ist eines der hochkarätigen Objekte, die im Kubus des Kunstmuseums eine reichhaltige und beziehungsvolle Entwicklungsgeschichte dieses Ausnahmezustands künstlerisch abbilden. Vom antiken Dionysoskult, der noch bis in die Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts thematisiert wird, bis zur drogeninduzierten Bewusstseinserweiterung kreativer Prozesse in der Gegenwartskunst geht die Schau, die das Thema mit rund 230 Werken von über 70 Künstlern von der Renaissance bis zur Moderne aufblättert.

 

Ob Bacchanal in der Hochrenaissance, „Schlafende Bacchantin“ als lustvoll hingestreckter weiblicher  Akt oder Franz von Stucks „Bacchantenzug“: die Riten der von Raserei ergriffenen Mänaden beflügeln die Phantasie der Maler und Betrachter. Eine ganz andere Art von Außer-sich-Sein spiegelt sich in Berninis Kopfstudie zur Skulptur der Hl. Theresa von 1646, die im Kunstmuseum im Raum der „Religiösen Ekstasen“ hinter einem Vorhang gezeigt wird. Die verzückt nach oben gerichteten Augen einer jungen Frau in Jean Benners „L’Extase“ (1896) oder in Charles LeBruns Kreidezeichnung „Le Ravissement“ sind eindeutige Zeichen. Ein eigener Raum der Ausstellung ist dem afrobrasilianischen  Candomblé gewidmet, mit Installationen des Brasilianers Ayrson Heráclito, selbst auch Priester dieses Kults. In die Welt der Schamanen als weiterer spiritueller Praxis führen die 50 Prints des litauischen Fotografen Algirdas Seskus, während Marina Abramovics Video „Freeing the Body“ die tänzerische Wildheit eines nackten Frauenkörpers dokumentiert. Pablo Amaringos Aquarelle versetzen dagegen rituelle Zeremonien mit den Mitteln naiv dekorativer Malerei in die surreale Szenerie des brasilianischen Regenwalds.

 

Dan Grahams Videoinstallation „Rock My Religion“ und Mark Leckeys „Fiorucci Made Me Hardcore“ reflektieren die Jugendkultur der Hippies und ihrer Nachfolgegenerationen, eine raumhohe Fotografie der 25000 Fans der „Gelben Wand“ im Dortmunder Fußballstadion verweist auf die ekstatischen Massenphänomene des Sports. Bilder von Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde und Ferdinand Hodler zeigen die entgrenzende Wirkung des Tanzes, inspiriert von  Ausdruckstänzerinnen wie Isadora Duncan, Mary Wigman oder Gret Palucca. Das Ganzkörperporträt Anita Berbers von Otto Dix, eines der Schmuckstücke aus dem eigenen Museumsbestand, darf hier natürlich nicht fehlen. Madam d’Ora hat die Tänzerin 1922 in dem Stück „Cocain“ fotografisch festgehalten. Drogen, Rausch und Liebesekstasen sind weitere Aspekte, die in teils provokativen, teils poetisch verschlüsselten Fotoserien, Grafiken und Videostills präsentiert werden. Mit der frei im Raum schwebenden Goldbronze-Skulptur „Arch of Hysteria“ von Louise Bourgeois hat die Ausstellung einen exzentrisch vieldeutigen Höhepunkt, bevor der Betrachter auf der dritten Ebene des Kubus ins „Dream House“ von La Monte Young und Marian Zazeela eintaucht: eine Klang- und Lichtinstallation von magischer Wirkung.

 

(Ludwigsburger Kreiszeitung 29. September 2018)

 


Tamas Detrich 


Mit blütenweißem T-Shirt und hellem Leinensakko sitzt er an diesem Morgen an seinem aufgeräumten Schreibtisch im zweiten Stock des hinter der Oper gelegenen Ballettgebäudes - ganz ungewohnt gegenüber dem Künstler-Schwarz seines Outfits während der Vorstellungen am Abend. Seit Beginn der Spielzeit ist Tamas Detrich der neue Intendant des Stuttgarter Balletts, gerade ist seine erste Premiere „Shades of White“ mit Bravour im Opernhaus über die Bühne gegangen. Die Vorstellungen im Oktober und November sind alle ausverkauft, für die nächste Serie im Dezember ist der Run auf Karten in vollem Gange. Dazwischen tanzt das Stuttgarter Ballett mit John Crankos „Onegin“ und „Schwanensee“ auf Japan-Tournee. Ob er von der stürmischen Begeisterung des Publikums für „Shades of White“ überrascht sei, frage ich Detrich zu Beginn unseres Gesprächs. Nein, keineswegs, er kenne ja den Enthusiasmus der Stuttgarter Ballettfans. Und doch sei es eine Herausforderung gewesen, die richtige Dramaturgie zu entwickeln für diesen Abend: „Ich wollte mit einem Cranko-Ballett anfangen, aber nicht nur Cranko. Vom „Königreich der Schatten“ war ich schon als Teenager in New York begeistert, als Natalia Makarova diesen Akt aus Petipas „La Bayadère“ beim American Ballet Theatre inszenierte.“ Und Balanchines „Sinfonie in C“ sei der krönende Abschluss, auch mit der Korrespondenz von Bizets jugendfrischer Musik zu Crankos Mozart-Konzert.


Schon im Alter von 10 Jahren weiß Tamas Detrich, dass er Tänzer werden will. Eine Aufführung von Tschaikowskys „Nussknacker“ hat es ihm angetan, er erhält ein Stipendium für die National Academy of Ballet and Theater Arts in Manhattan. Bei einem Gastspiel von „The Stuttgart Ballet“ kommt er als Sechzehnjähriger zum ersten Mal in Berührung mit seiner zukünftigen Compagnie und wirkt sogar als Komparse mit bei einer Aufführung in der New Yorker Met. Auch nimmt er an einem Vortanzen für die John-Cranko-Schule teil. Er wird angenommen, seine Eltern, die ihn von jeher in seinem Ballettwunsch unterstützt haben, lassen ihn ziehen nach Stuttgart in Germany. Als er seine Ausbildung beendet hat, könnte er auch beim American Ballet Theatre anfangen, doch bevor er sich auf den Weg macht, sagt Marcia Haydée, die ein Jahr zuvor die Direktion des Stuttgarter Balletts übernommen hat: „Du musst zurück nach Stuttgart!“. So wird Tamas Detrich 1977 Tänzer der Compagnie: „Nun tanzte ich mit Ricky, Marcia, Birgit und Egon zusammen auf der Bühne, unglaublich!“ Als er 1980 zum Solisten und im Jahr darauf zum Ersten Solisten befördert wird, ist auch Marion Jäger schon Tänzerin im Stuttgarter Ballett. Die beiden werden später heiraten, ihre Zwillinge treten jedoch nicht in ihre Ballett-Fußstapfen. „Die kommen gerne mit ihren Freundinnen in die Aufführungen. Aber in dem Alter, als ich anfing mich für Tanz zu interessieren, waren sie schon im Tennis sehr engagiert.“


Gibt es Lieblingsrollen für Tamas Detrich? Ja, viele: „Als ich jung war, Crankos Romeo, ich habe mich auch so gefühlt wie Romeo. Am Ende waren es Rollen wie Onegin, Armand Duval in John Neumeiers „Kameliendame“ oder auch in den „Voluntaries“ von Glen Tetley. „Onegin“ ist für mich jedoch das schönste Ballett überhaupt.“ Mit der Rolle des leidenschaftlichen, von Tragik umwitterten Einzelgängers feiert Detrich auch 2002 seinen Abschied auf der Bühne des Stuttgarter Opernhauses, nachdem er ein Vierteljahrhundert lang, auch weltweit als Gasttänzer, in Paraderollen wie Siegfried in „Schwanensee“, Petrucchio in Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“, Prinz Desiré in Tschaikowskys „Dornröschen“, und Hauptrollen in Balletten von Balanchine, Béjart, Kenneth MacMillan, Hans van Manen, Jirí Kylián, William Forsythe aufgetreten war und 1998 zum Kammertänzer ernannt wurde. Nach dem Ende seiner Karriere als aktiver Tänzer war Detrich Ballettmeister, ab 2004 Stellvertretender Künstlerischer Leiter und ab 2009 Stellvertretender Intendant des Stuttgarter Balletts.


Was hat er lieber getanzt, die klassischen Stücke oder Modern Dance? Für Tamas Detrich stellt sich diese Frage nicht, auch seien die Unterschiede zwischen den Ballett-Genres nicht mehr so festgemauert wie früher. „Ich fange ganz klassisch an und gehe sehr bewusst in die Moderne“, beschreibt der Stuttgarter Ballettintendant das Profil seiner ersten Spielzeit, die auch einige Uraufführungen von Nanine Linning, Edward Clug, Katarzyna Kozielska unter dem Motto „Aufbruch!“ und mit „Kaash“ von Akram Khan eine ganz neue Tanzsprache für die Stuttgarter Compagnie bereithält. Die Balance verschiedener Epochen und Tanzstile ist ihm wichtig, und auch für die in Stuttgart gepflegte Tradition des Handlungsballetts hat Tamas Detrich neue Ideen: „Aber ich will noch nicht darüber sprechen!“ Ob er wie sein Vorgänger Reid Anderson Tänzerinnen oder Tänzer auch während einer Spielzeit nach besonders geglückten Rollendebüts zu Solisten oder Ersten Solisten befördern wird? Der Intendant schmunzelt und meint: „Lassen Sie sich überraschen!“


(Ludwigsburger Kreiszeitung 20. Oktober 2018)


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Bejun Mehta


Er ist einer der berühmten Countertenöre der Gegenwart, und dem Sohn indischer Eltern wurde die Musik schon in die Wiege gelegt. Der in Shanghai geborene Vater Pianist und Klavierprofessor an der Universität von Ann Arbor in Michigan, die Mutter Sopranistin und erste Gesangslehrerin ihres Sohnes während seiner Kindheit, als er schon im Alter von zehn Jahren als Soilist bei Konzerten und Schallplattenaufnahmen, unter anderem mit Leonard Bernstein, mitwirkte. Sein Name hatte ohnehin von Anfang an einen besonderen Klang in der Musikwelt: er ist ein Vetter des 32 Jahre älteren. Berühmten Dirigenten Zubin Mehta.


Trotz seiner musikalischen Herkunft studierte Bejun Mehta zunächst deutsche Literatur an der Universität von Yale, wo er auch Cello spielte und ein kleines Kammerorchester leitete. „Nach der Uni-Zeit habe ich mich für Gesang entschieden, aber Dirigieren war immer dabei“, sagt er im Gespräch. Wie hat Mehta seine wunderbare Stimme mit ihrer ganz besonderen Leichtigkeit und natürlichen Lebendigkeit entwickelt, nachdem er zunächst eine Ausbildung als Bariton absolvierte und mit dieser Stimmlage nicht zufrieden war. „Üben, Üben, Üben! Jeden Tag üben, die Stimme ständig trainieren. Aber das muss nicht langweilig sein. Üben ist für mich wie Meditation. Und diese Stimmlage kam ganz von selber, es hat sofort funktioniert, nachdem ich mich entschlossen hatte, das Baritonfach zu verlassen.“


Bejun Mehta hat seit seiner Universitätszeit, als er in Germanistik mit einer Arbeit über Heinrich Heine abschloss,  eine besondere Beziehung zur deutschen Sprache. Hilft ihm diese Nähe zum Text auch bei seiner Erarbeitung von Opernpartien oder im Konzertsaal? „In erster Linie beim Lied. Aber auch dabei, in die deutsche Welt zu kommen. Ich wohne in New York und Berlin, aber meine Art zu musizieren ist, glaube ich, spezifisch deutsch in ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer Suche nach Wahrheit.“ Mehta hat dieses Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert und gehört so zur Zwischengeneration der Countertenöre, seit den Anfängen Mitte des 20. Jahrhunderts in England bis zu dem Falsett-Boom mit Stars wie Franco Fagioli oder Philippe Jaroussky. Wie erklärt er sich die Tatsache, dass Countertenöre heute beim Publikum so gefragt sind: „Das hat mit der historischen Aufführungspraxis zu tun, die in den 1970er Jahren aufkam. Und rein historisch betrachtet, sind wir Countertenöre immer noch eine Neuerscheinung auf den großen Opernbühnen der Welt. Die Soprane und Tenöre sind schon Jahrhunderte da, wir dagegen ungefähr nur dreißig Jahre. Und es ist ja toll, dass heutige Komponisten auch Werke für Countertenöre schreiben.“ So hat Mehta zum Beispiel George Benjamins „Dream of the Song“ und Toshio Hosokawas „Stilles Meer“ uraufgeführt. Gibt es ein Zeitlimit, wie lange Countertenöre singen können? „Ich bin sehr froh, dass meine Stimmen noch sehr gesund ist!“


(Ludwigsburger Kreiszeitung 6.10.2018)